Gottes Name: Die Versammlung des Seins

Bild: Das Fenster über dem (Ost-)Eingang der ehemaligen jüdischen Synagoge in Hechingen zeigt den Gottesnamen JHWH im feurigen Kranz von 4 x 12 Flammen: „Gott ist verzehrendes Feuer“ (Dtn 4,24; Hebr 12,29). Im Namen Jesus (JHSUH) ist das Schin (= S) eingefügt als Symbol des Feuers des Geistes und der Liebe.

 

Ganz erfüllt vom Heiligen Geist verkündet Petrus nach der Auferstehung Jesu: „Es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4,12), als der Name Jesus = JHWH rettet. Bibel- und Religionswissenschaft aber rätselt seit langem, was dieser Gottesname überhaupt bedeutet, ohne eine befriedigende Lösung zu finden. Dabei läge sie auf der Hand und besser: den zwei Händen.

 

Der Gott des Nordens?

Nach dem Bochumer Alttestamentler Christian Frevel stammt das Tetragramm aus dem Altnordarabischen und bedeutet ursprünglich „Er fährt durch die Lüfte, er weht“, was an die Vorstellung eines „antiken Wettergottes des Baal-Hadad-Typus“ denken lässt. In der alttestamentlichen Wissenschaft sei zudem die Verbindung des Namens JHWH mit dem Gebiet Jahu (östlich des Araba-Grabens) „sehr breit akzeptiert“. Durch die Sinai-Erscheinung JHWHs sei der Name „lange mit dem tiefen Sünden verbunden“ worden. Auf die Frage „Warum legt die Bibel so großen Wert darauf, dass JHWH nicht aus dem Norden kommt?“, antwortet Frevel: „Vielleicht, weil es doch so war?“ Die Herkunft des Namens aus dem Nordstaat Israel sollte möglicherweise verschleiert werden, um eine Nähe zum Südstaat Juda anzudeuten (Welt und Umwelt der Bibel 2/2019, vgl. Simon Lukas, Wer ist der „Ich bin, der ich bin“?, in: Christ in der Gegenwart 22/2019, 239f).

In den alten Kulturen gilt der dunkle Norden im Unterschied zum lichtvollen Süden als Region des Körpers, der Materie und sogar des Bösen, des Teufels als des „Schwarzen“ (so noch bei Hildegard von Bingen). In Kirchen, die wegen der Hoffnung auf die Wiederkunft Christi vom Osten her seit dem 5. Jahrhundert geostet sind, ist der Norden die linke „weibliche“ Seite, der Süden die rechte „männliche“ Seite und der Westen der Bereich des Eingangs, wo man aus dem ‚Meer der Welt’, die ‚vergeht’ (1 Kor 7,31), das rettende ‚Schiff der Kirche’ besteigt. Alttestamentliches Sinnbild der Kirche ist Noahs rettende Arche, hebr. teba, was „Wort“ (Gottes) bedeutet. Mose, der Mann des Wortes, wird als ausgesetztes Kleinkind aus dem rettenden „Binsenkörbchen“ (hebr. teba) gezogen und erhält den Namen Mose: „Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen“ (Ex 2,10).

Gemeint ist damit, dass er nicht der vergänglichen Zeit unterliegt wie der natürliche Mensch, sondern den ewigen oder himmlischen Ursprung er-innert, was die Aufgabe des „Männlichen“ ist (hebr. sachor/sachar bedeutet „erinnern“ und „männlich“). Wo hingegen nur noch „Töchter geboren“ werden, wie vor der Sintflut (Gen 6,1), da geht alles (im Wasser der Zeit) baden, weil  die ‚männliche’ Er-innerung des Seins verloren ist und nicht mehr existiert.

 

Er-innerung des Ursprungs und des Gottes der Väter

Die weiße Taube, die Noah nach der Flut dreimal aussendet und die beim zweiten Mal mit einem frischen Ölzweig im Schnabel zu ihm zurückkehrt (Gen 8,8-12), zeigt demgegenüber, dass bei Noah die Verbindung mit dem himmlischen Ursprung (im Symbol des Taubenschlags) wieder besteht. Öl, hebr. schemen, wie acht, schmonah, ist zudem das Symbol des „achten Tages“, der mit dem „ersten Tag“ zusammen Ursprung versinnbildet; deshalb werden in der Arche acht Personen gerettet mit Noach als „dem achten“ (2 Petr 2,5).

Während Wasser der Gegensatz ist zum Feuer (als Symbol der Ewigkeit), gehören Öl und Feuer zusammen. Mose, dem alttestamentlichen Typos des geist-gesalbten Erlösers, wird der rettende Gottesname daher im brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch offenbart (Ex 3). Gott stellt sich Mose vor als „Ich bin der Ich bin“ (V.14). Die Ältesten Israels soll Mose versammeln und ihnen sagen: „JHWH, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, Isaak und Jakobs, ist mir erschienen“ (V. 16). Er wird Israel aus der 400-jährigen ‚Gefangenschaft’ im ‚Sklavenhaus’ Ägypten herausführen und über weitere 40 Jahre in der Wüste dann ins Gelobte Land einziehen lassen, „in dem Milch und Honig fließen“ (V.17). Dieser „Auszug“ (Exodus) ist bildhaft ein Ortswechsel, eigentlich gemeint ist damit aber ein Seinswechsel. Denn es geht darum, dass Israel wieder durch Gottes Geist Anteil erhält am ewigen Sein des ewigen Gottes.

Der heilige Name JHWH wird nämlich deshalb nicht ausgesprochen, „weil es sich bei diesem Namen eigentlich um eine Konjugation des Begriffs Sein handelt: Er war, er ist und er wird sein. Die Zeit herrscht in diesem Fall nicht über das Sein. Es ist eine Gegenwart, die an keine Zeit gebunden ist. Und darum heißt es: Diesen Namen darfst du nicht aussprechen, denn das Aussprechen würde bedeuten, dass du Ihn an einen bestimmten Zeitpunkt und Ort festnagelst“ (Friedrich Weinreb, Leben in Freiheit, 2017, 18). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder bildlich gesprochen Ägypten (6. Tag), Wüste (7. Tag) und Gelobtes Land (8. Tag/1. Tag) sind im heiligen Gottesnamen eins.

 

Jesus als Zusammenfassung des Alten Testaments

Dasselbe sagt das Neuen Testament von Jesus Christus, denn dieser „ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8). Jesu Leben bedeutet die Zusammenfassung aller alttestamentlichen Vorausbilder der Erlösung, vor allem in seinem Tod am Kreuz am Freitag (6. Tag), seinem Abstieg in das Reich des Todes am Samstag (7. Tag) und österlichen seiner Auferstehung am Morgen des Sonn-tag (8. Tag), „als eben die Sonne aufging“ (Mk 16,2). So sind die „Mysterien“ des Lebens Jesu die Erfüllung des göttlichen Heilsplans „gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3f; Röm 1,2; 16,26), wie umkehrt die Rettung der Acht in der Arche ein Sinnbild der christlichen Taufe ist (1 Petr 3,20f), der befreiende Exodus Israels aus „Ägypten“ unter der Herrschaft des „Pharao“ (= Todesmacht, Teufel) ein Sinnbild der endgültigen Erlösung oder die Opferung des sein Feuerholz ‚wie ein Kreuz’ tragenden Isaak durch Abraham auf dem Berg Mori-jah (= Gott ist mein Lehrer) ein Sinnbild für Kreuz und Auferstehung (Hebr 11,19).

Jesus ist im neuen Testament der neue Adam, neue Noah, neue Abraham, neue Isaak, neue Jakob, neue Josef, neue Mose, neue Josua, neue David, neue Salomo, neue Hiob und der leidende Gottesknecht, um nur die wichtigsten „Typoi“ zu benennen. Nur deshalb und insoweit das Evangelium von Jesus ganz dem sich in den alttestamentlichen Erzählungen offenbarenden ewigen Heilsplan des Schöpfers entspricht und dessen tiefsten Sinn erfüllt (vgl. Eph 3,3-9; Kol 2,25-28), ist es auch heilbringend und welterlösend. Denn der Erlöser ist auch der Schöpfer, wie vor allem Irenäus von Lyon (2. Jh.) bekräftigt hat. Ebenso sagt Joseph Ratzinger noch als Erzbischof von München und Freising: „Der Schöpfer allein ist der wahre Erlöser des Menschen, und nur wen wir dem Schöpfer trauen, sind wir auf dem Weg der Erlösung der Welt, des Menschen und der Dinge“ (Im Anfang schuf Gott, 1986, 35). Maßstab der richtigen Auslegung ist die „Einheit der Bibel“ (15).

Mose wird der Gottesname im Dornbusch (hebr. sne) offenbart, der mit dem ‚Sinai’ zu tun hat, auf den Gott „im Feuer“ herabsteigt (Ex 19,18). Dort erhält Mose als Kern des Bundes die Zehn Gebote auf zwei Tafeln als 5 + 5 (nicht 3 + 7), wie man auf der Außenseite von jüdischen Synagogen sehen kann (z. B. in Heidelberg), aber auch bei jedem Menschen mit seinen zwei Händen und jeweils fünf Fingern (5 + 5). Das vierte Gebot (die Eltern als Repräsentanten Gottes zu ehren) und das 5. Gebot (das Leben als Geschenk Gottes nicht unrechtmäßig zu nehmen) gehören noch zur ersten Tafel der Gottesliebe, während die zweite Gebotstafel der Nächstenliebe mit dem 6. Gebot beginnt: keine fremden Männer und Frauen in der Ein-Ehe zu haben analog zum 1. Gebot, keine fremden Götter neben dem einen JHWH. In den letzten beiden Versen des Dekalogs steht viermal der „Nächste“ (hebr. re’a), das erste Wort ist „Ich bin der Herr“ (Ex 20,2). „Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten sind die Grundlage der Zehn Gebote“ (Till Magnus Steiner, vgl. Mt 22,37-40).

Die Formel 10 = 5 + 5 ist die Übersetzung des Tetragramms in die Zahlenwerte der vier hebräischen Buchstaben, wobei der 3. Buchstabe Waw (ו) als Haken oder Plus-Zeichen zwischen dem ersten und dem zweiten Heh die obere Welt (Himmel) und die untere Welt (Erde) miteinander verbindet. Deshalb erschafft auch der Schöpfer in Gen 1 Himmel und Erde durch Zehn Worte („Und Gott sprach“) und den Menschen als Waw (= 6) am 6. Tag. Die Summe der Zahlenwerte von JHWH, 10-5-6-5, ist 26. Die Braut im „Lied der Lieder“ spricht 26mal ihren königlichen Bräutigam an. „Die Zahl sechsundzwanzig ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH. Damit bestätigt sich die Vermutung: In der Gestalt des Geliebten begegnet der Gott Israels“ (Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied der Liebe, 2015, 165).

 

Offenbarung des Gottesnamen im brennenden Dornbusch

Im ‚Dornbusch-Gespräch’ zwischen Gott und Mose (Ex 3,13-15) mit vier direkten Reden (eine Frage des Mose, drei Antworten Gottes) kommt der Gottesname als Zahl 26 auf verborgene Weise dreimal vor: „Zählt man die Wörter der Frage des Mose und die der zweiten göttlichen Antwort im hebräischen Text, erhält man 26 Wörter; zählt man ferner die Wörter der ersten und der dritten göttlichen Antwort, erhält man wieder 26 Wörter. Die Offenbarung des göttlichen Namens ist so zweifach mit der JHWH zugeordneten Zahl versiegelt. Der jüdische Gott offenbart sich durch das Wort, durch ein Gefüge der 22 hebräischen Buchstaben. Darum setzen sich die beiden letzten Halbsätze ‚Das ist mein Name in Weltzeit, das mein Gedenken, Geschlecht für Geschlecht’ aus 10 + 12 = 22 hebräischen Buchstaben zusammen“ (Rudolf Taschner, Der Zahlen gigantische Schatten, ²2009, 22).

Das gesamte ‚Dornbusch-Gespräch’ besteht aus 253 Buchstaben, was die Summe aller Buchstaben-Zahlen von 1 bis 22 ist; das will sagen, dass „in der Fülle der Buchstaben der Name Gottes verborgen (ist). Wie in einem Echo hören wir so aus den Worten der Bibel die Verkündigung des Pythagoras: Alles ist Zahl“ (ebd. 22f). Mose, dem der Gottesname (= 26) im Dornbusch offenbart wird, ist die 26. Generation nach Adam: Von Adam bis Noah (Bund!) sind es 10 Generationen, von Schem bis Peleg (= Teilen, Spalten) sind es 5 (Gen 10,25), von Regu (Reu) bis Isaak sind es 6 und von Jakob bis Mose wieder 5 Geschlechter.

Die ersten beiden Buchstaben des Namens JH (10-5) bedeuten, dass die Einheit der Zehn in die zwei Fünfen gespalten wird, die dann im „Bund“ wieder vereint werden. Der endgültige Bund im Blut des geopferten Osterlammes wird dann am Kreuz geschlossen durch die Liebeshingabe Jesu = JHWH rettet. Nach Klaus Berger ist „insbesondere das älteste Christentum eine ‚Religion des Namens Jesu Christi’“ (Die Bibelfälscher, 2013, 72f).

Für das Neue Testament ist der Name Jesus „größer als alle Namen“, auch als die Namen der Engel (Phil 2,9; Hebr 1,4). Die Humanisten Giovanni Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin versuchten Ende des 15. Jahrhunderts nachzuweisen, dass durch die Einfügung des vorletzten Buchstabens Schin ש (als Symbol des drei-flammigen Geistes) als 5. Buchstaben in der Mitte in den Gottesnamen JHWH dieser zu JESUH wird, der durch die Inkarnation aussprechbar geworden ist. Nach dem Rabbiner und Begründer der Prophetischen Kabbala, Abraham Abulafja (13. Jh.), ist das Schin (= 300) das „Zeichen des Messias“; den Zahlenwert 300 hat auch der „Geist Gottes“, hebr. Ruach Elohim (200-6-8 1-30-5-10-40 = 300).

Das Glaubensbekenntnis Israels „JHWH echad – Gott ist einer“ (Dtn 6,4), ist in Zahlen 10-5-6-5 1-8-4 = 39 = 3 x 13. Die 13, die die innerweltliche Zwölf (oder die „120“ Jahre als Maximum des Fleisches, Gen 6,3; Dtn 34,7) um 1 übersteigt, ist analog zur 1 (vgl. 13 Uhr = 1 Uhr): Jesus ist im Kreis der Zwölf der Dreizehnte. Der erste Buchstabe Aleph, 1-30-80 = 111, hat ebenfalls dreimal die 1 und ist insofern eine trinitarische Formel. Pico della Mirandola gibt vom Hebräischen her dem Namen Jesu (JSW) nicht nur eine christlich-messianische, sondern auch eine trinitarische Deutung: Jod-Schin-Waw stehen für Vater, Geist und Sohn (vgl. seine 400 + 500 Conclusiones von 1486). Der hl. Ignatius von Loyola wählte für seinen Orden den Namen „Gesellschaft Jesu“ (Societas Jesu) und als Zeichen das IHS-Mogramm in der Strahlensonne mit dem Kreuz über dem griechischen Eta, oft auch noch mit drei Nägeln darunter für die drei Ordensgelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam. Zum Kreuz schreibt der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar: „Das Mysterium des Kreuzes ist die höchste Offenbarung der Trinität“ (vgl. Werner Löser, Gehorsam bis zum Tod, in: IKaZ „Communio“, 2015, 245-257, hier 246).

 

Der Görlitzer Mystiker Jakob Böhme bringt es in seiner Apologia II so auf den Punkt: „Wir Menschen haben allesamt nur ein einziges Buch, das auf Gott hinweist. Jeder hat es in sich. Es ist der teure Name Gottes. Seine Buchstaben sind die Flammen der Liebe, die Gott aus seinem Herzen in dem teuren Namen Jesu in uns geoffenbart hat“ (zit. nach Klaus H. Neuhoff, Die Schrift entziffern: Zahlensymbolik in der Bibel, 2017, 96).

 

Die Zahlenstruktur des Gottesnamens als Mitte des Weltquadrats

Die Kurzform Jah (10-5) bedingt auch, dass der Psalter 150 (= 10 x 15) Psalmen hat und in das große Hallelu-jah einmündet (Ps 150). Im großen Lobgesang von Psalm 136 wiederum wird das Leitmotiv „Denn ewig währt seine Gnade“ 26mal wiederholt.

Der jüdische Exeget Philo von Alexandrien (gest. um 50 n. Chr.), der „den Höhepunkt und zusammenfassenden Abschluss der biblischen und nachbiblischen Weisheitstradition“ darstellt (Peter Schäfer), bezieht in seiner Moses-Vita (II. cap. 114/115) den vierbuchstabigen Gottesnamen JHWH oder das Tetragramm auf das pythagoreische Dreieck: die Tetraktys-Figur (Pyramide von zehn Punkten in vier Reihen: 1 + 2 + 3 + 4) als Sinnbild und Ausdruck einer harmonikalen, sich in Konsonanzen auch musikalisch darstellenden Weltordnung. „Vierbuchstabig ist, so sagt der Gottesforscher [= Moses], der Name; er meint damit vielleicht sinnbildlich die ersten Zahlen eins, zwei, drei und vier, denn alles ist in der Vierheit enthalten: Punkt, Linie, Fläche und Körper, die Maßformen für das ganze All.“ Hat doch der Schöpfer alles „nach Maß, Zahl und Gewicht“ geordnet (Weish 11,20), auch und gerade die Thora als Brautgabe und seinen heiligen Namen selbst.

Das wußten natürlich auch die anderen Völker, die sich der Symbolik der Zahlen bedienten. So findet sich die Formel 10 = 5 + 5 auch schon im alten China als Mitte des Weltquadrats, das aus den ersten neun Zahlen in drei Dreierreihen besteht, so dass die Summe der Zahlenreihen in der Vertikalen, Horizontalen und Diagonalen immer 15 ergibt (4-9-2; 3-5-7; 8-1-6). Die Mitte dieses Quadrats bildet die 5, die wegen der Doppelung von Yin und Yang ebenfalls verdoppelt wird zur 10.

Das Achsenkreuz mit den fünf ungeraden Zahlen (1, 3, 5, 7, 9) stellt die vier Himmelsrichtungen, Elemente usw. dar. So entsprechen einander Osten/Frühling/Holz und die Farbe grün; Süden/Sommer/Feuer und rot; Westen/Herbst/Metall und weiß; Norden/Winter/Wasser und schwarz; der Mitte entspricht das Element Erde, als Himmelsrichtung/Jahreszeit die Übergänge und als Farbe das Gelb, das im alten China dem Kaiser im Zentrum des Landes als Sohn des Himmels vorbehalten war. Der Sinologe Marcel Granet schreibt in seinem Buch Das chinesische Denken (Frankfurt 1985 [Paris 1934], 126): „Die Erde [= Mittelpunkt, = 5 (was der 10 = 5 + 5 entspricht)] nimmt den Mittelpunkt ein, zu dessen Anzeige das Balkenkreuz dient, und mit dem der Platz des Fürsten angegeben ist“ (eckige Klammer im Original).

Ähnlich sagt Abraham Abulafja: „Das im Mittelpunkt stehende Heh setzt alle im Kreis stehenden Buchstaben in Bewegung“, umgeben von den vier Zehnergruppe 1 + 9, 2 + 8, 3 + 7, 4 + 6 (Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken, 2005, Bd. II, 388; zu Abraham Abulafja vgl. 346-360). Ein He (= 5), umgeben von vier Judim (JJJJ = 40), ergibt ebenfalls das Tetragramm; denn die vier Buchstabe ausgeschrieben haben den Zahlenwert 45: Jod, 10-6-4; He, 5-1, Waw, 6-1-6, He, 5-1; ebenso ist der Zahlenwert von Adam 1-4-40 = 45.

Die Zahlenstruktur des hebräischen Gottesnamens 10 = 5 + 5 dient somit im alten China als symbolische Formel für die kreuzförmige Weltmitte (Fünf-Punkte-Kreuz), die durch den Himmelssohn eingenommen und repräsentiert wird, der auch allein in Ausübungen seines ‚Mandats des Himmels’ dem Himmel zur Aufrechterhaltung der Weltharmonie beziehungsweise zur „Vereinigung von Himmel und Erde“ das „Höchste Opfer“ darbringen durfte: „’Gott’ im westlichen Verständnis heißt in China ‚Himmel’. (…) Himmel symbolisiert den Vater, Erde die Mutter. (…) Die Idealvorstellung, dass Himmel, Erde und Menschen eins werden, bedingt eine natürliche kulturelle Weiterentwicklung. (…) Das Menschenleben ist ein Wechselspiel zwischen Himmel und Erde. Diese Dreiheit von Himmel – Erde – Mensch wirkt gemeinsam und stellt die Weltsicht der Chinesen dar.“ „Wer China verstehen will, muss die Philosophie der chinesischen Dreiheit kennen“ (Hu Hsiang-fan, China – Land zwischen Himmel und Erde, 2008, 20f und 16).

 

Die Thronbesteigung des chinesischen Kaisers und das Kreuz Jesu

Diese chinesische Dreiheit ist der christlichen Trinität durchaus vergleichbar, wenn der Inbegriff des Menschen, der Kaiser als Himmelssohn, die Mitte bildet, und wenn die Erde beziehungsweise die geisterfüllte „Gottes-Mutter“ Maria als „neue (Mutter) Erde“ und Urbild der „Mutter Kirche“ sowie der Schöpfergeist als eng zusammenwirkend gesehen werden (vgl. Ps 104,30), ohne beide zu identifizieren. Granet stellt heraus, „dass sich in China keine Spur von der Vorstellung irgendeines Sündenfalls oder einer Erbsünde entdecken lässt“ (301). Freilich gilt auch für China, dass der „untere Körperbereich, der der Erde nahe ist“, vom Yin (Möndin) beherrscht wird.

Vor allem das Johannesevangelium deutet Jesu Selbsterniedrigung in seiner Kreuzigung in paradoxer Weise als „Erhöhung“ über die Erde (Joh 3,14; 12,32), das heißt als Thronbesteigung des Königs Messias. Zugleich wird der Gekreuzigte als das wahre geopferte Paschlamm (Joh 1,29; 19,36; Ex 12,46) und als der wahre Hohepriester gesehen, dessen Gewand „von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war“ (Joh 19,23). Im alten China hieß Thronbesteigung: „’zum First emporsteigen’ (teng chi)“. Chi, der Firstbalken, ist aber auch das Wort für ‚Vollkommenheit’, wofür wiederum das Wort Tao gebraucht wird (Granet, Chinesische Denken, 243 und 245). „Der Himmel besteht aus seinem First (es ist dies der Palast der Mitte, der Palast der Höchsten Einheit…) (213).“ Palast und Tempel sind hier identisch wie König/Kaiser und Hohepriester; auch das biblische Paradies ist als parkähnlicher Garten des königlichen Palasts gemeint.

Die Benediktinerin Photina Rech, eine Schülerin Odo Casels, greift den Zusammenhang zwischen dem „kosmischen Pfeiler“ oder dem „großen Balken“ (t‘ai chi), der von der Erde und Unterwelt bis zum Himmel reicht, und der Thronbesteigung als Aufstieg zum Palast der Höchsten Einheit in der Mitte ebenfalls auf: „Dem Herrscher wird der Rat gegeben, nur das aufzustellen, ‚was Mitte hat‘; so wird er sein Volk in der Mitte und damit in Glück und Harmonie bewahren. Ja, er selbst, der Herrscher, der Kaiser, ist für das Reich der leibhafte Repräsentant von Mitte und Höhe zugleich. ‚Vereinigt euch um den, der den Firstbalken hat!‘, hieß im alten China die Lebensnorm der Untertanen. Wie man den zum Führer wählte, der als erster die Spitze des Pfostens in der Mitte der Ming t‘ang erklettert hatte, so war noch später der Ausdruck für die Thronbesteigung – teng chi – gleichbedeutend mit ‚den Firstbalken besteigen‘“ (Inbild des Kosmos, 1966, Bd. I, 499 und 522).

Zwischen der Thronbesteigung des Kaisers als ‚Sohn des Himmels‘ und der Kreuzigung als Thronbesteigung dessen, der vom Himmel her als ‚Sohn Gottes‘ ausgewiesen ist (Mk 1,11), besteht damit eine so klare Analogie, dass Photina Rech im Ganzen zu der Formulierung findet: „Schon ein kurzer Einblick in die Fülle bedeutsamer Zusammenhänge kann ein Christenherz erregen, ja erschüttern. Von überallher blickt ihm aus dem Antlitz der Welt und aus der Ahnung der Völker das Kreuz entgegen. Es offenbart sich überwältigend als Ursymbol und universales Gemeingut der Menschheit. Wenn von irgendeinem Symbol, so darf man vom Kreuze sagen, dass es zu den ‚Archetypen menschlichen Gottsuchens‘ gehörte, bis sich der ewige Sinn dieses Urzeichens im Kreuze des Welterlösers erschloss“ (487).

 

Die Mitte des Kreuzes als fünfter Punkt oder Quint-essenz

Ohne hier weiter die kosmische Bedeutung des christlichen Erlösungszeichens auszuführen, so ist doch festzuhalten, dass das Kreuz im Schnittpunkt oder 5. Punkt besonders die Mitte betont, personal im geöffneten Herzen des Erlösers, aus dem mit „Wasser“ (Taufe) und „Blut“ (Eucharistie) die sakramentalen Heilszeichen entströmen, die zusammen mit dem Schöpfergeist (1 Joh 5,6-8) die Kirche als neue (erlöste) Schöpfung begründen. Die fünf Wundmale des Gekreuzigten im Verhältnis 1 (Herz) zu 4 (Hände und Füße; vgl. die fünf roten Wachsstifte der Osterkerze) symbolisieren den Bund von Gott (1) und Welt (4) im fünften Punkt (Quint-essenz). Das „fünfte Reich“ ist nach den vier Weltreichen das ewige Reich des „Menschensohnes“, der „mit den Wolken des Himmels“ kommt (Dan 7,13-27).

Aus buddhistischer Perspektive schreibt der Psychologe Klaus Antons-Volmerg in seinem Buch Von der Vier zur Fünf (1995): Der „Sprung von der Vier zur Fünf“ ist „Herausspringen aus der Einengung und eine Transzendierung in eine neue Dimension“. Der Weg von der Vier zur Fünf „symbolisiert einen Wechsel im Grundansatz, im Paradigma des Denkens“. Im Buddhismus steht gerade der „fünfte Buddha“ für „Synthese und Transzendenz“, ein „Transzendieren Ich-bezogener Haltungen“. Der Weg führt dabei über die in den vier Elementen symbolisierte ‚Verwandlung‘ der Libido oder Triebnatur. Der fünfte Buddha ist die ‚Weisheit in ihrer vollkommenen Gestalt und endgültigen Verwirklichung‘ oder der Ur-Buddha Vairocana/ Der Sonnengleiche: ‚Herr über allen Kosmos‘ (60f; 76; 85).

Ähnlich äußert sich auch Gabriele Seitz über „Die Fünf Transzendenten Buddhas“: „Unter universellem Aspekt sind vier von ihnen den Himmelsrichtungen zugeordnet, der fünfte Buddha nimmt das Zentrum ein. Er repräsentiert die Vollkommene Weisheit, die vier Buddhas der Richtungen verkörpern die Einzelaspekte der Vollkommenen Weisheit.“ Buddhas haben ihre Entsprechung in den fünf Chakren, die in den Sexualorganen, dem Nabel,  dem Herzen und dem Hals (Luftröhre) lokalisiert sind; das fünfte „außerphysische“ Chakra befindet sich „über dem Scheitel, ‚Lotus der Scheitelerhebung‘ (Skrt. Ushnisha Kamala)“ genannt (Die Bildsprache des Buddhismus, 2006, 174-179, 114, 204).

 

Die Offenbarung des Gottesnamens im Dornbusch des Kreuzes

Im Johannesevangelium sagt Jesus in Anspielung auf den Himmelsleitertraum Jakobs, dass die Jünger den Himmel über ihnen offen und „die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (Joh 1,51). Diese (außerphysische) Himmelsöffnung geschieht am Kreuz als sicherer „Leiter, darauf man steigt zum Leben, das Gott will ewig geben“ (Gotteslob 294.4). „Die Seite [Jesu], die geöffnet war, zeigt sich als Himmelspforte dar“ (GL 337.4; vgl. Gen 28,17). In diesem Sinn ist der Gekreuzigte bei Johannes die Verkörperung des Gottesnamens oder der absolute „Ich bin“ (Joh 17,24; 18,5.8), was sich schon in den sieben Ich-bin-Bildworten ankündigt. Seinen Höhepunkt findet die biblische Offenbarung des göttlichen Namens „Ich bin“ im „brennenden Dornbusch“ des Kreuzes, wie Benedikt XVI. sagt (Jesus von Nazareth, 2007, Bd. I, 401).

Sturmius M. Wittschier spricht von der johanneischen Konzentration der christlichen Botschaft auf die „Stunde“ des Todes Christi als des einen „Kreuzes-Augenblicks“ der „Zusammenschau“: „In dem konkreten ‚einen ›Bild‹ des Erhöhten‘ am Kreuz ist das ganze Christus-Geschehen versammelt und präsent; von der einen ‚Stunde‘ oder dem ‚Jetzt‘ des Todes kann das Heilswerk in seiner ‚Ganzheit‘ gesehen werden. Und von diesem Zentrum her und auf dieses hin sind dementsprechend alle johanneischen Aussagen und Bilder zu lesen.“ „Jesus, der ICH BIN, erscheint als die zusammenfassende und grundlegende Mitte aller menschlichen Ich-bin- und damit aller Seins-Erfahrung“ (Kreuz Trinität Analogie, 1987, 255 und 265).

Der lange in China lebende französische Paläontologe und Jesuit Pierre Teilhard de Chardin versteht das geöffnete Herz Jesu als das „Flammenzentrum des Universums“ (Die Messe über die Welt), chinesisch gewendet: das Flammenzentrum des Welt-Quadrats. Denn in seinem (hohepriesterlichen) Opfertod am Kreuz und in seinem Blut als Osterlamm hat Jesus „Frieden“ (Harmonie, Vollkommenheit) und Einheit gestiftet zwischen den kosmischen Gegensätzen des Unsichtbaren und des Sichtbaren, von Himmel und Erde, Geist und Materie (Kol 1,16.20), das heißt auch zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen im kosmischen Symbol von Sonne (Yang) und Mond (Yin), die auf Darstellungen häufig das Kreuz flankieren.

Vergöttlichung und Vermählung mit Gott durch den Geist der Liebe

 

Mit den sakramentalen Zeichen von Blut und Wasser aus dem geöffneten Herzen haucht Jesus auch seinen Geist aus, wörtlich: er ‚überliefert’ ihn (Joh 19,30) in seiner liebenden Selbst-Hingabe als himmlischer Bräutigam seiner Kirche (Eph 5,25-32), die im Bundesblut des Opferlammes ihre heilige Morgengabe als geliebte Braut empfängt. Durch den Geist ereignet sich die ‚Vergöttlichung’ des Menschen und der Welt als Verähnlichung und Einung mit Gott aus Liebe. Einer der bedeutendsten Lehrer des mystischen Weges, der Spanier Johannes vom Kreuz,

 

In seinem um 1584 entstandenen Gedicht Die lebendige Liebesflamme besingt er den Heiligen Geist als Geist des Bräutigams der Seele und als die „sanfte Glut“, der durch seine zarte Berührung einen „Geschmack ewigen Lebens“ schenkt und alle Schuld tilgt: „Du tötest, wandelst so den Tod zum Leben.“ Ohne mystischen Feuer- oder Verwandlungs-Tod im Sinn eines grundlegenden Bewusstseinswandels gibt es für den Doctor mysticus keine Erfüllung. Johannes vom Kreuz bemerkt zum mystischen Weg:

 

„Was Gott beansprucht, ist, uns zu Göttern durch Teilhabe zu machen, wie Er es von Natur aus ist, so wie das Feuer alle Dinge in Feuer verwandelt.“ „Das Handeln des Heiligen Geistes in der in Liebe gleichgestalteten Seele besteht darin, dass Er sie durch innere Wirkungen entflammt, so dass der Wille der Seele, in einer einzigen Liebe mit jener Flamme innig verbunden, in höchster Stufe liebt.“ Die Seele wird aufgefordert: „Vollziehe nun vollends in aller Vollkommenheit die geistliche Vermählung mit mir durch beseligende Schau; denn sie ist es, um die der Mensch hier bittet“ (Die lebendige Flamme, 1964).

 

Bevor Mose im brennend nicht verbrennenden Dornbusch dem Gott des Feuer begegnen kann, muss er seine Schuhe ausziehen, das heißt das Leder aus Tierhaut, mit dem er den Staub der Erde berührt, „denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5), und das Feuer, das brennt, ist das Feuer vom Himmel. Der Jesuit Michael Schneider fasst das Wirken des Heiligen Geistes so zusammen:

 

„‚Das unsagbare und wunderbare Feuer, das im Wesen der Dinge wie in einem Dornbusch verborgen ist‘, sagt Maximus Confessor, ‚ist das Feuer der göttlichen Liebe und der strahlende Glanz seiner Schönheit im Innern aller Dinge.‘ Der Heilige Geist baut die Schöpfung zu einem ‚Tempel‘ auf, der von der Schönheit Gottes Zeugnis ablegt. Alle Werke Gottes enden in der Präsenz des Heiligen Geistes, in ihm kommt das Werk des dreieinen Gottes zum Ziel. Durch das Wirken des Heiligen Geistes bleibt der Schöpfer in seiner Schöpfung gegenwärtig und erneuert das Antlitz der Erde. Das in Christus befreite und erlöste Leben der Neuschöpfung ist bleibend vom Wirken des Heiligen Geistes getragen. Er schenkt dem Glaubenden das Licht der neuen Schöpfung (2 Kor 4,6) und gewährt Anteil an der Auferstehung (1 Kor 12; 1 Kor 14; Röm 12,3ff.), vor allem aber macht er den Menschen leibhaftig zu einem ‚Tempel des Heiligen Geistes‘ (1 Kor 6,13-20)“ (Das Wirken des Heiligen Geistes und der Dienst des Priesters in der Byzantinischen Liturgie, in: George Augustin u.a. [Hg.], Priester und Liturgie, 2005, 93-116, hier 113).

 

Die Liturgie als Sammlung des Seins im Wort

 

Der Geist der Wahrheit und vom himmlischen Vater gesandte Beistand, der Zeugnis für Jesus ablegt und die heilige Kirche als Gebetshaus für alle Völker erbaut, wird die Gläubigen „alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26). Dieses Er-innern ist ein Vergegenwärtigen des göttlichen Ursprungs, der sich im geöffneten Herzen Jesu als Realsymbol seiner Liebe zu den Menschen und zur Welt (vgl. Joh 3,16) zeigt. Sehr schön fasst der Religionsphilosoph Ferdinand Ulrich diese Er-innerung als Wiederherstellung des Bundes zusammen:

 

„Die jüdische Überlieferung verbindet den Sinn des Mannes mit der ‚Erinnerung‘. Er ‚freit‘, ist Befreier durch die Erinnerung zum Ursprung, den Akt der Sammlung ins Wort. Er eint die sinnenhafte Vielfalt und Mannigfaltigkeit der leibhaftig erscheinenden Welt (Dimension des Weiblichen, Materiellen; des Leibes im Symbol der raumzeitlichen ‚4‘) zu ‚1‘ des Wesens. Im Symbol der 1:4 (40, 400) wird der ‚Bund‘ ausgetragen. Ehe als Bund repräsentiert als Einheit von Mann und Frau die Versöhnungsgestalt von ‚Wesen und Erscheinung‘, ‚Geist und Leib‘, ‚Wort und Bild‘, ‚Sein und Seiendem‘ ...“ (Gegenwart der Freiheit, 1974, 15f).

Der Akt der Sammlung ins letzte Wort (Joh 19,30: „Es ist vollbracht“) deutet an, dass hier der fleischgewordene Schöpferlogos das Werk der Schöpfung für immer vollendet und den Gottesnamen vollkommen heiligt, indem er die zwei Seiten (Vertikale und Horizontale, Geist und Materie, Seele und Leib) in eins zusammenfügt, was der ersten Bitte des Vaterunser entspricht (Mt 6,9). Wenn der Gekreuzigte dem mitgekreuzigten reumütigen Schächer im „Heute“ das Paradies verheißt (Lk 23,43), dann meint diese Zeitangabe das liturgische „Heute“ (vgl. Ex 13,4). Nach dem Liturgiewissenschaftler Michael Kunzler gilt für die Gläubigen, „kraft der Anamnese in der Liturgie an den Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit zu gelangen. Dort wird er wahrhaft Zeitgenosse der biblischen Ereignisse von der Erschaffung der Welt bis zu ihrer endzeitlichen Vollendung“ (Die Liturgie der Kirche, 1995, 110-114: Anamnesis: Die liturgische Gegenwart, hier 113). Und zuvor schreibt er:

„Gottes ‚Ewigkeit‘ ist weder vor noch nach der Zeit, sondern der Einbruch des göttlichen Jetzt in den Lauf der geschaffenen Zeit. So bezieht die Liturgie ihre Heilsmacht von dem katabatischen, sich von Gott her ereignenden Jetzt seiner rettenden Gegenwart. Das ‚in illo tempore‘ in der Verkündigung des Evangeliums ist keine historische Erinnerung an ein Vergangenes, es hat die Macht, ‚die Zeit zu öffnen und sich in jedem Augenblick als der wahre Inhalt aller Augenblicke gegenwärtig zu setzen‘“ (ebd. 110f).

Durch seine Ankunft im Fleisch ermöglicht der Schöpferlogos die Liturgie von Himmel und Erde und feiert sie „als der Einsammler des Seins aller Geschöpfe in die große Seinssammlung Gottes“: „Gerade so ist Christus der Logos, der gottmenschliche Einsammler des Daseins aller Welt und der Kommunikator ewigen Lebens, und nicht nur ein neues Wort neben vielen anderen Worten und Botschaften von Religionsstiftern, deren wirklicher Neuigkeitswert immer wieder in Frage gestellt werden kann“ (Michael Kunzler, „Durch Christus, unseren Herrn“ – oder: Die Logik des Logos, in: George Augustin u.a. [Hg.], Priester und Liturgie, 2005, 229-264, hier 233f).

Diese Seinssammlung geschieht aber konkret im ‚Opfer’ als ana-phora, das heißt als Nach-oben-Bringen des Körpers (hebr. korban = Gott näher bringen): „Der Gekreuzigte vollzieht ein ‚Hinaufschenken‘ (Ανά-φορα) menschlicher Seinsammlung, ein kultisches Opfer seiner angenommenen Menschennatur, im vollkommenen Vertrauen, durch dieses Sichselbstverschenken in den göttlichen Kult hinein sich wiederzufinden in der vollkommenen Seinshabe Gottes; sein Menschsein soll ‚hinaufgebracht‘ (άναφέρειν) werden in das göttliche Leben, ohne aufzuhören, Menschennatur zu sein (…) Nur so gilt das Opfer einem Gott des Lebens; nur so wird Gott geehrt, dessen Ehre darin besteht, dass die Menschen das Leben haben. Irdisches und Himmlisches werden durch Christus verbunden, ebenso wie in ihm selbst Gottheit und Menschheit unvermischt und ungetrennt vereint sind, ohne sich gegenseitig aufzuheben und damit zu zerstören. So stellt sich das gesamte Christusereignis – Kulminationspunkt des Heraustretens Gottes aus sich selbst und Höhepunkt der Heilsökonomie, auf den alles zulief – als Verklärung dar, als Erhöhung der Menschennatur durch ihre Einführung in den innertrinitarischen Kult und durch ihre schonende Anbauung in der δόξα der göttlichen Seinshabe, die als vollendete Seinsbejahung immer schon Fest, himmlische Liturgie ist“ (Porta Orientalis. Fünf Ost-West-Versuche über Theologie und Ästhetik der Liturgie, 1993, 210f; der im Kult eröffnete ‚Raum der Kommunikation‘ Gottes wird mit dem ‚Namen Gottes‘ (JHWH) als der ‚Ich bin‘ identifiziert, vgl. ebd. 48f).

 

Der Logos als Sprache und Haus des Seins bei Martin Heidegger

 

Wie also „der ur-christliche Logos ‚der-alles-Sammelnde’ und somit viel persönlicher und realer, als der Logos des Heraklit und Parmenides ist!“, so versteht auch der Philosoph Martin Heidegger den Logos als Seinsammlung (George Remete, Martin Heidegger – Zwischen Phänomenologie und Theologie, 2014, 31; vgl. 27f). Heidegger denkt das Wesen der Sprache vom Logos her nicht aus der Entsprechung zum Wesen des Menschen als Einheit von Leib-Seele-Geist, sondern „aus der Entsprechung zum Sein und zwar als diese Entsprechung“: „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins“, wie er in seinem programmatischen „Brief über den ‚Humanismus’“ klarstellt (Bern 1947, 78f und 90). Als ‚Herr des Seienden’ geriert sich der Mensch hingegen da, wo er nicht mehr auf den Anspruch und Zuspruch des Seins hört.

 

‚Hirt’ ist lat. pastor, also dann auch Priester oder Bischof; biblisch ist der Mensch Hörer und dann auch Diener des Wortes Gottes (Apg 6,4). Nach Heidegger kann das Wort ‚Gott’ aber erst aus der Wahrheit des Seins, des Heiligen und der Gottheit gedacht werden. „Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort ‚Gott’ nennen soll“ (102). Positiv zitiert er den Spruch des Heraklit (Fragm. 119) zum „Ethos“ als Ort des Wohnens, der Gewohnheit oder Sitte: „Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes“ (106).

 

Nichts anderes sagt Paulus, wenn er vom ‚Himmel’ als „Haus“, „Heimat“ und Nähe zum Herrn spricht (Phil 3,20; 4,5). Dieses ‚Haus’ ist nicht einfach da, sondern baut sich im geisterfüllten Sprachvollzug der österlichen Hoffnung als ‚Haus des Gebets’ für alle Völker selbst (1 Kor 3,10). Heidegger erklärt: „Das Denken baut am Haus des Seins“ – als „Andenken an das Sein“ oder als ‚Andacht’ (111). Das Sein steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern wendet sich ihm zu, wenn dieser des Seins gedenkt; denn „der Mensch ist in seinem Wesen das ‚Gedächtnis‘ des Seins“ (vgl. Wolfgang M. Schröder, Politik des Schonens. Heideggers Geviert-Konzept, politisch ausgelegt, 2004, 30).

 

Das Sein aber ist für Heidegger nur noch in der Weise „kreuzweiser Durchstreichung“ zu schreiben: „Ein Negatives soll durch die ‚kreuzweise Durchstreichung‘ und ein Positives durch die ‚Durchkreuzung‘ des Wortes ‚Sein‘ optisch zum Ausdruck gebracht werden.“ Die Durchkreuzung ist kein bloß negatives Zeichen, sondern zeigt Heidegger zufolge „in die vier Gegenden des Gevierts und deren Versammlung im Ort der Durchkreuzung“, also der Kreuz-Mitte (ebd. 29f).

 

Heideggers „mystisch-mythoide“ Rede vom Welt-Gefüge als „Geviert“ von Himmel und Erde, Unsterblichen (Engeln) und Sterblichen (Menschen), verweist in den Zusammenhang von Sprache beziehungsweise Logos, „Rede (Mythos) und Vision (Mystik)“; die Welt ist danach das „ereignende Spiegel-Spiel“ der Einfalt der vier „Weltgegenden“: „Das ‚Spiegel-Spiel‘ verbindet die (statische) Struktur der Vierung mit der (dynamischen) Struktur des Ringens der Vier zu einem zugleich in sich gerundeten und offen-freien (nicht grundsätzlich in sich verschlossenen) Ineinander der welt(-spiel)konstituierenden Momente. Man sieht: in das Geviert-Konzept sind die beiden geläufigsten mythisch-archaischen  Vollkommenheitssymbole: Vierzahl und Kreis (Ring), eingearbeitet“ (ebd. 22f).

 

Der Philosoph Wolfgang Schröder verweist zur Vierzahl auf die kosmische Welt-Zahl und Anklänge an „alte jüdisch-christliche Vorstellungen von der sakralen Bedeutung der Zahl Vier und ihrem archetypischen Symbolcharakter in Bezug auf das Heilige“ (33). Aber nicht die Vierzahl ist das Heilige und Wesentliche, sondern die Eins als Mitte der Vier. Auch nach Heidegger wird die ‚weltende‘ Welt weder aus den vier Ursachen des Aristoteles erklärt (Kausal- und Finalursache, Material- und Formalursache), noch kann sie auf die vereinzelten vier Wirklichkeitsmomente zurückgeführt werden. Vielmehr kommt das „Seyn“ der Welt als ein Gefüge wechselseitiger Zugehörigkeit und Zuneigung zur Sprache, wofür Heidegger auch mit Friedrich Hölderlin das Bild der Hochzeit verwendet:

 

„… die Hochzeit von Himmel und Erde, da die Menschen und ‚irgend ein Geist‘, d.h. ein Gott, gemeinschaftlicher die Schönheit auf der Erde wohnen lassen. Die Schönheit ist das reine Scheinen der Unverborgenheit des ganzen unendlichen Verhältnisses samt der Mitte. Die Mitte aber ist als das mittelnd Fügende und Verfügende. Sie ist die in ihr Erscheinen sparende Fuge des Verhältnisses der Vier“ (ebd. 39; zur Mitte als „Versammlung“, ahd. thing, Ding, als Übersetzung von lat. res und ‚Realität‘, vgl. ebd. 41-43).

 

Die Mitte ist für Heidegger „weder die Erde, noch der Himmel, weder der Gott, noch der Mensch“, sondern die Sprache oder das Wort (Logos), das die Dinge benennt und durch das alles ins dynamische (geisterfüllte) Zusammenspiel einer lebendigen Kommunikation zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch kommt: Das Wort ist so „Born des Seins“ und die Sprache „Haus des Seins“ (ebd. 43f).

 

 

Der wahre Operkult als Einheitspunkt der Kulturen und Religionen

Wo die Kirche das Wort Gottes in der Heiligen Schrift im Heiligen Geist in rechter Weise versteht und in der heiligen Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9) ganzheitlich im Glauben und in der Liebe aufnimmt, da ist sie selbst als ‚Haus Gottes’ und (Tauf-)Born des neuen Lebens auch das „Haus des Seins“ im Zeichen des Kreuzes.

 

Jesu Kreuz wiederum wird Joseph Ratzinger zufolge im Gegensatz zu Adams Ungehorsam zur „Stätte seines Gehorsams“ bis zum Tod (Phil 2,8) aus Liebe und damit „zum wahren Lebensbaum. Christus wird zum Gegenbild der Schlange, wie Johannes in seinem Evangelium es sagt (Joh 3,14). Von diesem Baum her kommt nicht das Wort der Verführung, sondern das Wort der rettenden Liebe, das Wort des Gehorsams, in dem Gott selbst gehorsam geworden ist, und uns so seinen Gehorsam als Raum der Freiheit anbietet. Das Kreuz ist der wieder zugänglich gewordene Lebensbaum“ des Paradieses (Im Anfang schuf Gott, 58).

Das Paradies aber besteht als Wohnort der Gottesnähe im gehorsamen Hören auf den Anspruch und Zuspruch des Seins. Es ist so Sinnbild der Kirche, die in jeder kosmischen Eucharistie das Hochzeitsmahl der Liebe feiert, das Jesu vollkommenes „Ganzbrandopfer“ am Kreuz des Lebens und Geviert der Welt vergegenwärtigt.Dieses Liebesopfer ist der Ziel- und Brennpunkt der christlichen Offenbarung und so auch die Vollendung der Schöpfung. Denn, so noch einmal Joseph Ratzinger, „in allen Kulturen laufen die Schöpfungsberichte darauf hinaus, dass die Welt da sei für den Kult, für die Verherrlichung Gottes. Diese Einheit der Kulturen in den tiefsten Fragen des Menschseins ist etwas sehr Kostbares“ (Ratzinger, Im Anfang schuf Gott, 28).

Wenn das christliche Kultmysterium des Kreuzes nach dem Chefredakteur von „Christ in der Gegenwart“, Johannes Röser, in keiner Weise „dem jüdischen Kultopferpriestertum oder gar dem heidnischen Opferpriestertum auch nur in einer gewissen Ähnlichkeit“ entspricht (CiG 22/2019, 254), dann ist dieses kultferne Verständnis des Kreuzes nur möglich, wenn man sich vom gemeinsamen „Urwissen der Menschen“ abgeschnitten hat (ebd.).

Dann wird man aber auch nur noch schwerlich das Christentum als die universale Weltreligion für alle Menschen (Mt 28,19) begreifen können. Denn: „Der Opferkult bildet das lebendige Zentrum jeder Religion. ‚Das Wesen und die Natur der Religion enthüllt die Notwendigkeit des Opfers. … Und wenn man die Opfer entfernt, kann eine Religion weder sein noch gedacht werden’ [Papst Leo XIII.]“ (Uwe Lay, Der zensierte Gott, 2016, 193-232).

Augustinus formuliert es im Rückblick auf seinen eigenen Weg zum christlichen Glauben so: „Denn die Sache selbst, die jetzt unter dem Namen der christlichen Religion verkündet wird, gab es schon bei den Alten. Seit Beginn des Menschengeschlechtes hat sie nicht gefehlt, bis Christus selbst im Fleische erschien. Von da begann man, die wahre Religion, die schon war, christlich zu nennen“ (Retractationes I, XIII, 3).

Das „Haften“ am großen Namen JHWH als Baum des Lebens

 

Die Einbeziehung der Völker mit ihren Opferreligionen in den Gottesbund bedeutet nicht eine Aufhebung der besonderen heilsgeschichtlichen Rolle Israels als Gottesvolk des Bundes und des Tempels. Weil Israel durch den Bundesschluss immer schon in der Nähe Gottes ist, während die Christen aus dem Heidentum, das heißt aus der Gottferne oder der gefallenen ‚Welt’, erst noch durch die Taufe in diese Nähe kommen müssen, sagt der Epheserbrief den neu Getauften:

 

„Damals [vor eurer Taufe und eurer Bekehrung/Umkehr] wart ihr von Christus getrennt, der Gemeinde Israels fremd und von dem Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt“ (2,12) – „von den Begierden unseres Fleisches beherrscht. Wir folgten dem, was das Fleisch und der böse Sinn uns eingaben…“ (2,3). „Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigt die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder“ (2,13f) – auch zwischen Seele und Körper (vgl. Gen 3,15).

 

Dasselbe erwartete auch der Rabbiner der Stadt Scharigrod und Anhänger des Bescht (Ba’al Schem Tov), Ja’akov Josef aus Polonnoje (gest. 1782), von den jüdischen Weisen beziehungsweise von Israel als von Gott auserwähltes Volk des Bundes, wobei er das Modell von Seele und Körper auf Israel und die (Heiden-)Völker überträgt: „Der Mensch ist aus Materie und Form erschaffen und sie sind zwei Gegensätze. Denn die Materie strebt hartnäckig nach der körperlichen Materie, das sind die Schalen (Klippot), und die Form hat Verlangen und Begehren nach den spirituellen Dingen. Das Ziel der Erschaffung des Menschen ist es aber, dass er aus der Materie Form macht, so dass er zu einer Einheit wird und nicht getrennte Dinge tut. (…) Und Israel muss den Fluxus für alle siebzig Völker [der Erde] herbeiziehen. (…) Und weil die siebzig Völkerengel ihren Fluxus durch Israel empfangen, werden sie der heiligen Hand unterworfen, und die Materie wird unter die Form gebeugt, dann leuchten alle Zweige.“

 

„Dann sind sie Volk Israel und haften an Seinem großen Namen, welcher jener Baum ist, der Baum des Lebens, von dem der Fluxus allen zuströmt. Dann sind die Israeliten auf der oberen Stufe, über der Natur (…) und Israel und die Völker sind in einer einzigen Gestalt umfangen, in einem vollkommenen Menschen, die einen als Materie, das heißt als das Fleisch des Menschen, und die anderen als der innere Mensch, als Form für die Materie. Und dies ist der ausgezeichnete Mensch, das heißt, weil die Materie und die Form vereint sind, indem die Materie der Form unterworfen ist, und dies ist das Ziel der Erschaffung der Welt“ (zit. nach Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. II, 862f; vgl. 860).

 

Christlich ist aber der paradiesische Baum des Lebens, wie gesehen, nichts anderes als das Kreuz mit der Eucharistie als seiner Frucht, die ewiges Leben schenkt (vgl. Off 2,7; 22,14). Dadurch können nicht nur die Juden, sondern auch die Christen „zum vollkommenen Menschen werden“, das heißt Christus, den fleischgewordenen Logos oder Namen Gottes, „in seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph 4,13).

 

Klaus W. Hälbig 

 

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