Sündenfall: Greenblatts (Fehl-)Deutung der Bibel

„The Rise and Fall of Adam und Eve“ lautet der amerikanische Originaltitel (2017) des Buches des berühmten Pulitzer-Preisträgers, US-Bestseller-Autors und Shakespeare-Experten Stephen Greenblatt, das auf Deutsch den etwas reißerischen Untertitel erhielt: „Der mächtigste Mythos der Welt“. Es stößt damit zumindest in den Feuilletons auf mächtiges Interesse und breite Zustimmung. Greenblatt macht sich darin auf die Suche nach der Spur von einem „uralten Traum“ (329). Es geht um nicht weniger als darum, die wichtigste Geschichte des Alten Testaments zur Frage von Ursprung und „Ursünde“ (Erbsünde), womit untrennbar die neutestamentliche Erzählung von der Erlösung der Welt durch Kreuz und Auferstehung Jesu als „neuem Adam“ zusammenhängt, zu ergründen und zu erschließen.

 

 

 

Taufe: Anziehen des Gewands der Unsterblichkeit

Vor der Liturgiereform (1969) betete der Priester beim Anlegen der Stola als pars pro toto für das ganze Priestergewand: „Gib mir, o Herr, das Gewand der Unsterblichkeit, das ich in der   Abwendung der ersten Eltern verlor, und obwohl ich unwürdig zu deinem heiligen Mysterium hinzutrete, möge ich dennoch die ewige Freude erlangen.“ Die Taufbewerber stellten sich in der alten Kirche barfuss auf eine Tunika aus Tierfell, die das Fellkleid Adams nach seinem Fall (Gen 3,21), aber auch die Untugenden oder Laster des eigenen früheren Lebens symbolisierte, die sie jetzt mit Füßen traten: 

 

„Sie war auch ein genaues Bild der gefallenen Natur, die Christus, der neue Adam, angezogen hatte, um sie zu erheben und in ein neues Gewand zu verwandeln.“ Nach der Taufe erhielten die ‚Neugeborenen’ „jeder ein weißes Kleid, ein Leinenkleid, aus pflanzlichem, kühlem Leinen gewebt, das von alters her, schon seit den Pythagoreern, ein Attribut kultischer Reinheit ist, im Gegensatz zur tierischen Wolle, und darum hier das Gegenstück zu den Tierhäuten, auf denen sie als Competenten gestanden haben, ein Sinnbild ihrer eigenen inneren Reinheit und jener Makellosigkeit, zu der sie das neue Leben verpflichtet. Augustinus denkt auch an das ‚beste Kleid’ [Lk 15,22], das die Diener dem verlorenen Sohn nach seiner Rückkehr brachten: das Gnadenkleid unseres Stammvaters Adam, das den Täuflingen, seinen Söhnen, zurückgegeben wird. Es ist ein weißes Kleid, in jener Farbe, die die Reinheit und die Freude symbolisiert und von jeher die Freigelassenen, die Priester und, wie man meint, auch die Engel, wenn sie erscheinen, auszeichnet“ (Frits van der Meer, Augustinus der Seelsorger, 1983, 377 und 387). Wörtlich steht im Gleichnis vom verlorenen Sohn: „das erste Kleid“, womit eben das Lichtkleid der Unsterblichkeit des Ersten vor dem Fall gemeint ist. 

 

„Paradies“ der Affen?

Von all dem findet sich in der Deutung der Sündenfall-Geschichte durch den Harvard-Professor für Literatur keine Spur. Zwar wird ausführlich Augustinus und John Miltons „Paradise lost“ behandelt, nur am Rande aber geht er auf die alte allegorische Auslegung etwa bei Philo oder Origenes ein, meist nur im 40-seitigen Anmerkungsteil (die griechische Septuaginta wird hier als „lateinische“ Übersetzung genannt – S. 378, Anm. 15). Auch Martin Luthers Auslegung ist nur eine kurze Anmerkung wert. Am Ende bleiben ein paar dünne Worte über „eine Glückseligkeit, die verloren ging“, und über imaginierte Figuren, „die eine ganz eigene, intensive, imaginierte Realität (besitzen) – das Leben der Literatur“ (326). Greenblatt selbst begibt sich im Epilog („In den Wäldern von Eden“) zu den Schimpansen in Uganda, weil er glaubt, die scham- und moralfreien Affen „leben noch im Paradies“ (338). 

 

Damit ist die Sündenfallgeschichte in ihr Gegenteil verkehrt. Denn sie erzählt nicht vom affenartigen oder tierähnlichen Urmenschen, sondern vom gottähnlichen, engelhaften Ersten Menschen, der dann vom „zweiten“ oder „letzen“ Adam wiederhergestellt wird, vom „Bild des Himmlischen (Menschen)“, dem die Gläubigen in der Taufe nachgestaltet werden, denn „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben“ (1 Kor 15,45-50). Das biblische Paradies ist keine afrikanische Oase oder ähnliches, sondern Urbild des heiligen Tempels (als „Himmel auf Erden“) für den makellosen Gottesdienst und die Einwohnung des Schöpfers in seiner Schöpfung (im reinen Herzen des Menschen zur Gottesschau: Mt 5,8). 

 

Der Weg dorthin führt über das Kreuz als neuem Baum und Schlüssel des Lebens: „Heut’ schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis…“ singt die Kirche an Weihnachten (Gotteslob 247.4) und Ostern (362.4). An den Lebensbaum im Paradies erinnert auch der Tannenbaum mit seinen „immergrünen Blättern“, während die roten Äpfel oder Kugeln die verbotene Frucht versinnbilden. Die Eucharistie ist hingegen die gute Frucht vom guten (Kreuz-)Baum, die das verlorene ewige Leben zurückschenkt (vgl. Offb 2,7). Geht es doch in der Erzählung von den zwei Bäumen um die rechte Wahl des Menschen zwischen Leben und Tod (vgl. Dtn 30,19f).

 

Reflexion und Devotion

Von all dem erfährt der Leser bei Greenblatt nichts. Dieser zitiert dafür ausführlich Voltaire, der mutmaßt, der dem Baum des Lebens entgegen stehende Baum des Wissens sei Symbol für das moralische Wissen (vgl. S. 297–308), woraus dann geschlossen wird, „der Christengott oute sich als Herrscher, der seine Schäflein in Unwissen zu halten versuche“ (so ein Rezensent). Mit dem katholischen Philosophen Peter Wust (1884–1940) ist bei den beiden Bäumen aber an die zwei Grundakte des Geistes zu denken, die in der Philosophie als Reflexionsakt und in der Religion als Devotionsakt des Geistes kulminieren: „Der Philosoph muss grübeln, der Heilige muss beten und das heißt lieben.“ Letztlich wird der Mensch aber nicht an dem gemessen, „was er und wieviel er weiß, sondern nur nach dem, was er liebt und in welchem Maße er zu letzter Liebe fähig und bereit ist“ (zit. nach Emmeran Kränkl, Glaube und Vernunft, 2018, 217f). Greenblatt hat mit Eifer und viel Mühe zwar an die Tür des biblischen Buchstabens geklopft, geöffnet hat er sie aber nicht. Das kann allein die Taufe auf den Gekreuzigten als neuen Adam (Lk 23,43; 24,32), die bei den Kirchenvätern noch „Erleuchtung“ hieß (Hebr 10,32).

 

Liest man die biblische Sündenfall-Erzählung als historische Geschichte und nicht als Allegorie, so entsteht schnell der Vorwurf der Frauenverachtung (Misogynie), den Greenblatt auch erhebt, vor allem gegenüber Augustinus’ Deutung  (vgl. Kap. 7: Evas Verderben). Zitiert wird aber auch 1 Tim 2,11-14 („Nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau …“, vgl. 151), nicht aber Sir 25,24 („Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang, ihretwegen müssen wir alle sterben“). In allegorischer Deutung ist die (lunare) Eva das Sinnbild für Verstand (Wissenschaft) und Sinnlichkeit, denn der „Mensch in seiner körperlichen Erscheinung gilt für die [wandelbare] Mond-Welt“ (F. Weinreb, Die Astrologie in der jüdischen Mystik, 1982, 143). Der (solare) Adam hingegen steht sinnbildlich für den Geist der Kontemplation oder Gottesschau, die mit dem Sündenfall verloren geht.

Klaus W. Hälbig

 

Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit. Siedler Verlag 2018, 448 Seiten, 28 Euro. Aus dem Englischen von Klaus Binder. Zur Kontemplation vgl. mein Buch: Die Tür zur Gottesschau. Einführung in Bildwelten des Glaubens – Michael Triegels Augustinus-Retabel in der Pfarrkirche von Dettelbach, Münsterschwarzach 2015.

 

 

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