Fastnacht/Karneval: Verkehrte Welt

Zum Bild: Die Frau trägt und erträgt die Last des selig vor sich hin dösenden Mannes – oder ist es umgekehrt? Fastnachtsumzug Ende Januar 2019 im schwäbischen Hirrlingen bei Rottenburg.

 

Die schwäbisch-alemannische Fastnacht oder der Rheinische Karneval in der „fünften“ Jahreszeit ist ein Schwellenfest vor der vorösterlichen Fastenzeit.  Es überschreitet Grenzen und stellt die Welt auf den Kopf. Der „Elferrat“ der Narren übernimmt die Regierung, Menschen werden zu Tieren, Männer zu Frauen und umgekehrt. Die Herrschaft des Rechts und des Guten wird ersetzt durch die des Bösen in Gestalt von Teufeln und Hexen – bis mit dem Aschermittwoch „alles vorbei“ ist und die beginnende Fastenzeit die rechte Ordnung wiederherstellt.

 

Mit der „Hexenverbrennung“ in der Nacht zum Aschermittwoch endet in der Fastnachtshochburg Rottenburg am Neckar („Raudeburg“) die Zeit der hemmungslosen Ausgelassenheit, der fröhlichen Geselligkeit und des unbeschwerten Zusammenseins. Ist die katholische Kirche gegen Spaß und Freude am Leben? Redet sie den Menschen Schuld ein, wo keine ist, wie von Kirchenaustrittswilligen vorgebracht wird? Angesichts der echten Fastnacht in katholisch geprägten Flecken und Landstrichen wird man das sicher nicht behaupten können. Gelobt wird die hohe integrierende Kraft des gemeinsamen Feierns, weshalb Fastnacht und Karneval zusammen auch anstreben, Weltkulturerbe der Unesco zu werden.

 

Umkehr der rechten Ordnung

Dabei ist die Umkehr der rechten Ordnung in der (inzwischen mehrere Wochen dauernden) „Nacht“ vor dem Fasten nicht nur ein kirchliches Zugeständnis an das menschliche Bedürfnis, die Zügel einmal lockerer zu lassen. Sie ist auch nicht nur eine Reminiszenz an heidnische Zügellosigkeit wie etwa bei den römischen Saturnalien zu Ehren des Gottes Saturn mit karnevalesken Umzügen und großen Festgelagen. Es geht auch nicht nur um die „Austreibung“ des dunklen und „toten“ Winters in der Sehnsucht nach dem wärmeren und lebendigeren Frühling. Vielmehr wird mit dem Fastnachts-Treiben dem Umstand Rechnung getragen, dass alle bloß menschliche „heilige Ordnung“ (Hier-archie) stets der Korrektur bedarf, weil menschliche Herrschaft und Macht immer dazu neigt, sich aufzublasen und die ihr verliehene Vollmacht zu missbrauchen.

 

Das gilt – nicht nur in neuerer Zeit – auch in der Kirche selbst. Deshalb ist Jesu Wort mehr als je zu beachten: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschsohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,25-28). Der Sohn Gottes und „Herr der Herren“ wird zum Diener und Sklaven aller bis hin zum Sklavendienst der „Fußwaschung“ (Joh 13), ja, er gibt sein Leben für den „Knecht der Sünde“ (Röm 6,17) als Lösegeld – kann es eine größere Umkehrung der herrschenden Ordnung als diese christliche Botschaft geben?!

 

Sklavenmoral und Narrenrede

Friedrich Nietzsche hat diese Umkehr tief empfunden und entsprechend die „Umkehr aller (christlichen) Werte“ gefordert: statt christlicher „Sklavenmoral“ die „Herrenmoral“ der „blonden Bestie“, wie sie dann die nationalsozialistischen Herrenmenschen in die Tat umgesetzt haben. So ist immer genau zu prüfen, welche Umkehrung gemeint ist, und oft ist es besser, bei der immer unvollkommenen Ordnung von bloßen Menschen zu bleiben, als mit einer „Revolution“ das Vollkommene zu wollen, aber das Schlimmste heraufzuführen. Mit der Überwindung des Todes in der Auferstehung Christi kommt zweifellos die denkbar größte Revolution, nämlich eine schlechthin „neue Welt“, die aber nicht durch Gewalt oder Technik zu erreichen ist, sondern allein auf dem mühsamen und schmalen Weg der persönlichen Umekhr (Mt 7,13f).

 

Diese neue Welt kann sich aber in der bestehenden nur als „verkehrte Welt“ zeigen. So macht sich auch Paulus zu „jedermanns Knecht“ oder Sklaven, „um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen … Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser – nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi –, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“ (1 Kor 9,19-22). Was für eine innere Stärke! Und welch ein Missionseifer bei gleichzeitiger Selbstrelativierung bis zum Äußersten!

 

Ja, Paulus war auch bereit, sich selbst zum „Narren“ zu machen, zum „Tor um Christi willen“ (1 Kor 4,10), so etwa wenn er seine „Narrenrede“ hält: „Keiner soll mich für einen Narren halten. Tut ihr es aber doch, dann lasst mich auch als Narren gewähren, damit auch ich ein wenig prahlen kann. Was ich hier sage, sage ich nicht im Sinn des Herrn, sondern sozusagen als Narr im falschen Stolz des Prahlers. Da viele Menschen im Sinn dieser Welt prahlen, will ich auch einmal prahlen“ (2 Kor 11,16-18). Der eitle Selbstruhm gehört wie der Machtmissbrauch und das endlose Streben nach Reichtum zur DNA der gefallenen Welt, weshalb die drei „evangelischen Räte“ der Ordensleute, also der Keuschheit, des Gehorsams und der Armut, sich genau dagegen richten.

 

Radikale Nachfolge der heiligen Narren in Christo

Die Ordensleute stehen damit in der radikalen Nachfolge des Gekreuzigten in seiner Selbsterniedrigung, was in den Augen der „Griechen“ (Heiden) nur erbärmliche „Torheit“ und in den Augen der Juden ein „empörendes Ärgernis“ ist, in Wahrheit aber „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“: „Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 1,18-25). Ähnlich haben sich Menschen in der Nachfolge Christi zu heiligen Narren gemacht, so ein Franziskus, der den Vögeln predigte, oder ein lachender Philipp Neri (1515–1595), der Lieblingsheilige Goethes, der mit der Narrenkappe voller Humor unkonventionell lebte und sich von den Menschen verlachen und verspotten ließ. Sein Leitspruch war eine Weisung des hl. Bernhard: Verachte die Welt, verachte niemanden, verachte dich selbst, verachte es, verachtet zu werden!

 

Auch Jesus wird von den Menschen als mit Dornen gekrönter König verlacht, verspottet und verachtet (Mt 27,27-31), er, der die unmündigen Kinder in den Mittelpunkt stellte („wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“) und beten konnte: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen“  (Mt 11,15f; vgl. 18,3). Welch ein Affront zum Wahlspruch der auch so klugen „Aufklärung“, deren Vertreter forderten, sich mutig des eigenen Verstandes „ohne Leitung eines anderen“ zu bedienen und sich so aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien (Immanuel Kant 1784 auf die Frage, was denn Aufklärung sei).

 

Die Torheit der gottlosen Frevler

Solche Selbst-Aufklärer wurden dann auch schnell selbst zu Narren, nicht zu Narren in Christo, sondern zu Toren im Sinn des Psalmisten: „Die Toren sagen in ihrem Herzen: ‚Es gibt keinen Gott’. Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut. Der Herr blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht. Alle sind abtrünnig und verdorben; keiner tut Gutes, auch nicht ein einziger“ (Ps 14,1-3). Das alttestamentlich Buch Jesus Sirach (27,11) sieht die Torheit mit der Wandelbarkeit des Mondes zusammen: „Die Rede des Frommen ist allezeit Weisheit, der Tor aber ändert sich wie der Mond.“ Was es mit der Torheit und den „verkehrten Gedanken“ der „Frevler“ auf sich hat, führt das jüngste Buch des Alten Testaments, das Buch der Weisheit (ca. 50 v. Chr.), vor Augen, das die Gottlosen sagen lässt:

 

„Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei, und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. Durch Zufall sind wir geworden, und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem unserer Nase ist Rauch, und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche, und der Geist verweht wie dünne Luft. Unser Name wird bald vergessen sein, niemand denkt mehr an unsere Taten. Unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke und löst sich auf wie ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht und von ihrer Wärme zu Boden gedrückt wird. Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt und keiner kommt zurück"(Weish 2,1-5).

 

Diese Hoffnungslosigkeit schlägt dann in Vermessenheit um: „Auf, lasst uns die Güter des Lebens genießen und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht. Erlesener Wein und Salböl sollen uns reichlich fließen, keine Blume des Frühlings darf uns entgehen. Bekränzen wir uns mit Rosen, ehe sie verwelken, keine Wiese bleibe unberührt von unserem ausgelassenen Treiben. Überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit zurücklassen, das ist unser Anteil, das fällt uns zu“ (Weish 2,6-9).

 

Öffnung der blinden Augen der Irrenden

Doch die törichten Frevler belassen es nicht nur bei dem ausgelassenen und ausbeuterischen Genuss aller Güter; gleichzeitig muss der unbequeme „Gerechte“ oder „Sohn Gottes“, der „prahlt, Gott sei sein Vater“ und der „uns des Verrats an unserer Erziehung beschuldigt“, eines „ehrlosen Todes“ verurteilt werden: „Roh und grausam wollen wir mit ihm verfahren, um seine Sanftmut kennenzulernen, seine Geduld zu erproben“. Denn „ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, dann nimmt sich Gott seiner an und entreißt ihn der Hand seiner Gegner“ (Weish 2,12-20; vgl. Mt 27,42f). Das Urteil des Autors des Weisheitsbuches über soviel Freveltat bleibt dem Leser nicht vorenthalten: „So denken sie, aber sie irren sich; denn die Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts …“ (Weish 2,21f).

 

Um die blinden Augen der Irrenden zu öffnen und den Unverstand der Toren dieser Welt zu erleuchten, feiert die Kirche am Beginn der 40-tägigen Fastenzeit oder österlichen Bußzeit den Aschermittwoch mit Gottesdienst und Auflegung des Aschenkreuzes auf die Stirn (wo sich das „dritte Auge“ befindet): „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“. Dasselbe Wort hört schon der Mensch (Adam) nach seinem Fall, damit er die Umkehr in Fasten, Beten und Almosengeben vollziehe (Gen 3,19; Mt 6,1-18).

 

Nicht die Umkehr der Weltordnung in der Narretei der Fastnacht ist damit gemeint, wo der groben Sinnlichkeit – in den Fastnachtskostümen mit zahlreichen Fuchsschwänzen dargestellt – Raum gegeben wird (durchaus auch verbunden mit manchen Auswüchsen wie Trinkritualen und Saufgelagen). Gemeint ist auch nicht die Umkehrung der Ordnung durch die klingenden Schellen der Narren mit ihren Spiegeln der Eitelkeit oder durch den lauten Peitschenknall der Karbatschen-Schneller (mit Durchbrechen der Schallmauer), was einher geht mit dem Höllenlärm und Höllengestank der gehörnten schwarzen Teufel und den gräuslich schon-wüsten Fratzen – mit korrigen Zinken, schiefen Zähnen und schrägen Grimassen – der hässlichen, von Altersrunzeln ganz entstellten Hexen auf ihrem Hexenbesen und Zweizack.

 

All diese Maskeraden und Verkleidungen zeigen bei aller Lust an Schabernak und Gaudi sowie der Umkehr der Perspektive vielmehr die Notwendigkeit der wahren Umkehr, nämlich zur herrlichen Narretei in Christo, die die gefallene Welt wieder in die höhere Ordnung der göttlichen Weisheit zurückführt – symbolisiert in den Zehn Geboten und den Zwölf Aposteln, die von der Elf der Fasnet jeweils verfehlt wird. In dieser höheren Ordnung des Himmels ist dann der Kleinste der Größte, der Dienende der Herr und der Letzte der Erste.

Klaus W. Hälbig

Kommentar schreiben

Kommentare: 0