Ostern: Der Sieg des Opferlammes am Kreuz

Bild: Die bedeutendsten Mosaiken Roms (9. Jh.) befinden sich in der alten Kirche S. Prassede (nahe der Basilika Maria Maggiore): Der Apsisbogen zeigt das Apokalyptische Lamm, das Buch mit den sieben Siegeln, die sieben Leuchter, Engel und die vier Urwesen der Ezechielvision als Symbole der Evangelisten; in der angegliederten Zenon-Kapelle folgt die Mosaikdekoration in der Größe der Gestalten einer hierarchischen Himmelsordnung: in der Mitte Christus, dann die Engel, dann die Heiligen. Eine der Apsiden zeigt das siegreiche Lamm Gottes (noch ohne Siegeskreuzfahne) auf dem Weltenberg stehend mit den vier Paradiesflüssen und vier Hirschen, die – Sinnbild der Seele – ihren Durst nach Sinn und Leben am Wasser des lebendigen Gottes stillen (Ps 42,2f).

 

 

„Wer (österlich) siegt“, verheißt Jesus durch den Geist der Gemeinde in Ephesus (Offb 2,7), „dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.“ In der Johannes-Apokalypse (5,6.12-14) erscheint Jesus als das geschlachtete und doch siegreiche „Lamm Gottes“, dem die Anbetung der ganzen erlösten Schöpfung gebührt. Paulus schreibt: „Als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden“ (1 Kor 5,7). Was hat es mit diesem Opferlamm und seinem erlösenden Sieg am Kreuz auf sich?

 

Im Johannesevangelium (1,29) sagt der Täufer Johannes bei seiner ersten Begegnung mit Jesus: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Bei der Erhebung der konsekrierten Hostie im katholischen Gottesdienst wird dieser Vers bis heute vom Priester wiederholt. Das Opfer des „Lammes ohne Fehl und Makel“ am Kreuz mit dem „kostbaren Blut“ (1 Petr 1,19) des neuen und ewigen „Bundes“ (Mt 26,28) bedeutet gleichsam die Beschneidung der ganzen Menschheit (vgl. Kol 2,11) am „achten Tag“ der Auferstehung, um sie so von der Sünde zu reinigen und damit kultfähig oder paradiesfähig zu machen.

 

Das „Lamm Gottes“ war zu diesem Opfer schon „vor der Erschaffung der Welt ausersehen“ (1 Petr 1,20; Offb 13,8). Nach dem katholischen Philosophen Franz von Baader (1765-1841) hat schon die Schöpfung ihren Grund im freien Selbstopfer Gottes. Dieses ist „die Wesensdefinition des Verhältnisses Gottes zur Welt“, weil nur „die Relation Gottes zur Welt im Opfer ... auch das Herrsein Gottes über die Welt (transzendiert), weil Gott die Welt nicht zu seinem Herrsein bedarf. Das Opfer und der Dienst Gottes an der Welt ist das freieste Verhältnis, das sich für das Verhältnis Gottes zur Welt denken lässt“ (vgl.Peter Koslowski, Philosophien der Offenbarung, 2001, 794-802: Das Selbstopfer als Ausdruck der Freiheit unf Vollkommenheit Gottes, hier 799).

 

Die älteste Osterpredigt des Melito von Sardes

Von Bischof Melito von Sardes (2. Hälfte 2. Jh.) gibt es die älteste erhaltene Osterpredigt, die erst im 20. Jahrhundert gefunden wurde (publiziert 1960), wegen ihres (vermeintlichen) Antijudaismus dann aber auch schnell wieder in der Versenkung verschwand. Nach Klaus Berger sind gleichwohl „viele Passagen (z. B. 66–72) … theologisch und rhetorisch großartig zu nennen und zeugen von einer tiefen Durchdringung des gesamten biblischen Stoffes auf das Leiden des Gerechten hin“ (Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, 1999, 1300; zum Text s. 1301–1318). Die Leistung von Bischof Melito besteht darin, dass er „die jüdische Passahtradition umfassend typologisch mit der christlichen Ostertradition vergleicht“ (1300).

 

Melito feiert das christliche Ostern noch in Entsprechung zum jüdischen Osterfest in der ersten Vollmondnacht im Frühling am 14./15. Nisan (Ex 12,2.6). In dieser Nacht soll Israel das Blut des am 10. des Monats geholten und am 14. des Monats geschlachteten Lammes als Schutzzeichen an „die beiden Türpfosten und den Türsturz an den Häusern streichen, in denen man das Lamm essen will“ (V. 7). Nicht roh, sondern über dem Feuer gebraten soll man es noch in dieser Nacht essen, alles, was übrig bleibt, soll im Feuer verbrannt werden (V. 10). Das „Fest zur Ehre des Herrn“ (V. 14) erinnert daran, dass in dieser Nacht über das „Sklavenhaus Ägypten“ Gott sein Gericht gehalten hat, indem er „in Ägypten an den Häusern der Israeliten vorüberging, als er die Ägypter mit Unheil schlug, unsere Häuser aber verschonte“ (V. 27).

 

Diese in der christlichen Osternacht als Vorausbild für Tod und Auferstehung Jesu vorgetragene Erzählung empfinden viele Christen heute als anstößig und unverständlich. Deshalb ist es notwendig, bei Melito die Methode der typologischen Schriftauslegung (neu) zu lernen. Melito schreibt einleitend: „Die Worte des Geheimnisses, das somit verkündet worden ist [in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten], will ich nun entschlüsseln. (…) Nun begreift also, ihr Lieben: Es geht um etwas, das zugleich neu und alt, ewig und zeitlich, vergänglich und unvergänglich, sterblich und unsterblich ist. Das Geheimnis des Passah [= Vorübergang des Herrn] war alt, denn es steht im Gesetz. Es ist neu, denn es betrifft Jesus, Gottes Wort. Es geschah in der Zeit, weil es ein Entwurf, ein Modell von etwas Künftigem war. Es ist ewig, denn dadurch schenkt Gott seine Gnade“ (1301).

 

Zeitlich-vergängliches Modell der ewigen Erlösung

Nach diesem Schema „zeitlich – ewig“ liefert das Alte Testament das vergängliche Modell für die ewige Erlösung durch den Messias, „der alles in sich umfasst“: „Weil er richtet, ist er Gesetz, weil er lehrt, ist er das Wort, und weil er rettet, ist er Gnade. Weil er hervorbringt, ist er Vater, weil er hervorgebracht wird, ist er Sohn; weil er leidet, ist er ein Schafbock, und weil er begraben wird, ist er ein Mensch. Doch weil er aufersteht, ist er Gott“ (1302) – Anspielung auf die dreitägige Osterfeier vom Karfreitag bis zum Ostersonntag.

 

Das Passahfest versteht Melito als „Mysterienfeier“, bei der „Israel zum Schutz versiegelt worden war“ (1303). „Das Siegel des lebendigen Gottes“ auf der Stirn der Erlösten ist in Ez 9,4.6 und Offb 7,7f das Taw, der letzte, im ersten christlichen Jahrhundert noch kreuzförmig geschriebene Buchstabe des hebräischen Alphabets in der Bedeutung von „Zeichen“ mit dem Zahlenwert 400. Wenn Israel „400 Jahre“ in Ägypten ist (Gen 15,13), dann ist „Ägypten“ Symbol für das Werden (und Leiden) in der zeitlich-vergänglichen Körperwelt der Materie (das Symbol für den Geist ist der erste Buchstaben Aleph = 1).

 

Mit dem Siegel des Taw-Kreuzes auf der Stirn (vgl. 2 Kor 1,22), dem Ort des ‚dritten Auges’, erfährt der so Versiegelte seine Verbindung mit der verborgenen Welt des Geistes und des Göttlichen, lebt er wieder im „Bund“ mit Gott. Dagegen werden die Ägypter (bzw. jede „Erstgeburt“) mit Pharao (als Sinnbild der Todesmacht) „zum Fraß des Todes“ (1304). Aber „der Tod des Lammes war für das Volk eine schützende Mauer. Das ist ein unerhörtes, unsägliches Geheimnis: Die Schlachtung des Lammes wurde zur Rettung für Israel.“ Für Melito kündigt sich darin Gottes Absicht an, denn die Ereignisse im Alten Testament und Alten Bund „sind ein Modell für das Zukünftige“ (1305).

 

Das Modell als Vorausbild oder zeitliches Abbild des Ewigen besteht dabei „aus Wachs oder Ton oder Holz“, also einem vergänglichen Baustoff, das „dem Eigentlichen und Wahren“, der gemeinten Sache selbst, weichen muss: „Gottes Heilstat und das, was er wirklich ist, wurden im Volk Israel vorher abgebildet. Und die Lehren des Evangeliums wurden vom Gesetz vorher verkündet. Das Volk Israel war Modell und Entwurf. Das Gesetz war als Gleichnis aufgeschrieben. Das Evangelium legt das Gesetz aus und ist seine Erfüllung. Die Kirche ist die Herberge der Wahrheit. Das Modell ist wertvoll, solange die eigentliche Wirklichkeit nicht da ist. (…) Das Gesetz war großartig, bevor das Licht des Evangeliums aufstrahlte. Doch seitdem die Kirche entstanden ist, seitdem das Evangelium voransteht, ist das Modell bedeutungslos geworden. Es hat seine Bedeutung an die eigentliche Wirklichkeit abgegeben“ (1306f).

 

Das Neue Testament ersetzt nicht das Alte

Hier wird das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Bund als ‚Ersatz’ (Substitution) verstanden, was das Alte Testament und das Judentum überflüssig zu machen scheint: Die Kirche tritt an die Stelle Israels, das Evangelium an die Stelle des Gesetzes, der Erlöser Jesus an die Stelle des Erlösers Mose, das Wertvolle an die Stelle des wertlos Gewordenen: „Einst war das Blut des Lammes wertvoll, doch jetzt ist es wertlos, weil der Herr uns den Geist gesandt hat. (…) Einst war das irdische Jerusalem wertvoll, doch jetzt ist es wertlos, weil wir das himmlische Jerusalem haben“ (1307).

 

Diese Gegenüberstellung scheint sich auf den Hebräerbrief berufen zu können, der ebenfalls den Alten und den Neuen Bund als „Schatten“ und „Wahrheit“, irdisches „Abbild“ und „himmlische Wirklichkeit“ kontrastiert. Allerdings sagt er auch: „Wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige“ (Hebr 13,14; vgl. 8,8,5f). Das heißt, das eschatologische Heil liegt auch für Christen in gewisser Weise noch in der Zukunft, auch wenn es schon im Geist antizipiert und vergegenwärtigt wird.

 

Das bedeutet, das die vier grundlegenden jüdischen Institutionen Thora, Sabbat, Tempel und Beschneidung im Christentum zwar als solche nicht einfach weitergeführt werden, sondern einer Transformation unterliegen im Sinn einer vergeistigten, verinnerlichten, universalisierten und verwandelten Konzentration auf das Wesentliche. Doch daraus folgt weder eine rein spirituelle Auslegung des Alten Testaments, noch ein falscher Legalismus.

 

Wenn die göttliche Himmelsstimme auf dem Berg der Verklärung, wo sich zu Jesus auch Mose und Elija gesellen, befiehlt: „Auf ihn (Jesus) sollt ihr hören“ (Mk 9,7), dann sind Gesetz und Propheten nicht abgetan, sondern als bleibende „Zeugen“ für Jesus in Anspruch genommen. Das heißt, die neutestamentliche Verkündigung muss belegen und bewahrheiten, dass ihr Anspruch, die Erfüllung und Vollendung des Alten Testaments in der Perspektive der vom Geist ermöglichten Hoffnung zu sein, zu Recht und in Wahrheit besteht und keine willkürliche Behauptung ist.

 

Erbsünde: Universale Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen

Grundlegend für die universale Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit ist die biblische Erzählung vom Sündenfall im Essen vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ im Gegenüber zum „Baum des (ewigen) Lebens“ in der Mitte des Paradiesgartens (Gen 2,9; 3,1-7). Melito versteht dies als „zweierlei Samen“, den der Mensch als „Acker“ aufnimmt. Weil er den falschen Samen aufnahm, „wurde er in diese Welt hinausgeworfen wie ein Verurteilter ins Gefängnis“. So hinterließ er „seinen Kindern als Erbe nicht Heiligkeit, sondern Sexgier, nicht Unsterblichkeit, sondern Sterblichkeit, nicht Ehre, sondern Schande, nicht Freiheit, sondern Sklaverei, nicht Königtum, sondern Tyrannis, nicht Leben, sondern Tod, nicht Heil, sondern Verderben“ (1308).

 

Damit ist im Grunde das schon formuliert, was mit Augustinus als Dogma von der „Erbsünde“ die Kehrseite der Lehre von der Erlösung der Menschheit von Sünde, Tod und Teufel im schändlichen Kreuzestod Jesu und seiner Auferstehung bilden wird. Melito malt die Folgen der Ursünde drastisch aus: „Ein Vater missbraucht seine Tochter, ein Sohn trieb Unzucht mit seiner Mutter, ein Bruder mit dem anderen, Männer mit Männern, ein jeder trieb es mit der Frau seines Nächsten. Über all das freute sich die Sünde. Bereitwillig besorgte sie dem Tod Quartier bei den Menschen. (…) Alle Menschen verfielen in ihrer Schwäche der Sünde, und seitdem ist jeder Leib dem Tod unterworfen“ (1309).

 

In der himmlischen Welt des Paradieses wäre der Mensch noch nicht gestorben, noch nicht im irdischen „Gefängnis“ des sterblichen Leibes, noch nicht „vertrieben aus dem Haus seines Leibes“ (ebd.). Paulus hofft daher, „ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel“ zu erhalten oder „mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden“ (2 Kor 5,1f). Denn: „Unsere Heimat aber ist im Himmel“ (Phil 3,20). Haus, Kleid und auch der Körper als „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19) sind Metaphern für den irdischen oder den himmlischen Zustand. Dieser ist abhängig von der Sünde als Trennung von Gott beziehungsweise von der Gnade als Wiederverbindung mit Gott.

 

Von Anfang an vorbereitete Welt-Erlösung

Um den Menschen mit sich wieder zu versöhnen und zu vereinen, wurde „das Erlösungsgeheimnis des Herrn … von langer Hand gestaltet“ und vorbereitet, angefangen bei Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen wird, über den zum Brandopfer gefesselten Isaak, den verkauften Josef von Ägypten, den im Binsenkörbchen ausgesetzten Mose und all die anderen leidenden Propheten mit dem Höhepunkt des leidenden Gottesknechts (Jes 53,7f). „Blicke auch auf das Lamm, das in Ägypten geschlachtet wurde, das die Ägypter schlug und durch sein Blut Israel rettete“ (1309f; vgl. 1311). „Durch den Heiligen Geist, der nicht sterben kann,  hat er den menschentötenden Tod getötet. (…) Er erlöste uns aus der Dienstbarkeit gegenüber der Welt wie aus dem Land Ägypten. Er befreite uns aus der Sklaverei des Teufels wie aus der Macht des Pharao“ (1311).

 

Ägypten wird so zum Sinnbild für die Welt (des Todes) und der Pharao zum Sinnbild des Teufels als „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31). Wenn es vom toten Jesus am Kreuz heißt, dass die Soldaten „ihm die Beine nicht“ zerschlugen (Joh 19,33.36), so ist dies Anspielung auf das Paschalamm, dem die Israeliten „keine Knochen … zerbrechen“ sollen (Ex 12,46). Ebenso spielt der dem Gekreuzigten gereichte Ysopzweig mit Essig (Joh 19,29) auf des Paschafest an: „Dann nehmet einen Ysopzweig, taucht ihn in die Schüssel mit Blut, und streicht etwas von dem Blut in der Schüssel auf den Türsturz und auf die beiden Türpfosten!“ (Ex 12,22). Entsprechend stirbt Jesus im vierten Evangelium am Rüsttag zum Paschafest, das im Jahr 30 mit dem Sabbat (Samstag) zusammenfiel, in der „Stunde“ der Schlachtung der Paschalämmer im Tempel, also am Freitagnachmittag, dem 6. Tag (analog zum 6. Tag der Erschaffung des Menschen, und zwar am Nachmittag, denn am Vormittag des 6. Tages werden die Erd-Tiere erschaffen).

 

Melito beschuldigt Israel, es habe „den getötet, der dich lebendig gemacht hat“: „Du hast den Herrn getötet am großen Fest. … Du hast dem Herrn unerhörte Leiden zugefügt, deinem Herrn, der dich geschaffen, geformt und geehrte und dir den Namen ‚Israel’ gegeben hat, das heißt: ‚der Gott sieht’. … Du hast den Herrn nicht erkannt, du Israel hast nicht gewusst, dass dieser der erstgeborene Sohn Gottes ist, der vor der Morgenröte geboren ist und selbst das Licht geschaffen hat; der den Tag leuchten ließ und die Finsternis vom Licht schied …“ (1312f).

 

Die ganze biblische Heilsgeschichte wird in diesem Tenor durchgegangen, wie schon Paulus erklärt, dass Israels Geschichte „uns als warnendes Beispiel“ aufgeschrieben wurde: Der in der Wüste mit Israel mitziehende Felsen mit dem geistgeschenkten Trank „war Christus“ (1 Kor 10,4-7; vgl. 1314). Warnung und Beispiel heißt aber: Nicht die Juden sind in Gefahr, sondern die Christen, die nicht verstehen, dass sie selbst diejenigen sind, die den Herrn verraten, verkaufen und verurteilen, wenn sie sündigen oder in der Sünde verharren.

 

Dies stellen die Lieder der vorösterlichen Bußzeit und des Karfreitags immer wieder heraus: „Was ist wohl die Ursach solcher Plagen?/ Ach, meine Sünden haben dich geschlagen./ Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet,/ was du erduldet“ (Gotteslob 290.3). Oder: „O Mensch bewein dein Sünde groß/ derhalb Christus seins Vaters Schoß/ verließ und kam auf Erden“ (GL 267). Nicht nur wegen der Sünde Israels erscheint der Erlöser, sondern wegen der Sünde jedes einzelnen Menschen vom Anfang bis zum Ende der Weltgeschichte. 

 

Der Erlöser der Welt ist auch der Schöpfer der Welt

Melito geht es allerdings um den Kreuzestod Jesu, des Schöpfers der Welt, in aller (Welt-) Öffentlichkeit: „Der ungerechte Mord an dem Gerechten geschah mitten auf der Straße, mitten in der Stadt, am helllichten Tag, als alle zuschauten. (…) Der die Erde aufgehängt hat, wurde aufgehängt. Der die Himmel angenagelt hat, wurde angenagelt. Der die himmlische Welt befestigte, wurde am Kreuz befestigt. Der Herr wurde geschmäht. Gott wurde ermordet. Der König Israels wurde hingerichtet durch Israels Hand. (…) Die Gestirne wandten sich ab von ihrer Bahn, und der Tag verfinsterte sich, um den zu verbergen, der nackt am Kreuz hing“ (1316).

 

Die Lust am ins Extrem gesteigerten Paradox führt hier mehr die Feder als die Absicht, Israel zum ‚Gottesmörder’ zu stilisieren. Nicht weniger als der Schöpfer oder das fleischgewordene Schöpferwort selbst stirbt am Kreuz, das, wenn alles „vollbracht“ ist (Joh 19,30), auch das Schöpfungswerk vollendet hat, nämlich befreit von Sünde und Tod zur vollkommenen Liebe im Gehorsam des Glaubens „zur Ehre Gottes, des Vaters“ (Phil 2,8.11). Melitos Predigt über das Passahlamm endet deshalb mit einem Aufruf, sich von Christus (durch seinen Heiligen Geist) alle Sünden vergeben zu lassen:

 

„’Ich’, sagt Christus, ‚habe den Tod vernichtet und über den Feind triumphiert. Ich habe das Totenreich niedergetreten. Ich habe den Starken [= Satan] gebunden [vgl. Mt 12,29] und den Menschen hinweggerissen in die Höhen des Himmels. Ich, der Christus. Kommt also, all ihr Stämme der Menschen, die ihr mit Sünden zu einem Teig verknetet seid! Lasst euch die Sünden vergeben. Denn ich bin eure Vergebung. Ich bin das rettende Passahlamm. Ich bin das Lamm, das für euch geschlachtet wurde. Ich bin euer Lösegeld, ich bin euer Leben, ich bin eure Auferstehung, ich bin euer Licht, ich bin eure Rettung, ich bin euer König’“ (1317f).

 

Das Johannesevangelium überträgt das „Ich bin“ des Gottesnamens JHWH (vgl. Ex 3,14) auf Jesus in den sieben Ich-Bin-Bildworten (zum Beispiel: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, Joh 11,25), aber auch den absolut gebrauchten Ich-Bin-Aussagen (Joh 17,24, 18,5.8). Jesus ist hier ausdrücklich der Offenbarer des „Namens“ Gottes (Joh 17,6.26).

 

Das Königtum Gottes, das Israel durch den Glauben an die befreiende Rettung aus dem „Sklavenhaus“ Ägypten bekennt und angenommen hat (Ex 20,2), wird neutestamentlich vom gekreuzigten Messiaskönig ausgesagt, über dem in allen drei Weltsprachen als Angabe seines „Vergehens“ das Schild prangt: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ (Joh 19,19). Melito: „Er ist das A und das O, er ist Anfang und Ende, der unaussprechliche Anfang und das unbegreifliche Ende“ (1318; vgl. Offb 1,17; 2,8; 22,13).

 

Aleph und Taw-Kreuz, die göttliche Eins und die materielle Vier (bzw. 400) der Welt sind im viergliedrigen Kreuz mit der einen Mitte wieder verbunden zum heilbringenden Bund Gottes. Dies zeigt die Osterkerze mit der Aufschrift Alpha und Omega und den fünf roten Wachsstiften für die fünf verklärten Wundmale des auferstandenen Gekreuzigten im Bundes-Verhältnis 1 (Herzwunde) zu 4 (Male an Händen und Füßen; vgl. Joh 29,25-29). Die Osterkerze wiederum hat ihr Vorausbild in der nächtlichen Feuersäule als Symbol der Gegenwart Gottes, die zusammen mit der Wolkensäule am Tag Israel den Weg aus Ägypten in die Freiheit weist (Ex 13,21f).

 

Christlich-allegorische Schriftauslegung im Feuer des Geistes

Die entscheidende Frage ist natürlich, ob die christlich-allegorische Lesart des Alten Testaments von den biblischen Texten selbst her möglich ist oder diesen einen falschen Sinn unterschiebt und sie so missdeutet. Dazu verweist Origenes, der größte Meister der allegorischen Exegese in der alten Kirche, auf die wiederholte göttliche Anweisung, das Paschalamm nicht roh zu essen, das heißt die Schrift nicht nach dem bloß äußeren Buchstaben zu verstehen, sondern es bzw. sie im Feuer (des Geistes) zu braten (Ex 12,8-10). In seinem Kommentar zum Buch Levitikus bemerkt er: „Wenn einen ein Ausspruch des Herrn so in Brand setzt, dass er darüber zum Liebhaber der Weisheit wird und allem Schönen entgegenglüht, dann fiel das Feuer des Herrn in ihn“ (In Leviticum homilia 8,1).

 

Der für die Konzilserklärung „Nostra aetate“ zur Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zum Judentum konsultierte jüdische Religionsphilosoph Abraham J. Heschel zitiert einen „Rabbi aus alter Zeit“ mit den Worten, „die Tora, wie Mose sie empfing, ist nur eine unreife Frucht am himmlischen Baum der Weisheit. Am Ende der Tage wird vieles offenbar werden, was jetzt verborgen ist“ (Keine Religion ist ein Eiland, in: Fritz A. Rothschild [Hg.], Christentum aus jüdischer Sicht, 1998, 324-341, hier 336).

 

Da mit dem Messias das „Ende der Tage“ (Apg 2,17) und der Geist als „Feuer“ vom Himmel gekommen ist (Lk 12,49), wird auch die Heilige Schrift in einem vertieften geistigen Sinn verstanden, wie das Beispiel der Emmaus-Jünger zeigt: Ihnen erschließt der gekreuzigte und auferstandene Messias, was in der Schrift über ihn geschrieben steht, so dass ihre Herzen entbrennen und Feuer fangen (Lk 24,25-32). Papst Franziskus schreibt im Vorwort zur Youcat-Jugendbibel (2015): „Ihr haltet … etwas Göttliches in Händen: ein Buch wie Feuer! Ein Buch, durch das Gott spricht.“

 

 

Eben dieses geistig-geistliche Entbrennen ist nun aber genau das, was auch die jüdische Exegese von einer fruchtbaren Schriftauslegung erwartet. „So wird im Talmud berichtet, dass es geschehen konnte, dass während des Thorastudiums Feuer vom Himmel fiel, die Engel herbeikamen, ja sogar die Gottheit, die Schechina [Gegenwart der göttlichen Herrlichkeit in der Welt], zugegen war, und dass die vom Bibelexegeten gesprochenen Worte erklangen: ‚(…) wie bei ihrer Offenbarung am Sinai’.“

 

Der Judaist Karl Erich Grötzinger führt im ersten Band „Jüdisches Denken“ (2004) diese Passage an (303), um darzulegen, wie beim Thorastudium die räumliche und zeitliche Distanz zwischen der heutigen und der damaligen Situation aufgehoben und alles „in die je eigene Gegenart des Studierenden gebracht wird. Das Studium ist auf diese Weise wunderbar und unmittelbar mit dem Sinai beziehungsweise mit dem Himmel verbunden wie einst, als das ganze Volk vor dem Berg Sinai stand und die Tora empfing“ (303f).

 

Die Gegenwart der biblischen Heilsereignisse im Kult

Was hier vom einzelnen Thorastudenten gesagt wird, gilt umso mehr von der zum Gottesdienst versammelten Heilsgemeinde, die das „Wort Gottes“ mit einem gläubigen, vom Heiligen Geist erleuchteten Herzen hört. Wenn jede Lesung des Evangeliums in der katholischen Liturgie mit der Formel eingeleitet wird „in jener Zeit“ (in illo tempore), dann bedeutet diese Formel die Übertragung der erzählten Ereignisse in das jeweilige ‚Heute’, was aber auch für alle alttestamentlichen Lesungen gilt.

 

So wie alle gläubigen Juden beim Offenbarungsempfang auf dem Sinai sich als gegenwärtig anwesend verstehen sollen, und wie alle spätere Mündliche Thora (die später verschriftlichte Tradition wie die Midraschim, Mischna und Talmud, Schriftkommentare und Kabbala) auf den Sinai zurückgeführt wird, so ist auch für alle gläubige Christen jedes biblische Wort als „Gotteswort“ im Heiligen Geist Gegenwart und auf die Kirche (Gemeinde) beziehungsweise die eigene Seele zu beziehen. Die Thora als Bundesbuch und Brautgabe wird am „50. Tag“ nach Ostern von Gott dem Mose auf dem Sinai übergeben, auf dessen Gipfel der Herr „im Feuer“ herabsteigt (Ex 19,18; vgl. Dtn 4,11.33.37). Ähnlich kommt im Neuen Testament am „50. Tag“ (Pfingsten) der Heilige Geist in „Feuerzungen“ auf die Apostel und damit die ganze Kirche herab (Apg 2,1-4).

 

Eine talmudische Erzählung weiß von den Rabbinern Elieser ben Hyrkanos und Jehoschua ben Hannanja, dass sie sich bei der Beschneidungsfeier des Elischa ben Abuja beiseite setzten, um die Thora zu studieren: „Sie setzten sich und befassten sich mit den Worten der Tora und von der Tora zu den Propheten und von den Propheten zu den [Weisheits-]Schriften. Da fiel Feuer vom Himmel und loderte um sie. Da sprach Abuja: ‚Herrschaften, seid ihr gekommen, mir das Haus über dem Kopf anzuzünden?’ Sie erwiderten: ‚Gott bewahre! Wir saßen nur und reihten Worte der Tora und von der Tora zu den Propheten und von den Propheten zu den Schriften. Da freuten sich die Worte wie bei der Offenbarung am Sinai (…) und das Feuer umzüngelte sie, wie es vom Sinai züngelte! Und das Wesentliche ihrer [der Worte] Offenbarung geschah mit Feuer, [wie es heißt]: ‚und der Berg brannte im Feuer bis zum Herzen des Himmels!’ (Dtn 4,11)“ (zit. 304f).

 

Die Verwandlung vom Fleischesleib zum Feuerleib

Im Maße, wie es der Thorastudent oder Exeget versteht, die Worte der Schrift richtig zu ‚reihen’, das heißt sie in ihrem Zusammenhang und ihrer Einheit zu deuten, dringt er in ihren tieferen Sinn, und es „erscheint das sinaitische Feuer“ (305). Wie die Thora die Bundesgabe Gottes an Israel als seine Braut ist, so bedeutet das pfingstliche Geist-Feuer eigentlich die endzeitliche Vermählung mit Gott in der ewigen Hochzeit, die allerdings erst am „50. Tag“ stattfinden kann, das heißt jenseits der Sieben-Tage-Schöpfung als Gegenwart in der künftigen Ewigkeit im Symbol des „8. Tages“ (analog dazu 50 = 7 x 7 + 1).

 

Der Sabbat oder 7. Tag als Zeichen des Bundes wird denn auch von Israel als „Braut“ verstanden, die das berühmte Lied Lekha Dodi likrat Kalla (Geh mein Freund, der Braut entgegen) von Schlomo Alkabetz (16. Jh.) entsprechend besingt (vgl. 302). „Die Tora wird sodenn als Heiratsurkunde dieses Bundes betrachtet, sie ist der Zeuge und der Beweis für die Partnerschaft zwischen Braut und Bräutigam, zwischen Israel und seinem Gott. Letztere Deutung ist schon in der Sinaiperikope der Bibel selbst präfiguriert, wo vom Buch des Bundes zwischen Gott und seinem Volk die Rede ist (Ex 24,7; 2 Kön 23,2; 2 Chr 34,30)“ (302).

 

Freilich ist die hochzeitlich Vereinigung mit Gott als „verzehrendes Feuer“ (Dtn 4,24) nur möglich, wenn Israel ganz ohne Sünde ist, also ethisch und kultisch rein. Daneben „sind eine ganze Reihe von Kenntnissen vonnöten, die den Zugang zum Himmel ermöglichen. Wie die kultische Reinheit sind alle diese Kenntnisse ‚himmlisches Wissen’ von ‚himmlischer Qualität’, ohne die ein irdischer Mensch im himmlischen Heiligkeitsbereich nicht bestehen kann“ (315). Es geht darum, mit Hilfe wirkmächtiger Gottesnamen als „gleichsam die Siegel und Schlüssel der Höhe“ zur Schau des göttlichen Throns (Merkaba) befähigt zu werden, wie dies in der Berufungsvision des Priesterpropheten Ezechiel (Ez 1) der Fall war (316).

 

Wie Paulus im Hinblick auf die Notwendigkeit der Verwandlung des irdischen in den himmlischen Menschen (= Christus) sagt: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben“ (1 Kor 15,50), so beschreiben auch die jüdischen Mystiker den Unterschied von Reinheit und Unreinheit als den „von Fleischesleib und Feuerleib …, denn das Feuer gilt als das Element der absoluten Reinheit. (…) All dies ist die Materie der himmlischen Körper, die sich von der niedrigen Fleischlichkeit weit abhebt, als eine die irdische Leiblichkeit transzendierende Herrlichkeit“ (317).

 

Der evangelische Religionswissenschaftler Grözinger versteht dies nun aber als Gegensatz zur paulinischen Erlösungslehre: „Diese Unterscheidung darf aber nicht mit dem paulinischen oder qumranischen Dualismus von Fleisch und Geist bzw. Staub und Geist verwechselt werden. Auch die himmlische Welt ist eine Körperwelt – allerdings kultisch rein, im Feuer geläutert. Die Engel wollen den Menschen darum daran hindern, dass er den ‚Gestank’ des Fleisches und dessen Unreinheit in den reinen Himmel trägt“ (317). „Es ist der Unterschied zwischen Himmel und Erde, zwischen heiligem und profanem Bereich, der dem Menschen eine Annäherung an die Gottheit eigentlich unmöglich macht“ (318).

 

Während die Rabbinen in der ethischen imitatio Dei (Nachahmung Gottes) im Tun des Guten den Weg sahen, mit Gott eins zu sein, so erscheint im Denken der jüdischen Mystiker das Feuer nicht als Metapher, sondern als „himmlische Substanz, als Substanz der Reinheit“: So muss „der Unterschied zwischen Feuer und Fleisch aufgehoben“ werden im Sinn einer „Substanzangleichung – nicht einer ethischen Angleichung, wie die Rabbinen sie forderten“ (318).

 

Substanzangleichung durch die christlichen Sakramente

Paulus wäre indes nicht durch und durch Jude, wenn er die Erlösung durch den Messias in einer körperlosen, rein geistigen Realität verortete. Auch er weiß um die Notwendigkeit einer Läuterung durch das Feuer (1 Kor 3,13-15). Auch für ihn ist der auferstandene Messias nicht körperloser Geist, sondern er hat eine überirdische pneumatische (geistgewirkte) Leiblichkeit in Herrlichkeit (1 Kor 15,44), die eine „Verwandlung“ und „Überkleidung“ impliziert (1 Kor 15,51-54).

 

An dieser geistigen Leiblichkeit (oder dem „geistigen Haus“: 1 Petr 2,5) gibt Christus den Seinen Anteil durch die Feier der österlichen Sakramente, vor allem der heiligen Taufe und der heiligen Eucharistie. Die Taufe ist Reinigung von den Sünden nicht nur durch Wasser, sondern durch das „Feuer“ des Heiligen Geistes (Lk 3,16). Und die Eucharistie ist „brennendes Brot“, wie der Kirchenlehrer  Ephräm der Syrer betont.

 

Für die Kirchenreformerin und stigmatisierte Mystikerin Caterina von Siena sind die sakramentalen Heilszeichen der Kirche „sozusagen ihr glühender Kern, ‚sie alle haben ihre [Heiligungs-]Kraft aus dem Blut des Lammes‘, das der ‚Schatz‘ der Kirche ist. Das ‚Blut‘, das heißt die Erlösungsgnade, zu hüten und auszuteilen, ist die Kirche da – weswegen sie von Caterina als ‚Weinkeller‘ und ‚Gasthaus‘, als ‚Weinberg‘ und ‚Garten‘, als ‚Braut‘, die zugleich ‚Mutter‘ ist, umschrieben wird“ (Marianne Schlosser, Christi Herz – die Kirche und ihre Sakramente, in: Veit Neumann u. a. [Hg.], Glaube und Kirche in Zeiten des Umbruchs, 2018, 295-307).

 

Im Brief 168 an den Rat von Lucca (Jan. 1376) schreibt die Kirchenlehrerin, die 1367 ihre eigene mystische Vermählung mit Christus in einer Vision erlebte: „Jesus hat sich die Kirche zu seiner Braut erwählt und ihr die Frucht und die Wärme seines Blutes geschenkt zur Heilung unserer Krankheiten. Es sind die Sakramente der Kirche, die im Blut des Gottessohnes, vergossen im Feuer der Liebe, ihre Lebenskraft empfangen haben. Denkt daran, dass er im Feuer seiner Liebe diese seine Braut so an sich gebunden hat, dass weder der Teufel noch die Welt je ihr Dasein bedrohen können. Sie wird ewig sein, diese herrliche, verehrungswürdige Braut! Wenn Ihr mir entgegenhaltet, es habe vielmehr den Anschein, dass sie an Auszehrung leide und sich selbst nicht mehr helfen könne, so sage ich euch: Nein, es scheint nur so von außen her. Schaut ins Innere und Ihr werdet jene Kraft finden, die ihre Feinde nicht haben. Ihr wisst wohl, dass Gott allein stark ist und alle Stärke und Kraft von ihm ausgeht. Diese Kraft ist der Kirche nicht genommen …“

 

In ihrem Hauptwerk Dialog von der göttlichen Vorsehung (1377/78; dt. Kleinhain 2017), einem „Meisterwerk der geistlichen Literatur“ (Benedikt XVI.), das wohl die Grundlage für ihre Erhebung zur ersten Kirchenlehrerin im Jahr 1970 (mit Teresa von Avila) durch Papst Paul VI. bildete, wird Caterina von Gott-Vater belehrt, das Sakrament der Eucharistie „gleiche der Sonne und dem Feuer. ‚Feuer‘ steht für die göttliche Liebe, die sich im menschgewordenen Sohn mit dem ‚Blut‘, der Lebenshingabe vereint; beide sind untrennbar.“ „Eure Nahrung ist die Liebe.“ Die Eucharistie lasse „bereits das Hochzeitsmahl des Himmels voraus verkosten“, vorausgesetzt, das Sakrament werde „in Sehnsucht und Glauben“ empfangen. Nach Caterina von Siena verleiht das Licht und das Feuer des Glaubens „der Seele das Wollen, die Vollkommenheit zu erstreben“ (Kap. 99).

 

Die vollkommene Reinheit für den Aufstieg zu Gott

Auf ihre Frage nach der vollkommenen Reinheit erhält sie von Gott-Vater die Antwort, „dass du immer in liebender Hingabe mit mir vereint bist, denn ich bin die höchste und ewige Reinheit. Ich bin das Feuer, das die Seele reinigt. Je mehr sie sich Mir nähert, desto reiner wird sie …“ (100). Im Zusammenhang mit den drängendsten Fragen nach dem Erwerb der wahren Tugenden spricht sie vom Bekleidetsein mit Gottes Willen („mit dem Hochzeitsgewand der Liebe“), womit eben auch die ethische Dimension in den Prozess der Verwandlung und geistlichen Vermählung voll integriert ist; denn in der wahren Liebe besteht „die Erfüllung des Gesetzes“ (Röm 13,10).

 

Caterina selbst bezeichnet die aus dem Licht des Glaubens hervorgehende Liebe als „die Mutter des Gehorsams“ (163). Ihr zufolge hat der Gläubige in der Taufe den vom gekreuzigten Jesus „im Feuer der göttlichen Liebe“ gereinigten und vollkommen wiederhergestellten „Schlüssel des Gehorsams“ empfangen, den Adam „in den schmutzigen Kot“ geworfen und „mit dem Hammer des Hochmuts“ verbogen hat. Dabei komme es darauf an, selbst im Glauben gehorsam zu sein und sich so den durch Adam verlorenen ‚Himmel‘ neu zu erschließen; denn: „Ich (Gott) habe euch ohne euch geschaffen … Doch ich werde euch nicht ohne euch erlösen“ (155; ähnlich schon Augustinus, serm. 169,11,13).

 

Gegenüber dem ‚Kot’ und ‚Gestank’ des Sünders (vgl. den Todesgeruch des schon „vier Tage“ im Grab liegenden Lazarus: Joh 11,39) ist der in Christus Geheiligte eine „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,7). Von ihm geht wie von Christus selbst der „Wohlgeruch“ des Lebens aus: „Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensduft, der Leben verheißt“ (2 Kor 2,15f). Der Wohlgeruch (hebr. reach nichoach) vom Geist (hebr. ruach) des Geist-Gesalbten strömt von seinem wahren Ganzbrandopfer am Kreuz auf alle Gläubigen aus (vgl. Gen 8,21; Ex 29,18.25.41; Lev 1,9.13). Der irdisch-sterbliche Körper des Menschen wird so in seiner Substanz verwandelt und dadurch Gott in der Höhe näher gebracht (hebr. korban = Opfer ‚Näherbringen’ oder Hochbringen des Körpers zu Gott). Eben deshalb geschieht bei jeder Eucharistiefeier die Transsubstantiation der Schöpfungsgaben Brot und Wein in den Leib und das Blut des österlich verklärten Christus.

 

Bei der heiligen Eucharistie erklingt dabei immer das Dreimal-heilig der vor Liebe brennenden Serafim, die um den hohen Gottesthron versammelt rufen, dass Gottes Herrlichkeit „die ganze Erde erfüllt“ (Jes 6,1-3). So vereint sich die feiernde Kirche mit den himmlischen Heerscharen zur himmlischen oder kosmischen Liturgie. Ebenso heißt es Grözinger zufolge vom jüdischen Mystiker: „Nach dieser Verwandlung [seines Fleisches in Feuersfackeln und seiner Augen in die Räder der Merkava] ist der Mensch der Himmlischen in Gestalt, Macht und der Fähigkeit, mit geläuterter Zunge, mit Engelszunge, zu singen, angeglichen und damit bereit, in die Himmel einzutreten. Nun ist er im Sinne dieses Denkens zum Ebenbilde ‚Gottes’ geworden, kann sich in der imitatio der Himmlischen in ihre Reihe einordnen und in einer hymnisch-liturgischen  unio mystica mit seinem Schöpfer kommunizieren … Das Ziel des Menschen, Ebenbild Gottes zu werden, endet hier demnach in einer Art Vergöttlichung des Menschen, in einer substanz- und wesenhaften Angleichung an die mystische reine Körperlichkeit der himmlischen Welt“ (320; vgl. 323).

 

Nicht anders verhält es sich auch mit dem Getauften, der den ‚alten Adam’ (das animalische Tierfell: Gen 3,21) ausgezogen und Christus als neues Lichtkleid oder den ‚neuen Adam’ angezogen hat, „der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24). Das bedeutet nicht, dass der Getaufte damit seine Hände in den Schoß legen kann; vielmehr muss er die im Glauben gnadenhaft wieder geschenkte Gottähnlichkeit des Bild-Gottes-seins durch tätige Werke der Liebe als „Frucht des Geistes“ auch in der Welt beziehungsweise im Gottesdienst realisieren (Gal 5,6.22f).

 

Der Dreischritt der Erlösung: jüdisch und christlich

Ein Gegensatz zwischen jüdischer und christlicher Anthropologie und Soteriologie besteht also nicht, es sei denn, man bliebe in einer rein historischen Perspektive und identifizierte das „Sklavenhaus“ Ägypten mit dem Land am Nil und das „Gelobte Land“ mit dem heutigen Land Israel, was aber die ewige Erlösungstat Gottes ins bloß Irdische verkehrte. Vielmehr geht es im Alten wie im Neuen Testament bei der Erlösung immer um den Dreischritt vom 6. Tag/Freitag einer reinen Diesseitigkeit (und Tierähnlichkeit) über den 7. Tag/Samstag der Vergeistigung des Menschen zum 8. Tag/Sonntag der Vergöttlichung (Theosis).

 

Dieser Dreischritt von Naturgesetz – Sittengesetz – Gnade oder von Schöpfung – Heilsgeschichte – (Hoffnung auf ) eschatologische Vollendung liegt allen jüdischen und christlichen Hauptfesten zugrunde, so auch dem christlichen Osterfest, dem Triduum paschale, das gefeiert wird vom Karfreitag über den Ostersamstag zum Ostersonntag. Alttestamentlich entspricht dem der Weg von Ägypten über die Wüste ins Gelobte Land Kanaan. Der Zahlenwert von Ägypten (hebr. Mizrajim, 40-90-200-10-40) ist 380, der von Kanaan (20-50-70-50) ist 190: „Die Wanderung von Ägypten nach Kanaan ist also der Weg von der Zwei zur Eins“, das heißt von der irdischen Endlichkeit zur himmlischen Unendlichkeit und ungeteilten Einheit in Gott (Friedrich Weinreb, Schöpfung im Wort, ³2012, 225f). Und weiter:

 

„Dieser Zustand der Verbannung der ursprünglichen Eins, die sich in Zweiheit teilt, wird auch durch das Besetztsein Kanaans von den sieben Völkern ausgedrückt. Erst wenn nach dem Auszug aus Ägypten und der Besetzung Kanaans die Eins wieder erreicht wird, bedeutet das zugleich das Ende dieser sieben Völker. Dann ist der siebte Tag erfüllt, die vierzig Jahre der Wüste sind vollendet, und der achte Tag bricht an. (…) Das Leiden in Ägypten ist Ausdruck des Leidens durch die Zweiheit, die mit der Schöpfung [von Himmel und Erde] kam, und die Rückkehr nach Kanaan ist wieder die Eins vom Endziel der Schöpfung…, die Wiederherstellung der Harmonie in allen Welten…“ (ebd. 319).

 

Der Katechismus der Katholischen Kirche versteht den Exodus Israels und Durchzug durch das Rote Meer beziehungsweise die Überschreitung des Jordan in das „Land, das den Nachkommen Abrahams verheißen worden war“, als „ein Bild des ewigen Lebens. Die Verheißung dieses seligen Erbes erfüllt sich im Neuen Bund“ (Nr. 1222). Die Vermittlung zwischen unendlicher (unveränderlicher) und endlicher (zeitlicher) Welt geschieht durch den göttlichen Willen: „Der Wille ist also, bevor er will, unendlich wie die Gottheit [= das Wesen Gottes] selbst, d. h. er ist Gott. Erst wenn er ein Wollen vollführt, ist er begrenzt, denn ein Wollen bewirkt eine Tat und eine solche hat einen Anfang. (…) Mit dieser Zweiheit in der Einheit hat [der jüdische Dichter] Ibn Gevirol eine theologische Begründung für die Zweiheit allen Seins als Dualität von Materie und Form gefunden: Sie haben ihren Ursprung in der Gottheit selbst“ (Grözinger, 533f).

 

Falsche heilsgeschichtliche Periodisierungen der Zeit

Auch Grözinger weist auf einen Dreischritt im Judentum hin, nämlich auf die lineare Periodisierung in dreimal 2000 Jahre (6000 Jahre analog zu den 6 Schöpfungstagen), beginnend mit der Zeit des Tohu wabohu, dann die Zeit der Tora und schließlich 2000 Jahre „messianische Zeit“ (297). Dem frühen Christentums, speziell Paulus, unterstellt er   allerdings nur eine zweiteilige „heilsgeschichtliche Periodisierung“ zwischen der „Zeit des Gesetzes“ und der mit Jesus gekommenen „Zeit der Gnade“. „Die rabbinische Theologie hat sich nie zu einer solchen Periodisierung von Recht und Gnade entschließen können. Die Rabbinen wollten den Menschen nicht aus seiner ethischen Verantwortung entlassen, solange diese Welt besteht …“ (244).

 

Das sehen aber auch das Neue Testament und speziell Paulus nicht anders (s. o.), wohl aber der kalabresische Abt Joachim von Fiore. Er führte aufgrund einer Geist-Vision am Pfingstmorgen des Jahres 1184 eine trinitarisch strukturierte Periodisierung der Heilsgeschichte ein: Auf das Zeitalter des Vaters (= Altes Testament) und des Sohnes (= Neues Testament, ‚Petruskirche‘ oder Klerikerkirche) sollte das Zeitalter des Heiligen Geistes folgen (mönchisch-kontemplative oder spirituelle ‚Johanneskirche‘ oder ‚gereinigte‘ Geist-Kirche).

 

Dieses ‚dritte Reich‘ des Geistes als ‚Mönchszeitalter‘ stand von Joachims geschichtlicher Stunde her gesehen unmittelbar vor seinem berechneten Anbruch, nämlich im Jahr 1260. Diese Zahl 1260 errechnet sich aus der Zahl der 42 Generationen des Stammbaums Jesu bei Matthäus (1,1-17) und der für eine Generation angenommenen Zahl von 30 Jahren. Das ‚dritte Zeitalter‘ sollte den Durchbruch des Geistes der Armut und die volle Einhaltung der Bergpredigt bringen, die Beendigung der Kriege, den Sieg der geistlichen Schriftauslegung sowie das „Evangelium aeternum“ (Offb 14,6).

 

Dieses triadische Muster verkennt indes, dass die Erlösung als Freiheitsgeschehen grundsätzlich nicht berechenbar und mit dem Messias Jesus grundsätzlich schon die definitive ‚Endzeit’ gekommen ist: „Es ist völliger Unsinn zu sagen, das Evangelium Christi sei nicht das Evangelium des (Gottes-)Reiches“ (Thomas von Aquin). Die drei heilsgeschichtlichen Perioden sind nicht in einem linearen Nacheinander zu verstehen, sondern als gegenseitige Durchdringung (Perichorese) von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im „Heute“ der Liturgie.

 

Die Thora als Modell von Schöpfung und Erlösung

Im Midrasch Bereschit Rabba zum grundlegenden Buch Genesis wird ein Grundsatz jüdischer Exegese formuliert, der die Thora als Modell für den göttlichen Heilsplan versteht: Gott „schaute in die Tora und erschuf die Welt. Darum sagt die Heilige Schrift: ‚Be-Reschit bara Elohim’ [Gen 1,1], d. h. mit Reschit hat Er die Welt geschaffen und Reschit ist nichts anderes als die Tora“ (zit. nach Grözinger, 260).

 

‚Be-reschit’ wird gewöhnlich mit ‚im Anfang’ übersetzt. Hebr. resch ist das Haupt, der Kopf und so der ‚Anfang’ des Menschen. Hier wird das Haupt mit der Thora als Haupt-sache der Bibel identifiziert, wobei diese „in allererster Linie des Lehrbuch der jüdischen Ethik (ist)! Damit ist gesagt, das Gesetz der Welt ist nicht ein Naturgesetz, nicht die Gesetze von Physik oder einer Naturstoffkunde, sondern das Gesetz, auf das der Weltenbau gegründet worden ist, ist das ethische Gesetz der Tora! Dieses Gesetz und seine Gültigkeit sichern, so glauben die rabbinischen Lehrer, den Bestand der Schöpfung, kein davon unabhängiges wie immer geartetes natürliches ‚Funktionieren’. (…) In diesem Sinn deutet darum auch der Talmud den Proverbienvers ‚Zaddik Jesod Olam’ (Prov 10,25), ‚Der Gerechte ist das Fundament der Welt!’“ (260).

 

Durchaus ähnlich dazu haben auch die indigenen Völker in Mittel- und Südamerika geglaubt, nur durch die Stärkung des Sonnengottes in seinem Kampf gegen die Mondgöttin durch kultische Menschenopfer den Kosmos in Gang halten zu können. Neutestamentlich sagt der Hymnus des Kolosserbriefs von Christus, dem wahrhaft gerechten „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“: „In ihm hat alles Bestand.“ Die zwei Seiten der Schöpfung, Himmel und Erde, das Unsichtbare und das Sichtbare, hat er durch sein Kreuz versöhnt, zusammengeführt und vollendet (Kol 1,15-20).

 

In jüdischer Sicht ist gerecht, wer die Thora ‚lernt’ und erfüllt: „Das Tun und Halten der Tora hat somit Heilsfunktion für die ganze Welt, von ihm profitiert die gesamte Schöpfung, es sichert den Bestand der Welt. Weil dies so verstanden wird, werden in traditionellen jüdischen Gemeinden auf Kosten der ganzen Gemeinde eigens Männer freigestellt, die ohne Unterlass Tora studieren, zur Sicherung des Weltbestandes“ (261). Entsprechend wird das „Licht“ des ersten Schöpfungstages (Gen 1,3) mit den „Taten der Gerechten“ identifiziert, die schon vorhandene „Finsternis“ hingegen mit den „Taten der Frevler“ (262).

 

Die ethisch-kultische Betrachtung der Schöpfung als ‚Heiligtum’, dem dann das Zeit-Heiligtum in der Wüste und der Tempel in Jerusalem als Abbreviatur des Kosmos entspricht, hat als Kehrseite eine kosmisch-kultische Betrachtung der Ethik, das heißt vor allem der menschlichen Leiblichkeit (und Sexualität als ‚Reinheit’). Wie der Mensch als Bild Gottes dazu geschaffen ist, „die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit (zu) leiten“ (Weish 9,3), so auch sich selbst. Und wie die Ethik eine naturale Grundlage hat im Körperbau, so auch die Welt des Menschen in der außer- und vormenschlichen Natur.

 

 

Die christliche Gnade setzt deshalb nicht erst beim ethischen Gesetz (bei der geschriebenen Thora) an, sondern bei der Menschennatur und dem Naturrecht: „gratia supponit naturam et perficit eam – Die Gnade setzt die Natur voraus und vollendet sie“, lautet das theologische Axiom des Thomas von Aquin. Die positive Ethik ist dann ein notwendiger Zwischenschritt, der aber selbst nicht die Vollendung (in der Auferstehung) herbeiführen kann. Wird dies außer Acht gelassen, dann wird Tugend schnell zum Terror, Ethik zur Hypermoral und das Gesetz zum „Gefängnis“ (Gal 3,23), aus dem das Kommen des Erlösers und seiner im Glauben angenommenen Gnade befreit. Vom heilsgeschichtlichen Dreischritt her gesehen bleibt aber die Thora das Modell für die Schöpfung – und für die Erlösung in Christus, wie Melito von Sardes vorbildlich gezeigt hat.

 

Das ethische Grundproblem des Bösen

Das Grundproblem jeder Ethik ist das unausrottbare Vorhandensein des Bösen in der Welt. Die „Finsternis“ und das Tohu wabohu der Erde in Gen 1,2 werden vom Schöpfer ja nicht erschaffen, sondern sind als Chaos irgendwie immer schon da. Die rabbinischen Lehrer entwickelten dazu die Theorie vom „Bösen Trieb“, der mit dem Satan und dem „Todsengel“ (= Tod) identifiziert wird. Von diesem „Bösen Trieb“ wird gesagt, er „ist an allem Bösen Schuld, er ist es, der den Menschen verführt und schließlich das Schlimmste, den Tod, über ihn bringt“ (275).

 

Ähnlich sagt das Weisheitsbuch, die jüngste Schrift des Alten Testaments (ca. 50 v. Chr.): „Gott hat den Tod nicht gemacht“ (1,13). „Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören“ (2,24). Diejenige, die dem Tod angehören, sind die „Frevler“: Sie „holen winkend und rufend den Tod herbei und sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund, sie schließen einen Bund mit ihm, weil sie es verdienen, ihm zu gehören“ (1,16). Anders die Gerechten: Sie „sind in Gottes Hand und keine Qual kann sie berühren. (…) Ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit“ (3,1.4).

 

Das heißt, der Mensch bleibt verantwortlich für sein Tun, die Rede vom Satan oder Bösen Trieb enthebt ihn dieser Verantwortung nicht. Doch macht sie ihn auch nicht zum alleinigen Urheber des Bösen, sondern lässt ihn auch ‚Opfer’ des bösen Versuchers sein. Die rabbinische Exegese versucht dem Dilemma zu entgehen, indem sie auch den Bösen Trieb von Gott geschaffen sein lässt; zugleich hat er „auch die Tora als Heilkraut gegen ihn erschaffen“ (zit. 277), was somit im Selbstwiderspruch endet. „Jeder, der die Worte der Tora in sein Herz senkt, treibt die ganze Fülle böser Gedanken fort, Gedanken des Hungers, den Unsinn, die Hurerei, kurz alles Trachten des Bösen Triebes“ (zit. 288). Ursprünglich war auch die Thora für alle Völker gedacht gewesen, doch nur Israel hat das universelle Angebot angenommen (ebd.).

 

Freilich ist schon „Kain nicht aus dem Samen und nicht in der Ähnlichkeit und dem Ebenbilde Adams“, sondern nur der mit ‚130 Jahren’ gezeugte dritte Sohn Seth (Gen 5,3), „der von seinem Samen und seiner Ähnlichkeit war, und sein Tun war ähnlich dem Tun Abels, seines Bruders“ (zit. 281). Diese grundlegende Aufteilung der Menschheit nach Abel/Seth und Kain kennt auch Augustinus, für den die beiden Brüder die Protagonisten der beiden die Weltgeschichte durchziehenden ‚Reiche’ sind: der civitas Dei (Gottesherrschaft) und der civitas terrena oder diaboli (Teufelsherrschaft), je nach der Art der Liebe (reine Gottesliebe oder falsche Selbstliebe). Durch die Taufe wechselt der Mensch von der einen Herrschaft zur anderen, im Judentum geschieht dies durch die Annahme der Heilsgabe der Schriftlichen Thora, allerdings untrennbar verbunden mit der Mündlichen Thora oder der jüdischen Tradition (vgl. 227-234).

 

Letztlich ist der Mensch – unabhängig von der immer konstruierten ‚Heilsgeschichte’ – mit seinem Gewissen von Anfang an in die Entscheidungssituation gestellt, zwischen zwei Wegen wählen zu müssen, dem zum Tod und dem zum Leben (vgl. 283, Anm. 908; Dtn 30,19; Mt 7,13f). Das Alter von ‚130 Jahren’ bei der Zeugung Seths zeigt, dass dieser dritte Sohn wieder der übernatürlichen Geistlinie folgt und nicht der Linie des „Fleisches“, dessen Alter in Gen 6,3 auf „120 Jahre“ begrenzt wird. 120 oder 12 ist die Zahl des Innerweltlichen (zwölf Monate), des Zeitlichen und ‚Weiblichen’ (Bet Mizwa mit 12 Jahren); die Zahlen 130 und 13 stehen für die Einheit (13 Uhr = 1 Uhr) und das (innere) ‚Männliche’ jenseits dieser lunaren Welt (Bar Mizwa mit 13 Jahren: ‚einer’, hebr. echad, 1-8-4 = 13).

 

Grözinger sieht „eine der tiefsten Differenzen“ von Paulus zum Judentum, wenn der Apostel in Gal 5,17 klagt: „Denn das Fleisch gelüstet mich wider den Geist, den Geist aber wider das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (273; vgl. Röm 7,15.23). Das heißt aber nicht, wie Grözinger von daher annimmt, dass der Mensch durch sein „Fleisch-sein“ entschuldigt wäre. Vielmehr sagt ja Paulus, dass Gott sich dem Menschen offenbart hat und er deshalb „unentschuldbar“ ist: „Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt“ (Röm 1,19f).

 

Das Fleisch-sein – „denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben“ (Gen 6,12) –, wird biblisch auch symbolisiert durch die irreguläre sexuellen Verbindung der ‚Gottessöhne’ mit den ‚Menschentöchtern’ (Gen 6,1f). Es entsteht erstmals mit der Erschaffung der Frau (Gen 2,21) und ist Ursache für das Strafgericht der Sintflut über die ganze Menschheit bis auf die Acht in der rettenden Arche (Gen 7,7).

 

Die Kirche als rettendes Schiff und Paradiesgarten

Die Arche wurde christlich als Sinnbild der (weiblichen) Kirche, des ‚Schiffleins Petri’, verstanden, wie die Sintflut ein Sinnbild der Taufe (in acht-eckigen Becken) ist (1 Petr 3,20f). Noah, der Zehnte nach Adam, der als Achter in der Arche bewahrt wird, ist dabei der „Verkünder der Gerechtigkeit“ (2 Petr 2,5; vgl. Gen 7,1). Mit Noah und seinen drei Söhnen sowie ihren vier Frauen wird der auf Jakob/Israel eingeschränkte Bereich der Thoragesetzgebung grundsätzlich auf die ganze Menschheit hin überschritten. Deshalb spielt Noah und sein Bund zwischen Himmel und Erde im Zeichen des Regenbogens (Gen 9,13) in der alten Kirche eine herausragende Rolle. Das Axiom „Extra ecclesiam nulla salus“ (Außerhalb der Kirche kein Heil) geht auf die Erzählung von der rettenden Arche zurück.

 

Dabei ist es die Eucharistie als Frucht des Kreuzesopfers des Erlösers (das Blut aus seiner Seitenwunde), die die Kirche als rettendes Schiff, als Garten oder als Haus Gottes und mystischen Leib Christi erbaut. Die Eucharistie als die große „Danksagung“ und wahre Gottesverehrung beendet den Zustand des Schuldig-seins der Menschen im (unreinen) „Fleisch“ und führt sie zurück in die Gemeinschaft (Communio) mit Gott und untereinander, so wie dies im Judentum die Thora tut, allerdings begrenzt auf Israel. Das schließt Buße und Selbstheiligung nicht aus, sondern ein: „R. Elieser sagte: Wenn die Israeliten Buße tun, so werden sie erlöst, wenn aber nicht, so werden sie nicht erlöst“ (Grözinger, zit. 295).

 

Die Taufe hat auch das Moment der Buße und der ‚Absage an den Satan’. Das in der alten Kirche nur einmal gespendete Bußsakrament wurde als ‚zweite Taufe’ verstanden. Vor allem aber war die Taufe die Rückkehr in das durch die Ursünde verlorene Paradies der Gnade, konkret als Aufnahme in die heilige Kirche mit der Feier der Eucharistie als ihrer Herzmitte. Am Kreuz sagt Jesus dem mitgekreuzigten reumütigen Schächer (zu seiner Rechten): „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).

 

Der ursprüngliche Garten der Wonne „im Osten“ (= Frühling) ist der Sehnsuchtsort des gefallenen, von Gott als absolutem Sinn getrennten Menschen. Durch Jesu Ostersieg am Kreuz hat er wieder „Hoffnung“ in der Teilhabe am „Bund der Verheißung“ (Eph 2,12f). „Selig, wer sein Gewand [im Blut des Lammes] wäscht: Er hat Anteil am Baum des Lebens; und er wird durch die Tore in die Stadt eintreten können“ (Offb 22,14; vgl. 7,14).

 

Im Judentum wird der Baum des Lebens mit der Thora als „Weisheit“ Gottes identifiziert (vgl. Spr 3,18). Nach der Sammlung Bet ha-Midrasch waren die (präexistenten) Seelen aller Menschen sowohl im Garten Eden als auch bei der Thoraübergabe am Sinai dabei: „Denn alle Geister, die zur Erde kommen, wurden an dem Tage erschaffen, als Gott die Welt erschuf. Und bis zum Ende der Welt stehen sie bereit für die Menschen“ (zit. nach Grözinger, 264f). „Gott hat die Seelen nicht aus irdischem Material erschaffen, sondern aus einer höheren, himmlischen Substanz, nämlich aus dem göttlichen Thron“ (267). Gibt der Mensch seine Seele „rein zurück, wird sie Teil haben am Heil der Gerechten im Garten Eden, wenn aber nicht, muss sie zuvor im Gehinnom geläutert werden“ (ebd.), das heißt im ‚Fegefeuer’ oder Purgatorium (268).

 

Neben dem Seelenheil im Garten Eden gibt es aber auch die Vorstellung von einer Auferstehung des Fleisches als „Wiederzusammenführung von Seele und Leib“ (268). So gibt es zwei Phasen des persönlichen Heils oder Unheils, das mit dem Kommen des Messias eingeläutet oder auch vollendet wird (hier gehen die Meinungen der jüdischen Autoren auseinander). Christlich ist mit dem österlichen Erlösungsgeschehen im Kreuz die „Zeit der Gnade“ und der „Tag der Rettung“ jetzt schon da (2 Kor 6,2), auch wenn der kommende „Tag Christi Jesu“ erst noch die Vollendung bringt (Phil 1,6.10).

 

Der Sonntag als kleines wöchentliches Ostern

Die im „Bund des Feuers“ (hebr. berit-esch) „im Anfang (hebr. bereschith) geschaffene Welt von Himmel und Erde, des Verborgenen und des Manifesten, ist am siebten Tag/Sabbat schon in der Zeit vollendet (Gen 2,1-4). Aber dieser Vollendung und Heiligung ist erst vorläufig und noch nicht endgültig, weil der Mensch und alle Geistwesen in Freiheit an ihrer Vervollkommnung, Selbstheiligung und Erlösung mitwirken sollen. Gott will Mitliebende und deshalb freie Wesen, die seine aus Liebe für die Liebe erschaffene Welt durch ihre Liebestaten und Liebeshingabe krönen können.

 

Jesu von der Sünde der Nicht-Liebe und vom Tod der Erstarrung erlösende Liebeshingabe am Kreuz aus Liebe zur Welt (Joh 3,16) und zur Kirche (Eph 5,25) ist vollkommen selbstlos und deshalb siegreich über die Mächte des Bösen und der Finsternis. „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse“ (Joh 3,19).

 

Darin liegt auch die ‚Überlieferung’ Jesu durch den ‚Verräter’ Judas Is-karioth begründet, den ‚Mann des Risses’ zwischen den zwei Seiten der Schöpfung: Judas geht es nur um die manifeste Seite, die des Zeitlichen oder Mondes im Symbol des „Silbers“ (er erhält für seinen Verrat von den jüdischen Autoritäten 30 Silberlinge). Jesus gibt auch ihm beim Abschiedsmahl am Vorabend zum Rüsttag des großen Paschafestes (am Sabbat) zu essen, doch empfängt er nicht wirklich das Feuer und Licht der Liebe Gottes, weil es ihm am wahren Glauben fehlt: „Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht“ (Joh 13,30).

 

Jesu Sieg über Sünde und Tod durch sein Kreuz und seine Auferstehung wird gefeiert am ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond als eine kosmische Siegesfeier. Der Sonntag nach dem Sabbat ist der „achte Tag“ und als solcher Symbol der Ewigkeit. Im Sinnschema der sieben Tage wird der achte Tag wieder zum „ersten Tag der Woche“, wie es bei der Auferstehung Jesu heißt, „als eben die Sonne aufging“ (Mk 16,2). Jeder Sonntag ist ein kleines wöchentliches Ostern. Das zeigt sich auch daran, dass bei den „40 Tagen“ der vorösterlichen Fastenzeit der Sonntag nicht mitgezählt wird.

 

Die in der Osternacht am Osterfeuer entzündete brennende Osterkerze symbolisiert diesen ewigen Sieg des Auferstandenen, an dem alle Gläubigen durch die Sakramente Anteil gewinnen. Der Tod, die Trennung von Seele und Leib, auch die Trennung von Gott und Mensch in der Sünde, ist besiegt: Auferstehung bedeutet die (Wieder-)Vereinigung von Seele und Leib, aber auf höherer Ebene: der Ebene der Vollendung, der Vergöttlichung oder der Ewigkeit bei Gott.

 

Verlobung und Vermählung der zwei Seiten der Schöpfung

Beim Ritus der Taufwasserweihe in der Osternacht wird die brennende Osterkerze dreimal in das Wasser hineingetaucht, so wird das Element des Feuers mit dem des Wassers verbunden, vermählt und geheiligt. Ähnliches geschieht bei der Verwandlung von Wasser in den sechs Krügen in den besseren Wein auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11). Die Vermählung von Feuer und Wasser ist wie die Vereinigung von Sonne und Mond eine hochzeitliche Symbolik des wiederhergestellten Bundes zwischen dem Schöpfer und seiner geliebten Schöpfung, aber auch zwischen den zwei Seiten der Schöpfung: der verborgenen und unwandelbaren Seite des Lichts („Sonne) sowie der manifesten und wandelbaren Seite der Finsternis („Mond“), die vom Licht noch nicht erfüllt ist.  

 

Auf der Osterkerze befinden sich auch die beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega. Sie stehen für Anfang und Ende und so auch für das gesamte Alphabet, das heißt für die gesamte Schöpfung. Alpha und Omega stehen auch für die zwei Seiten der Schöpfung analog zu Seele und Leib beim Menschen. Gott erschafft aber nicht eine gute und eine böse Seite, sondern eine polare, gegensätzliche Zweiheit von Himmel und Erde, von unsichtbarer immaterieller Geistwelt (Innenwelt) und sichtbarer materieller Körperwelt (Außenwelt), deren ‚hochzeitliche’ Einswerdung die Vollendung bedeutet.

 

Das lässt sich am besten am goldenen siebenarmigen Leuchter veranschaulichen, den Mose nach dem himmlischen Muster erstellt (Ex 25,31-40). Vom baumartigen Mittelstamm gehen zu beiden Seiten je drei Arme aus. Der Mittelstamm verbindet die zwei Seiten mit den zweimal drei Ästen, das heißt der siebte Tag oder Sabbat, an dem Israel den unsichtbaren Schöpfer verehrt. Konkret sind mit den sieben Leuchten die damals bekannten sieben Planeten unseres Sonnensystems gemeint, wobei auch Sonne und Mond als Planeten gesehen wurden.

 

Auf der rechten Seite vom Mittelstamm aus gesehen befinden sich die ‚männlichen’ Planeten, die die Geistseite symbolisieren: Sonne, Mars und Jupiter, auf der linken Seite stehen die ‚weiblichen’ Planeten der Körperseite, von außen nach innen Mond, Venus und Merkur, in der Mitte Saturn, der letzte damals bekannte Planet. Die Namen der sieben Planeten bilden noch heute die Namen unserer sieben Wochentage: Sonn-tag, Mond-tag, Dienstag ist Marstag (franz. mardi), Mittwoch ist Merkurtag (franz mercredi), Donarstag/Jupitertag (franz. jeudi), Freyatag/Venustag (franz vendredi), Samstag/Saturntag (engl. saturday).

 

In der Bibel werden sie natürlich nicht so genannt, da stehen die ersten sieben Zahlen. Die ungeraden (‚männlichen’) Zahlen 1, 3 und 5 stehen für die Geistseite, die geraden (‚weiblichen’) Zahlen 2, 4 und 6 für die Körperseite. Die Geistseite ist unwandelbar und unvergänglich, die Körperseite ist wandelbar und vergänglich. Die elementaren Symbole dafür sind eben auch Feuer und Wasser oder Sonne und Mond. Der siebte Tag oder Sabbat als Mitte ist das kosmische Zeichen des ‚hochzeitlichen’ Bundes zwischen dem Schöpfer und seiner geliebten Schöpfung, eine Art von wöchentlicher kosmischer Hochzeitsfeier.

 

Das lässt sich auch am Davidstern verdeutlichen, dem anderen wichtigen religiösen Symbol Israels. Der Davidstern vereint ebenfalls die zwei Seiten der Schöpfung: Das erste Dreieck mit der Spitze nach oben steht für die ersten drei Schöpfungstage, das zweite Dreieck mit der Spitze nach unten steht für die zweiten drei Schöpfungstage, der Mittelpunkt für den 7. Tag als Symbol des Bundes, das heißt der ‚Verlobung’ zwischen Gott und seiner Schöpfung.

 

Die eigentlich ‚Hochzeit’ zwischen Gott und Welt findet nicht hier in der vergänglichen Zeit statt, sondern in der jenseitigen ewigen Welt am ‚8. Tag’, am Sonntag, dem österlichen Tag der Auferstehung Jesu. Für den Kirchenvater Klemens von Alexandrien war der siebenarmige Leuchter ein Vorausbild des (österlichen) Kreuzes, das ja häufig von Sonne und Mond flankiert dargestellt wird.

 

Göttlicher Thronwagen und Frühlingszeichen Widder

Die rabbinische Exegese betrachtet das erste Kapitel der Genesis und des Propheten Ezechiel (Merkaba-Vision) sowie die Vision vom endzeitlichen neuen Tempel (Ez 40 – 48) und das Hohelied der Liebe als mystische Texte, die den Fortgeschrittenen vorbehalten bleiben sollen, worauf auch Origenes hinweist (vgl. Grözinger, 306-310). Der Thronwagen, hebr. galgal (Ez 10,13, ist das „Räderwerk“, das heißt der Himmelsäquator der Fixsterne und die Ekliptik, der Sonnenlauf auf dem Band der zwölf Tierkreiszeichen (die Einheitsübersetzung von 1980 wie auch noch die von 2016 übersetzt galgal mit „Wirbel“, das heißt, sie weiß nicht, worum es geht). Der Benediktiner Gerhard Voss bemerkt in seinem Aufsatz Die kosmische Bedeutung des Kreuzes Christi in der Frühen Kirchen (in: Una Sancta 4/2005, 311-326):

 

„Im Weltbild der griechisch-hellenistischen Naturphilosophie ist der Himmelsäquator … der Kreis, an dem der stetig sich gleichbleibend um die Erde kreisende Fixsternhimmel festgemacht ist – den Alten ein Bild des Ewigen. Mit dem Himmelsäquator ist, ihn in einem Winkel von 23,5° schneidend, mit ihm also ein X – ein kosmisches Kreuz – bildend, die Ekliptik mit ihren zwölf Tierkreiszeichen verbunden. (…) Himmelsäquator und Ekliptik sind mit ihren beiden Schnittpunkten zur Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche sozusagen das [kreuzförmige] Gerüst des Kosmos – des Ewigen im Wandel der Zeiten. Mit ihnen gab nach Meinung Platons der Logos dem All die Gestalt des griechischen Buchstabens X („echíasen“). In der Gestalt dieses kosmischen Kreuzes gibt es eine göttliche Kraft, die den Kosmos zusammenhält. An diese Vorstellung vom kosmischen X als der Gestalt des göttlichen Logos, des Sohnes Gottes in der Welt, der Gestalt der Weltseele, konnte Justin anknüpfen. (…) Die Stelle, an der Himmelsäquator und Ekliptik sich zur Frühlings-Tagundnachtgleiche kreuzen, ist der Beginn des Tierkreiszeichens Widder. Wenn die Sonne in dieses Zeichen getreten ist, wird das christliche Paschafest gefeiert (…). Man könnte auch so formulieren: Das am Kreuz geopferte Paschalamm – geopfert im Zeichen des Widders als seinem kosmischen Spiegel – ist an der Schnittstelle von Zeit und Ewigkeit der Ausgangspunkt für das kosmische X, das die Welt in der Gottesherrschaft erhält …“

 

Bewegt wird dieses kosmische Räderwerk von den geflügelten Cherubim, die in alle vier Himmelsrichtungen blicken, und zwar mit einem Menschen-, Löwen-, Stier- und Adlergesicht (Ez 1,10). Diese vier Urwesen, die seit Hieronymus als Symbole der vier Evangelisten in Kirchen dargestellt werden, sind die vier mittleren Zeichen der Quadranten des Tierkreises: das Frühlingszeichen Stier, das Sommerzeichen Löwe, das Herbstzeichen Skorpion beziehungsweise Adler als Geistseite dazu und das Winterzeichen Wassermann oder Engel/Mensch. Das erste Frühlingszeichen ist (in der Zeit Abrahams) der Widder, der das kosmische Urbild des Lammes ist, das im Frühlingsmonat Nisan in der Nacht des Vollmonds zu essen ist (Ex 12,2; die Bedeutung des Frühlings für das Paschafest stellt besonders auch Dtn 16,1 heraus).

 

Im Judentum und in der alten Kirche wird der Kosmos analog zum Menschen als Mikrokosmos verstanden (vgl. Grözinger, 520f), er hat also eine Innenseite (Seele) und eine Außenseite (Körper). Gerhard Voss schreibt:  „Die mythischen Gottheiten des hellenistisch-römischen Himmels sind ja auch Ausdruck innerseelischer Kräfte. ‚Hab Sonne im Herzen‘, sagen wir heute noch, und wir sprechen von ‚Launen‘. ‚Launen‘ kommt von luna, Mond. Unsere Launen sind Ausdruck der Wechselhaftigkeit des Mondes in uns. (…) Die kosmische Sympatheia der mythischen Elementarmächte kann darum zum Meditationsbild über psychische Gegebenheiten werden“ (Der astrale Kosmos in der kirchlichen Überlieferung – eine vergessene Weisheit, 4. Vortrag der Reihe „Sonne, Mond und Sterne – Natur, Kunst und Religion“ im Rahmen der 53. Europäischen Wochen Passau 2005, 1-12, hier 2).

 

Der gekreuzigte Messiaskönig auf dem Kreuzesthron

In der Thron-Vision der Johannes-Apokalypse (4 und 5) umstehen die vier Urwesen anbetend den einen Gottesthron mit dem geschlachteten Lamm, das mit seinem Ostersieg die sieben Siegel des Buches der Weltgeschichte mit dem göttlichen Heilsplan öffnen kann. Das um 400 entstandene älteste erhaltene Apsismosaik Roms in Santa Pudenziana (in der Nähe von Maria Maggiore) zeigt Christus als Lehrer der Wahrheit inmitten seiner zwölf Apostel und zugleich als thronenden Weltenherrscher. Über ihm schwebt ein goldenes Gemmenkreuz, flankiert von den vier Urwesen mit gewaltigen Flügeln, aber ohne Buchrollen (also noch nicht als Evangelistensymbole).

 

Ezechiel schaut auf dem Thron des Räderwerks die Gestalt eines Menschen in göttlicher Herrlichkeit, von dessen Hüften oberhalb ein Feuerkranz ausgeht, unterhalb ein Feuerglanz, der das Aussehen eines Regenbogens hatte (Ez 1,26-28). Der Jesuit Herbert Schade hat darin das Bild der vollkommenen, geisterfüllten Integration der oberen und der unteren Welt, das heißt von geistiger Agape und sinnlichem Eros (Sexualität) des Adam paradisus oder „Himmlischen Menschen“ (1 Kor 15,49) gesehen. Zur geöffneten Seite des auf dem Kreuzesthron Erhöhten als Anblick der göttlichen Herrlichkeit führt er aus:

 

„Wenn die Sonne am Beginn des astronomischen Jahres, am 21. März, ihren Lauf beginnt, durchstößt sie gleichsam den Fixsternhimmel im Bilde des Widders [vgl. Gen 22,13]. Diesen Stoß durch den Widder hat Moses als Passah-Opfer gefeiert oder als Osterfest (vgl. Ex 12,46). Das Lamm oder das Tierkreiszeichen des Widders wurde durchbohrt, aber es galt – da es im nächsten Jahr wiederkam – als nicht zerstörbar; deshalb durfte man kein Gebein an ihm (bei der Paschamahlfeier) zerbrechen. Seine Wiederkunft am Himmel zeigt die Auferstehung der ganzen Welt im Frühling und das Wiedererwachen des Lebens. Als Vorgang im Weltall war dieses Ereignis auch Symbol einer natürlichen Offenbarung“ (Der „Lanzenstich“. Zum Werk von Klaus Iserlohe, in: Geist und Leben 2/1987, 99-124, hier 114).

 

Von daher wird dann verständlich, warum Ephräm der Syrer in der Herrlichkeitsgestalt auf dem Gottesthron der Ezechielvision schon die Herrlichkeitsgestalt des gekreuzigten Messiaskönigs erkennt, erhöht auf dem Kreuzesthron: „Den Wagen der vier Wesen verließ er [Christus] und stieg herab – und schuf sich das Kreuz als Gefährt nach den vier Weltrichtungen“ (zit. nach Photina Rech, Inbild des Kosmos, Bd. I, 475-546 [Kreuz und Kosmos], hier 490). In der ostkirchlichen Ikonographie wird Christus auf dem Cherubimthron dargestellt; dieser „erinnert an Ezechiel 10,1-22 und damit auch an die Darstellung der vier Wesen im Zusammenhang mit dem Kreuz Christi“ (Holger Kaffka, „Die Schädelstätte wurde zum Paradies“, 1995, 192). „So wie Jahwe sich in der Vision des Ezechiel in Kapitel 1 offenbart, so offenbart er sich auch am Kreuz und in der Kreuzesbotschaft der Evangelien“ (ebd. 71).

 

Anteil der Getauften am unvergänglichen Priestertum Christi

Nach dem Hebräerbrief hat sich Christus, nachdem er mit seinem Kreuzesopfer (dem Blut des Osterlammes) „die Reinigung von den Sünden bewirkt“ hat, sich als wahrer Hohepriester „zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt“ (1,3) beziehungsweise „zur Rechten des  Thrones der Majestät im Himmel …, als Diener des Heiligtums und des wahren Zeltes, das der Herr selbst aufgeschlagen hat, nicht etwa ein Mensch“ (8,1f). Weil Jesus als der siegreich an Ostern Auferstandene „auf ewig bleibt“, hat er auch „ein unvergängliches Priestertum“ (7,23), an dem alle in seiner Nachfolge Anteil erhalten: „Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen“ (Offb 1,5f; vgl. Ex 19,6).

 

Bei der Kreuzigung Jesu verdunkelt sich nicht nur für drei Stunden die Sonne (Mk 15,33), sondern es reißt auch der „Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei“ (Mk 15,38). Das Allerheiligste als innerster Kern des Tempels und des Kosmos, das der amtierende Hohepriester einmal im Jahr am großen Versöhnungstag Jom Kippur unter Lebensgefahr betreten durfte, um den Gottesbund im Blutritus für das Volk zu erneuern und Versöhnung zu erbitten, ist damit ein für allemal zugänglich geworden in seiner wahren, nicht nur schattenhaften Wirklichkeit: „Wir haben also die Zuversicht, Brüder, durch das Blut Jesu in das Heiligtum einzutreten. Er hat uns den neuen und lebendigen Weg erschlossen durch den Vorhang hindurch, das heißt durch sein Fleisch. (…) Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fern bleiben…, sondern ermuntert einander, und das um so mehr, als ihr seht, dass der Tag naht“ (Hebr 10,19f.25).

Klaus W. Hälbig

 

Hinweis: Unter www.kip-tv.de stehen die Sendetermine der Ostersendung 2019 der Magazinreihe „Alpha&Omega“, wo ich Ostern vom siebenarmigen Leuchter her erkläre.

 

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