Engelwelten: Durch „Genealogie“ zum Wesen der Himmlischen?

Zum Bild: Abrollung eines Rollsiegels mit der geflügelten Ischtar als Kriegs- und Siegesgöttin aus dem südlichen Irak (ca. 2350–2200 v. Chr.) in der Ausstellung „Engelwelten“ im Diözesanmuseum Rottenburg (Original: Chicago, Oriental Institute Museum).

Was bietet sich für ein Museum an Weihnachten mehr an, als Bilder über „Engelwelten“ zu zeigen, so auch jetzt das Diözesanmuseum Rottenburg mit dem Untertitel: „Himmelsboten, Lichtgestalten, Wegbegleiter“. Die Eingangstafel fragt nach dem Wesen der Engel und sucht Antworten in der „Ahnenschau“: „Jahrtausendealte griechisch-römische und sogar ägyptisch-kanaanäische oder assyrische Vorbilder“ leben in den christlichen Engeln weiter. 

 

Vorgeschichten

Die Ausstellung hat selbst ihre Vorgeschichte: Der Alttestamentler Othmar Keel, der auch für die Konzeption der Ausstellung „Gott weiblich. Eine vergessene Seite des biblischen Gottes“ (im April 2008 in Rottenburg) verantwortlich zeichnete, hat zusammen mit dem Bibel & Orient Museum in Freiburg (Schweiz) auch diese Exponatenschau konzipiert, ergänzt durch Kunstwerke des Diözesanmuseums. Entsprechend häufig werden altorientalische Rollsiegel gezeigt, etwa vom Kampf des Wettergottes mit dem gehörnten Schlangendrachen, worauf dann der Kampf des Erzengels Michael mit dem Satan-Drachen (Offb 12,7-12) zurückgeführt wird. Oder die Vorstellung vom christlichen Schutzengel (Mt 18,10) wird mit der Schutzfunktion der geflügelt Gerechtigkeitsgöttin Maat beziehungsweise der Göttermutter Isis für den Pharao in Beziehung gesetzt. 

 

Auch die antike geflügelte Siegesgöttin Nike/Victoria soll eine „vorchristliche Entsprechung“ zu den Schutzengeln sein. Diese hätten von daher dann auch ein „weibliches Geschlecht“ erhalten, denn „in der Bibel werden die Himmelsboten als männlich und flügellos beschrieben“. Vor allem aber habe der griechisch-römische Liebesgott Eros/Amor wie „kein anderes vorchristliches Wesen … das christliche Engelsbild so direkt und intensiv geprägt“: kindliche Anmut, Unschuld und Heiterkeit seien so durch spielende und musizierende Kinderengel (Putti) besonders in der Zeit der Renaissance und des Barock zur Darstellung gebracht worden (gezeigt wird unter anderem eine von der heiligen Dreifaltigkeit gekrönte Maria, im Himmel empfangen und umgeben von in himmlischer Harmonie musizierenden Engeln – Süddeutschland, 17. Jh.).

 

Flügellose Engel?

Die vermeintliche Flügellosigkeit der biblischen Engel wird mit dem Traum von der Himmelsleiter Jakobs begründet (Gen 28,11-17), wo ja Engel auf der Leiter auf- und niedersteigen, also gerade nicht fliegen (so bei der Beschreibung zum Kupferstich von Martin Tyroff, Mitte 18. Jh.). Das dabei angeführte hebr. sulam, 60-30-40 = 130, bedeutet in der Tat „Leiter“, der Zahlenwert des hebräischen Wortes entspricht aber dem für ‚Sinai’, 60-10-50-10 = 130 als Ort der Offenbarung und von ‚Auge’, Ajin, 70-10-50 = 130. Jakob ruft am Ende seines Traums aus: „Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels““ (Gen 28,17) – ein Vers, der früher häufig über dem Eingangsportal von Kirchen (als „Haus Gottes“) stand. 

 

Die Zahl 130 (analog zu 13) übersteigt die 120 (analog zu 12 Monaten) als Zahl des innerweltlichen „Fleisches“ (Gen 6,3) und steht so für die Transzendenz des Himmels oder der Ewigkeit, wofür das im Sündenfall verschlossene kontemplative Auge erst wieder im Glauben geöffnet werden muss. Erst wenn der Mensch den Himmel wieder offen sieht, was Jesus am Ende des ersten Kapitels im Johannesevangelium seinen Jüngern unter Anspielung auf den Jakobstraum verheißt (Joh 1,51), ist der Mensch auch wieder fähig zur kultischen Gottesverehrung des Schöpfers im Tempel/Heiligtum der Schöpfung in aller Gottesfurcht und Demut (der hl. Benedikt beschreibt in seiner Regel in Kapitel 7 die Zwölf Stufen der Demut als „Leiter“ zum Himmel und zur vollkommenen Gottesliebe).

 

Der Kern des Tempels von Jeru-salem (= Schau des Friedens oder des harmonischen Einsseins vom Himmel und Erde, vgl. Lk 2,13f) ist das Allerheiligste mit der Bundeslade und dem goldenen Deckel, auf dem sich zwei Kerubim mit Menschengesichtern gegenüber stehen: „Die Kerubim sollen die Flügel nach oben ausbreiten, mit ihren Flügeln die Deckplatte beschirmen, und sie sollen ihre Gesichter (= das Innere) einander zuwenden“ (Ex 25,19f). Die eine Mitte zwischen den so markierten beiden Welthälften (vgl. die Geburt von Johannes und Jesus mit einer Differenz von einem halben Jahr: Lk 1,26, sowie Lk 1,56 mit 2 Sam 6,11) ist der ‚Thronsitz’ des unsichtbaren heiligen Gottes, der so im Allerheiligsten gegenwärtig ist. 

 

Dabei symbolisiert der Tempel als heiliger Kern der Schöpfung vor allem auch den Menschen selbst als „Bild Gottes“, in dessen Herzen/Gewissen Gottes beziehungsweise christlich eben Christus wohnt wie in einem Tempel (Eph 3,17: Joh 14,23). Aber nur, wenn das Herz auch „rein“ ist, vermag es Gott zu schauen (Mt 5,8). Die frühen Mönche wollten deshalb ein „engelgleiches“ Leben führen, um sich so zu reinigen oder kultfähig zu machen analog zu den Engeln, die ewig zur Verehrung des heiligen Schöpfers die „kosmische Liturgie“ feiern. 

 

Adlerflügel und Tierherrschaft

Dazu bedarf es neben einem kontemplativen Auge auch der Freude der Hoffnung, die den Menschen beflügelt, ihm wieder „Adlerflügel“ verleiht und ihn sich über die Schwere, Angst und (Todes-)Müdigkeit des Irdischen erheben lässt: „Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt“ (Jes 40,31). In der jüdischen Überlieferung gehört der weiße Adler, hebr. nescher, mit der weißen Taube, hebr. jona, eng zusammen.

 

Beim Vortrag der Kuratorin der Staatsgalerie Stuttgart, Nathalie Frensch, am 3. Adventssonntag Gaudete („Freuet euch“) „zur visionären Gestaltung von Himmelswesen in der Klassischen Moderne“ wurde Marc Chagalls Darstellung der Erschaffung Adams gezeigt: Der Engel (vertikal) trägt den noch nicht lebendigen Menschen (horizontal) ins Paradies als Urbild des Tempels. Im Paradies hätte der Mensch als „König, Priester und Prophet“ seiner himmlischen (vertikalen) Berufung, die im himmlischen Engel verkörpert ist, entsprechen und über die (horizontalen) „Tiere“ herrschen sollen (Gen 2,19f). 

 

Doch durch den Fall, verführt durch die „Frau“ (die äußere Umhüllung/ Sinnlichkeit) wird der gottähnliche Mensch selbst tierähnlich und zum „Tier“, bekommt er das animalisch Tierfell angezogen (Gen 3,21) und wird vom Engel mit dem „Flammenschwert“ (Cherub) des Paradieses verwiesen. Aber an Weihnachten mit der Geburt des Gottessohnes aus der Jungfrau Maria (als Urbild jeder jungfräulichen Wiedergeburt in der Taufe) kann der so Erlöste erneut singen: „Heut’ schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür (= davor), Gott sei Lob, Ehr und Preis“ (Gotteslob Nr. 247.4)

 

Zwiespältige und „weibliche“ Engel

Diese Rückkehr ins Paradies (vgl. auch Lk 23,43) wird in der Ausstellung nicht thematisiert, auch nicht von Nathalie Frensch, obwohl ihr Marc Chagall, der selbst durch eine visionäre Engelserscheinung in St. Petersburg zu dem „Engelmaler“ der Moderne wurde, dafür viel Anschauungsmaterial geliefert hätte (besonders in seinen Darstellungen des Hohenliedes der Liebe, vgl. das Chagall-Museum in Nizza). Von Chagall abgesehen dominieren in der Klassischen Moderne eher säkulare Engeldarstellungen. 

 

Ausführlich zu Wort beziehungsweise ins Bild brachte Nathalie Frensch vor allem Paul Klee, der über hundert Engel gemalt und gezeichnet hat (1939 sich selbst als „Engel-Anwärter“), Emil Nolde und Otto Dix mit seinen düsteren Bildern der Teufels-Versuchung Jesu, aber auch Ernst Barlach mit seinem körperlich-erdenschwer „Schwebenden Engel“ ohne Flügel als Inbegriff der stillen Trauer über die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Frensch: „Die Engel der Moderne sind zwiespältiger geworden.“ Und sie sind weiblicher geworden, wie am Beispiel des „Blauen Engels“ (im bunten Badeanzug) von Niki de Saint Phalle gezeigt wurde. Auch der Verkündigungsengel Gabriel trage in der Neuzeit „weibliche Züge“. 

 

Eine solche Deutung entbehrt freilich jedes Sinns; denn „Verkündigung“ bedeutet ja „Zeugung“ („Hic est verbum caro factum est“ steht auf der Bodenplatte der Höhle der Verkündigung von Nazareth). Sie wird gefeiert am 25. März, dem alten Datum der Frühlings-Tagundnachtgleiche, wenn die Sonne ganz im Osten aufgeht. Neun Monate später, am 25. Dezember, ist dann Weihnachten: die jungfräuliche Geburt des wahren Lichts der Welt. Maria steht auch für die „weibliche“ Erde, allerdings in ihrer erlösten „neuen“ Gestalt. Der Erzengel Gabriel bringt den göttlichen „Heiratsantrag“ (Benedikt XVI.) in Gestalt des „männlichen“ Feuers vom „Feuerhimmel“ (Em-pyreum). 

 

Jesus kommt ja in die Welt, um gleich einem neuen Prometheus „Feuer (vom Himmel) auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen“ (Lk 11,49). Maria wird deshalb in der Tradition auch im Bild des brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbuschs gesehen. Die „Seraphim“ sind die „Brennenden“. In Gestalt eines sechsflügeligen Seraphen erscheint der gekreuzigte Jesus dem heiligen Franziskus bei seiner Vision auf dem Berg Alverna (im Osten der Toskana), wodurch er wenige Jahre vor seinem frühen Tod die fünf Wundmale des Gekreuzigten empfängt (worauf einige Bilder der Ausstellung Bezug nehmen). 

 

Kosmisch, universal und politisch 

Die vier (klassischen) Erzengel der biblischen (und apokryphen) Tradition Gabriel, Michael, Raphael und Uriel stehen ursprünglich für die vier Himmelsrichtungen Norden, Süden, Westen und Osten (Ur = hebr. or = Licht, die Endung -el bedeutet Gott). Christlich verschiebt sich die Zuordnung um 90°, aus dem Nordengel Gabriel – der dunkle Norden symbolisiert das Körperliche – wird der Ostengel Gabriel, der am „25. März“ erscheint. Generell verkörpern die biblischen Engel die innere Geistseite des Kosmos, hat doch der Schöpfer nicht nur die sichtbare (materielle), sondern auch und zuerst die unsichtbare (immaterielle) Engel- oder Lichtwelt erschaffen, wie es im Credo heißt.

 

Als flammende Geistwesen feiern die Himmlischen ewig die „kosmische Liturgie“ oder himmlische Eucharistie, woran jede Eucharistiefeier auf Erden Anteil hat: Im dreimaligen „Sanctus“ (vgl. Jes 6,3) als hymnischer Lobpreis des heiligen Schöpfers vereinen sich Himmel und Erde, himmlische und noch auf Erden (in der Kraft der Engel) „streitende“ Kirche. Martin Luther dichtete noch im Weihnachtslied, Jesus Christus sei „auf Erden kommen arm,/ dass er unser sich erbarm/ und in dem Himmel mache reich/ und seinen lieben Engeln gleich“ (Gotteslob 252.6), was im Choral am 1. Weihnachtstag des Weihnachtsoratoriums (1735) von Johann Sebastian Bach wiederholt wird. 

 

In heutigen Weihnachtspredigten wird man viel vom Menschen hören (in der „Krippe am Fluss“ der Heidelberger Jesuitenkirche steht der Slogan: „Machs wie Gott, werde Mensch“). Von Engeln dürfte indes kaum die Rede sein. Dabei sind die Himmelswesen für das geistliche und liturgische Leben der Christen und der Kirche von größter Bedeutung. Der „Katholische Erwachsenenkatechismus“ (1985) führt unter der Überschrift Der Himmel – die Hoffnung des Menschen aus: „In der biblischen und kirchlichen Rede von den Engeln wie von den Dämonen geht es um die universal-kosmologische Dimension der Geschichte Gottes mit den Menschen. Sie erst gibt dieser Geschichte ihre Dramatik und universale Dimension“ (112).

 

Die Gottesverehrung der Kirche ist ja keine Privatangelegenheit, sondern – wie der zum  katholischen Glauben konvertierte evangelische Kirchenhistoriker und Theologe Erik Peterson hervorhebt – „ein öffentlicher Kultus …, der Gott dargebracht wird“, denn: „Die Engel wie der gesamte Kosmos nehmen daran teil. Den Gesängen der Kirche korrespondieren himmlische Gesänge, und je nach der Art der Teilnahme am himmlischen Gesang gliedert sich auch das innere Leben der Kirche“ (Das Buch von den Engeln, ²1955, 66). 

 

„Es ist eine Öffentlichkeit, die nicht etwa ‚der Staat‘ der Kirche geliehen hat, sondern die der Kirche als solcher originär zukommt, da sie einen Herrn hat, der als ein himmlischer König auch eine himmlische ‚Öffentlichkeit‘ besitzt. Die Beziehung der Ekklesia [Kirche] zu der Polis [Stadt, Staat] im Himmel ist also … auch eine politische Beziehung, und aus diesem Grund müssen die Engel immer wieder in den Kulthandlungen der Kirche auftreten“ (ebd. 54).

 

Zeitlos, vertikal und mystisch

Der jüdische, vom katholischen Glauben faszinierte Schriftsteller Franz Werfel wirft in einem Aphorismus die Frage auf: „Was kann der Mensch an sich selbst leisten, um ein wenig den Engeln zu gleichen?“ Seine Antwort verweist auf die „Erlebnisform von Zeitlosigkeit“: „Er kann so tun, als gäbe es keine Zeit: das heißt, keine Sorgen haben, trotz der wachsenden Bedrängnis; keine Ungeduld haben, trotz der dröhnenden Monotonie; keine Todesangst haben am Abend, trotz der Todeskrankheit, die am Morgen der ärztliche Befund verriet“ (Zwischen Oben und Unten, 1975, 118). 

 

Während die „unkörperlichen oder verklärt körperlichen Engel … nicht verwittern, verwelken, verwesen“, weil sie außerhalb der Zeit sind, ist Satan „der geistige Verwesungszustand des gefallenen Engels Luzifer. Die Volkssage weiß davon. Des Teufels Gestank nach Schwefelwasserstoff deutet darauf hin, dass alles Böse eine Art Fäulnisprozess ist …“ (143). In der Zeit (biblisch: im Wasser) ist der Mensch dem Untergang preisgegeben, deshalb wird er als Getaufter wie Mose aus dem Nil (Ex 2,10) aus dem Wasser gezogen und „mit dem Heiligen Geist und mit Feuer“ (Lk 3,16) in der Taufe neu geschaffen, das heißt an seinen himmlischen Ursprung er-innert („männlich“, hebr. sachar, bedeutet „er-innern“ im vertikalen Sinn). 

 

Durch den Engel kommt der Mensch wieder mit dem himmlischen Feuer in Berührung, weshalb die Engel auch als „die Erwecker des mystischen Lebens in der Kirche“ gelten (Peterson). Um in den „Himmel“ zu kommen, muss der Mensch allererst wieder „feuerfest“ (Klaus Berger) werden. Und er muss die „zwei“ Augen, die nach dem Sündenfall „aufgehen“ (Gen 3,7), wieder zu „einem“ Auge fokussieren. Der rumänische Philosoph, Kunsthistoriker und Politiker Andrei Pleşu schreibt in seinem Buch „Das Schweigen der Engel“ (2007, 110): Der engelgleiche Mönch wird auch „der Einäugige“ genannt, „der nur noch das eine Auge des geistigen Sehens hat: monachus quasi monoculus.“ 

 

Dieses geistige Sehen mit dem „einen“ oder „dritten“ (kontemplativen) Auge auf der Stirn bedeutet, einen „engelhaften Verstand“ auszubilden, der wieder in Analogien zu denken vermag. Die sechsflügeligen Seraphim und Cherubim sind „voller Augen“ (Offb 4,6), weil sie die Erkennenden sind, aber eben auf engelhafte Weise. Der Philosoph Eugen Baer schreibt mit Bezug auf Friedrich Weinreb: „Das Engelhafte in uns ist gerade das, was eigentlich die ganze Schöpfung sein kann oder, wie Aristoteles meint, der Geist (griechisch nous), in dem der Leib eigentlich – auf ‚irgendeine Weise‘ – alles ist“ (Der Abstieg zu Gott, 2006, 86). Im Hebräischen bedeutet das Wort für „Flügel“ (kanaf) auch „Ecke“ (vgl. Angel), was die Vertikalität als Verbindung von Oben und Unten anzeigt.

 

Maria, Sophia und Platons Weltseele

Die erneuerte, in Christus erlöste Schöpfung hat ihr Inbild in der jungfräulichen Gottesmutter Maria, der „Königin der Engel“. Sie hat ihrerseits ihr kosmisches Urbild in der Schöpfungsweisheit oder der Sophia, die in der Ostkirche häufig als geflügelter Engel dargestellt wird. Der russische Religionsphilosoph Sergej Bulgakow (1871–1944) und vor ihm Wladimir Solowjew (1853–1900) identifizieren die Sophia mit der Weltseele Platons.

 

Die Mitherausgeberin der deutschen Sergij Bulgakov-Edition, Regula M. Zwahlen, sagte in ihrem Vortrag „Sophia – Geheimnis der Schöpfung“ bei der Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart „Weisheit, Licht und Glanz“ im August 2015 zur Russischen Religionsphilosophie und der Kunst der Ikonen: In der heiligen Sophia ist „die kreatürliche Welt mit der göttlichen Welt vereint, der Himmel neigte sich zur Erde, die Welt ist nicht nur eine Welt an sich, sondern eine Welt in Gott, und Gott ist nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, beim Menschen in der Welt.“

 

Bulgakows sophianische Kosmologie ist Zwahlen zufolge weder orientalische Exotik, noch ein gnostischer, pantheistischer oder anthroposophischer beziehungsweise theosophischer Weltentwurf; sie ist auch nicht ein Weiblichkeitskult, noch macht sie die Sophia (oder Maria) zu einer vierten Hypostase (Person) in Gott. Vielmehr erfasst die Sophiologie die Welt von ihrem Anfang und ihrer Vollendung in Gott her als lebendige Einheit und überzeitliche Wesensgestalt. Die Sophia sei Prototyp und ewiges Urbild der Welt, so dass die „Herrlichkeit“ des Schöpfers in ihr wahrhaft „Wohnung“ findet und ihr ein- und beiwohnen kann. Nur von der ‚Wohnungssuche‘ der göttlichen Lichtherrlichkeit, wie sie in den alttestamentlichen Weisheitstexten (besonders Sir 24,10-12) und im Johannesprolog zum Ausdruck kommt (Joh 1,10-14), ist die Sophia zu verstehen.

 

Nach dem Alttestamentler Claus Westermann sind Engel „älter als alle Religionen – und sie kommen auch noch zu den Menschen, die von Religion nichts mehr wissen wollen“. Dies bezeugt auch der heutige spirituelle Engelboom in unserer säkularen Welt. Aber die bloße genealogisch-historische (horizontale) Rückführung der biblischen und christlichen Engelvorstellungen auf vorchristliche Motive und „Vorbilder“ verliert sich am Ende in den Weiten der Religionsgeschichte. Notwendig wäre daher darzustellen, wie der in die Spannung zwischen Engel und Tier, Himmel und Erde gestellte Mensch (vgl. Ml 1,13) ins verlorene Paradies oder in den Himmel als seiner „Heimat“ (Phil 3,20; Hebr 12,22) zurückfindet. Doch das erforderte eine ganz andere Ausstellungskonzeption.

Klaus W. Hälbig

 

Hinweis: Zu der Ausstellung in Rottenburg (bis 17. März 2019) ist ein Begleitband erschienen, herausgegeben vom Diözesanmuseum Rottenburg (Melanie Prange), Ostfildern 2018; zum Thema vgl. auch mein Buch „Das Feuer vom Himmel. Gottes Geist der Weisheit und Liebe in Schöpfung und Kirche“ (2018, bes. Kap. IX: Der Himmel im Feuer. Engel als flammende Geistwesen).

 

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