Zum Bild: Der letzte hebräische Buchstabe Taw (=T-Form), bei Ezechiel (9,4.6) auf der Stirn der Erlösten und im Buch Numeri (21,8f) als Schlangen-Zeichen, galt in der alten Kirche als Vorausbild des Kreuzes - Miniatur aus dem Salzburger Missale von Berthold Furtmeyr (um 1480).
Der Erlass der Bayerischen Staatsregierung vom Frühjahr 2018, Kreuze im Eingangsbereich von Dienstgebäuden aufzuhängen, hat zu heftigen Diskussionen geführt. Auch katholische Bischöfe und Kardinäle kritisierten den Beschluss als Instrumentalisierung des Kreuzes für politische Zwecke. Das Kreuz sei ein „Zeichen der Ohnmacht“, nicht der Ausgrenzung von Menschen, der Staat dürfe es nicht als „kulturelles Symbol“ für sich vereinnahmen.
Demgegenüber hat der Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger in dem Beitrag Kreuz, Macht und Ohnmacht in der Herder-Korrespondenz (6/2018, 13-16) darauf hingewiesen, dass die im Kreuz zusammengefasste biblische Heilsbotschaft auch die Gestaltung einer staatlichen Ordnung ermöglicht, denn der Gekreuzigte ist „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,24): „Wer sich dem Zeichen des Kreuzes verpflichtet weiß, erklärt sich grundsätzlich bereit, alle Bereiche der Welt, und dazu gehört nun einmal auch der Staat, im Geiste jener Weisheit zu gestalten, die in der Heiligen Schrift, bestehend aus Altem und Neuem Testament, bezeugt wird“ (16).
Es gebe, so Schwienhorst-Schönberger, nicht nur eine machtpolitische, sondern auch „eine ohnmachtspolitische Instrumentalisierung des Kreuzes“. „Das Kreuz steht nicht nur für den Tod Jesu (‚der Mann, der am Kreuze hing’), sondern für das ganze Heilsmysterium von der Inkarnation bis zu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt. Mehr noch, Christus ist das verbum abbreviatum, das Wort, das die gesamte Heilige Schrift in sich zusammenfasst. Und dazu gehört auch das Alte Testament“ (13). „Die genuin politische Botschaft des Alten Testaments wird nicht mehr zur Kenntnis genommen und die im Kern unpolitische Botschaft Jesu wird politisiert“ (16), nämlich in dem Sinn, dass sein Tod „aus politischen Gründen“ seitens des römischen Staates erfolgt sei, was aber eine Verdrehung seitens der jüdischen Führung sei.
Das Kreuz im Alten Testament
Die frühe Kirche war sich bewusst, dass die neutestamentliche Heilsbotschaft ganz im Alten Testament verwurzelt und verankert ist. Das gilt auch und gerade für das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18). „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift …“ (1 Kor 15,3f). In der Schrift, das heißt im Alten Testament, findet sich aber wörtlich eine solche Aussage nicht, vielmehr muss die Schrift geistig-allegorisch gedeutet werden, um ihr Verheißungspotential für das christliche Heilsmysterium zu erkennen, was die frühe Kirche dann auch ausgiebig gemacht hat.
So ist der Lebensbaum im Paradies ein Vorausbild des österlichen Kreuzes, ebenso verweist das Sohnesopfer Isaaks (Gen 22) oder der leidende Gottesknecht des Jesaja auf das Sohnesopfer am Kreuz. Aber auch der 22. und letzte, ursprünglich kreuzförmig geschriebene hebräische Buchstabe Taw in der Bedeutung von „Zeichen“ und dem Zahlenwert 400 wurde als Vorausbild des Kreuzes verstanden (vgl. Ez 9,4.6 mit Offb 7,2f und 2 Kor 1,22): Israel ist „400 Jahre“ in der Gefangenschaft in ‚Ägypten’ (Gen 15,13), das Symbol für die gefallene Welt des Leidens, der Sünde und des Todes ist, die Jesus mit seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung erlöst.
Der Kulturwissenschaftler, Schriftsteller und habilitierte Theologe Uwe Wolff (geb. 1955) verweist in seiner Kreuz-Meditation („Wo zwei Wege sich berühren“, Tagespost vom 9. Mai 2018) zudem auf die vier Flüsse des Paradieses (Gen 2,10) als Kreuz im Sinn von „Zeichen der Erde“, was so aber nicht ganz zutreffend ist. Das Beispiel einer romanischen Miniatur aus einem Zwiefaltener Codex (um 1250) zeigt vielmehr, dass die vier Flüsse ja dem einen Strom (Gen 2,10) entspringen, dass also die Vierzahl des Irdischen und Weltlichen ihren Ursprung hat in der Einzahl des Himmlischen und Geistigen, genauer: in der verbindenden „Mitte“ der „Kreuzung“ und Begegnung der „zwei Wege“ oder der zwei Prinzipien des Vertikalen (Geist) und des Horizontalen (Materie). Dem entsprechen die zwei Bäume im Paradies, der Baum des ewigen Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, „in der Mitte des Gartens“ der Welt (Gen 2,9).
Die vier Flüsse als paradiesisches Schöpfungskreuz, die ikonographisch im Mittelalter oft unterhalb des Kreuzes Christi dargestellt werden, bringen wie der Lebensbaum schon am Anfang die Vollendung der Schöpfung im Zeichen des Kreuzes in den Blick. Dies zeigt auch das Apsismosaiks von Sant’ Apollinare in Classe bei Ravenna (549): Das eschatologische Kreuz der Wiederkunft als Gemmenkreuz erscheint in der nach Osten ausgerichteten Apsis. Zugleich ist es der wahre Lebensbaum des „im Osten“ gepflanzten Paradieses (Gen 2,8). Dorthin kehren nach frühchristlicher Vorstellung die Erlösten am Ende heim (vgl. Lk 23,43). Der Osten ist die Himmelsrichtung der aufgehenden Sonne und des aufblühenden Frühlings, aber eben auch der Wiederkunft des Welterlösers, wie aus verschiedenen Bibelstellen gefolgert wurde.
Hebewerk zum Himmel
Joseph Ratzinger hat in seiner Liturgieeinführung Der Geist der Liturgie (2000) auf den engen Zusammenhang von Kreuz und Osten hingewiesen („das Kreuz als der innere Osten“, S. 73), aber auch darauf, dass das frühe Christentum seinen stärksten Gegner, den antiken Sonnenkult, (nur) mit seiner „Botschaft vom Kreuz“ besiegen konnte (S. 157). Denn nicht nur ist Christus in seiner Auferstehung am Sonn-tag, „als eben die Sonne aufging“ (Mk 16,2), die wahre „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) und das schönste „Licht der Welt“ (Joh 8,12) ohne jede Finsternis (1 Joh 1,5). Vielmehr verfinstert sich die Sonne gerade angesichts des heilbringenden Kreuzestodes für ‚drei Stunden’ (Mk 15,33; Lk 23,44).
Darin drückt sich nicht etwa die Trauer der Schöpfung über ihren am Kreuz hängenden Schöpfer aus (der zu diesem Zeitpunkt ja noch lebt). Vielmehr hat die Dunkelheit „epiphanischen“ Charakter, bringt also verborgen Gott zur Erscheinung, was auf die neue, erlöste Schöpfung hinweist, so der Kunsthistoriker Herbert Fendrich (Bild und Wort: das Kreuz und die Evangelien, in: Kreuz und Kruzifix, Ausstellungskatalog, 2005, 29-36, hier 31). Entsprechend wird das Kreuz von früh auf (so beispielsweise im syrischen Rabula-Codex, 586) zwischen Sonne und Mond dargestellt, den kosmischen Symbolen der beiden Schöpfungsprinzipien Geist und Materie (in China: Yang und Yin).
Das heißt, im Kreuz kommen die „zwei Wege“, die Vertikale und die Horizontale, ins vollkommene Zusammenspiel und finden so zu ihrer höheren Einheit. Mit einem unbekannten Griechen aus dem 4. Jahrhundert nimmt Joseph Ratzinger das Wort des heilige Ignatius von Antiochien auf, „der das Kreuz als Hebewerk (mechane) des Kosmos für den himmlischen Wiederaufstieg bezeichnet hatte (Eph 9,1)“; dieser sagt: „O dieser wahrhaft göttlichen Weisheit! O Kreuz, du Hebewerk zum Himmel. Das Kreuz wurde eingerammt – und siehe, der Götzendienst wurde vernichtet. Nicht ein gewöhnliches Holz ist es, sondern ein Holz, dessen sich Gott bediente zum Siege“ (S. 157).
Kritik des Kreuzes als Götzendienst
Vor diesem Hintergrund erscheint es als völlig unverständlich, wenn der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani in seinem viel gelesenen Buch zur Bildwelt des Christentums Ungläubiges Staunen (2015) in denkbar größter Schärfe das Kreuz gerade als „Götzendienst“ kritisiert. Er sieht in dem christlich-universalen Heilszeichen ein Zeichen der „Leidensvergötterung“ und „Hypostasierung des Schmerzes“ und so der „Gotteslästerung“, ja als „Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir genießen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen …“ (S. 50). Dabei bezieht er sich auch auf die Zahlensymbolik der Sufi-Mystik, die das Kreuz von der Vierzahl her als „weltliches“ Symbol deutet. Das christliche Kreuz der Welterlösung und -vollendung ist aber nicht von der Vierzahl, sondern – wie gesehen – von der Fünfzahl her zu verstehen.
Das haben Gérard de Champeaux und Dom Sébastien Sterckx in ihrer Einführung in die Welt der Symbole (1990) erneut aufgezeigt. Denn der Schnittpunkt von Vertikaler und Horizontaler als „Mitte“ und „Zentrum“ ist wesentlich mit in die Betrachtung einzubeziehen, wie ja auch der Erlöser an seinen fünf verklärten Wundmalen erkannt wird, in die der ‚ungläubige’ Thomas seine fünf Finger legen darf und dadurch zum Bekenntnis des christlichen Glaubens gelangt, dass im Menschen Jesus die ewige Gottheit erscheint (Joh 20,27f). Dieser zentrale fünfte Punkt ist buchstäblich als Quint-essenz der „Omphalos der Griechen, der Nabel der Welt unserer Vorfahren, … hier stehen Raum, Zeit und Ewigkeit miteinander in Verbindung. (…) In jeder Hinsicht hat das Kreuz die Funktion der Synthese und des Maßes …Von allen Symbolen ist das Kreuz das umfassendste, ganzheitlichste. Es steht für Übergang und Vermittlung, für die permanente Vereinigung des Universums …“ (S. 51).
Dem Kosmos eingeschriebenes Zeichen
Bei den Indianern Nordamerikas wie im Grunde überall auf der Welt steht die Form des Runden oder des Kreises für das Vollkommene und Göttliche, „weil die Kraft der Welt sich stets in Kreisen auswirkt“; besonders beachtet wurde bei den Indianern aber gerade auch die Form des Kreuzes, denn: „Die vier Viertel und die zwei Wege (!), die sich kreuzen, hast du (Gott) gemacht“ (Schwarzer Hirsch, Ich rufe mein Volk, S. 184 und 189). Für die Indianer war das Kreuz „Symbol des Großen Geistes selbst, seine ‚äußere Erscheinungsform‘, ja ‚sein sichtbarer Leib‘“, so die Benediktinerin Photina Rech in ihrer Symbolik der Schöpfung Inbild des Kosmos (Bd. I, S. 487).
Auf dieses großartige Werk bezieht sich auch Benedikt XVI. in Der Geist der Liturgie, wo er schreibt: „Das Kreuz von Golgotha ist vorausgebildet in der Struktur des Kosmos selbst … Der Kosmos spricht uns vom Kreuz, und das Kreuz enträtselt uns den Kosmos. Es ist der eigentliche Schlüssel aller Wirklichkeit. Geschichte und Kosmos gehören zusammen. Wenn wir die Augen auftun, lesen wir die Botschaft Christi in der Sprache des Alls, und umgekehrt: Christus schenkt uns, die Botschaft der Schöpfung zu verstehen“ (S. 156).
Ratzinger steht damit ganz in der Tradition der Kirchenväter, die das platonische X (= Chi) als Symbol der Weltseele mit dem Kreuz Christi identifizierten, so als erster Justin der Märtyrer: „Dem Kosmos als Ganzen ist das Zeichen des Kreuzes eingeschrieben“ (S. 155). In Zeiten der Verkürzung des Kreuzes auf ein bloßes Zeichen der Ohnmacht oder ein Symbol des Leidens ist es an der Zeit, das Kreuz wieder in seinen universalen kosmischen und heilsgeschichtlichen Zusammenhängen zu verorten. Nur so kann es als Zeichen der Erlösung und der Schöpfung erkannt und gewürdigt werden.
Symbol des wahren Kultes
In diesem Sinn deutet auch Uwe Wolff das Kreuz-Zeichen: Es sei Zeichen der Erlösung und mehr noch der Vollendung der Schöpfung. Mit Jesu Wiederkunft im Zeichen des Himmelskreuzes (Mt 24,30), so Wolff, „verschmelzen Himmel und Erde zu einer Einheit“. Diese Einheit aber wird im Grunde schon mit der Erschaffung der Zweiheit von Himmel und Erde durch den einen Gott „im Anfang“ (hebr. bereschith) angezielt, was gelesen wird als berith-esch: Bund des Feuers. Der Himmel, hebr, schamajim, wiederum ist die ‚hochzeitliche’ Einheit von Wasser, hebr. majim, und Feuer, hebr. esch; das Em-pyreum ist der Feuerhimmel.
Die hier schon im Anfang aufscheinende Himmlische Hochzeit ist jene endzeitliche „Hochzeit des Lammes“ (Offb 19,7) oder vollkommene Vereinigung von Schöpfer und Schöpfung, die in jeder Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9) vergegenwärtigt und gefeiert wird. In der Mitte des erwähnten Paradies-Kreuzes der vier Flüsse steht das österliche (eucharistische) Gotteslamm, das zugleich im Widder als Frühlings-Tierkreiszeichen des Anfangs symbolisiert ist, so wie die vier Evangelistensymbole bei den Flüssen zugleich die mittleren Zeichen der Quadranten des Tierkreises sind, die dem Schöpfer als Thron-Assistenten dienen (Offb 4,7f; 5,8): Stier (Lukas), Löwe (Markus), Adler vs. Skorpion (Johannes) und Engel/Mensch/Wassermann (Matthäus). Schöpfung und Erlösung als Neuschöpfung werden so verschränkt und gehören untrennbar zusammen, gerade auch im recht verstandenen Zeichen des Kreuzes.
Insofern die sonntägliche Eucharistie als wahrer Kult und Gottesdienst Mitte und Kern einer christlich geprägten Kultur ist, insofern ist das Kreuz auch ein „kulturelles Symbol“. Als Symbol des wahren Kultes ‚hochzeitlicher’ Liebe ist es dann natürlich auch Zeichen der Abgrenzung vom falschen Kult oder Götzendienst, etwa vom „Götzendienst der Immanenz“, vor dem Papst Franziskus immer wieder warnt. Es gibt aber auch einen Götzendienst der Transzendenz, der die Schöpfung nicht dankbar als Gabe und Aufgabe Gottes annimmt. Die „kosmische Eucharistie“ (Benedikt XVI.) mit den Schöpfungsgaben Brot und Wein ist die Feier der großen „Danksagung“ an den Schöpfer und Neuschöpfer (Erlöser) und wahrt so in allem die rechte Mitte.
Klaus W. Hälbig
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