Bild: Die evangelische City-Kirche Heidelberg hat sich neuen Gottesdienstformen verschrieben, bei denen Körper, „Tanz“ und neue Musik eine wesentliche Rolle spielen. Beim Tanz-Gottesdienst mit dem Dance Theatre Heidelberg am 14. Juli 2010 tanzten sechs Frauen und fünf Männer das Tanzstück „Becoming“ (Werden) von Iván Pérez; der Pfarrer der Heiliggeist-Kirche, Vincenzo Petracca, predigte zur „Werden“ der Schöpfung nach Genesis 1. „Gott, schau auf unseren Tanz“, wurde vom Ambo verkündet. Wer aber hat überhaupt getanzt?
Im Jahr 2017 sind die ohnehin hohen Kirchenaustrittszahlen noch einmal gestiegen: 220.000 Getaufte aus der evangelischen (plus 11 Prozent), 216.000 aus der katholischen (plus 29 Prozent) haben ihrer Kirche den Rücken gekehrt, zusammen fast die Zahl der Einwohnerzahl im Großraum Mannheim-Heidelberg. Die evangelische City-Kirche Heidelberg versucht dem Trend durch außergewöhnliche Gottesdienstformen zu begegnen. Hilft Tanzen statt Beten? Wer singt, betet doppelt, heißt es. Gilt dies auch fürs Tanzen?
Die Kirche als profane Spielwiese
Um die Abwanderungskrise und den Schwund an Gläubigen irgendwie zu mildern, denken Kirchenverantwortliche vermehrt darüber nach, „niederschwellige“ Angebote für Jugendliche oder Fernstehende zu machen, die von der „hochschwelligen“ Hochkultur der feierlichen Liturgie und Kirchenmusik nicht mehr erreicht werden (vgl. Stefan Klöckner, Von niederschwelligen Angeboten, in: HerKorr 3/2019, 44-46).
In der Kathedrale im südenglischen Rochester, die ins 7. Jahrhundert zurückgeht, wurde 2019 im Mittelschiff eine Neun-Loch-Minigolf-Anlage aufgestellt, um die Golfspieler dazu zu animieren, mittels der vielen kleinen Modellbrücken „über jene Brücken nachzudenken, die es in ihrem eigenen Leben und der heutigen Welt zu bauen gilt“. Die Kathedrale von Norwich hat eine 15 Meter hohe, spiralförmig-bunte Jahrmarktrutsche („Helter Skleter“) in den 800 Jahre alten romanischen Kirchenraum gerückt, wo man bei einer Rutschpartie (für 2,20 €) einzigartige Raumerlebnisse und neue Perspektiven erhalten soll.
Noch toller treibt es die Stuttgarter Kirchengemeinde St. Maria, wo 2017 nur noch rund fünfzig Gläubige den Sonntagsgottesdienst regelmäßig besuchten. Da sich für eine so kleine Zahl die notwendige teure Sanierung nicht lohnt, wurde das Konzept entwickelt, Menschen aus der Stadt bestimmen zu lassen, was mit der Kirche geschehen soll: „Wir haben eine Kirche – haben Sie eine Idee?“ – lautete der Slogan. Aus der Kirche wurden alle Bänke entfernt, und eine Idee nach der anderen durfte ab Mai 2017 bei insgesamt 64 Veranstaltungen ohne bestimmte Vorgaben in die Tat umgesetzt werden, so beispielsweise ein Picknick, eine „Silent Disco“ (Tanzen mit Kopfhörer), eine Trampolinhalle, DJ-Workshops, Theatervorstellungen oder eine Kleiderkammer für Bedürftige.
Im Oktober 2018 wurden aufgrund von interner Kritik die „Spielregeln“ dann etwas angepasst: In der Kirche sollte nicht mehr Bier getrunken und auch nicht mehr getanzt werden. Federführend für den „Kirchenentwicklungsprozess“ war der Pastoralreferent Andréas Hofstetter-Straka, beraten vom Tübinger Pastoraltheologen Michael Schüßler. Letzterer fordert, die Unterscheidung von sakralen und weltlichen Räumen aufzubrechen: „Wenn Friseure in der Kirche Obdachlosen kostenlos die Haare schneiden, dann ist das genauso heilig wie die Messfeier am Sonntag.“
Was macht die Heiligkeit aus: dass es um Obdachlose geht, oder dass für die Frisur kein Geld verlangt wird? „Heilig sein heißt in summa nichts anderes als ‚im Himmel sein’“ (Wolfgang Beinert). Die alte Kirche bezog den erstaunten Ausruf Jakobs nach seinem Traum von der Himmelsleiter auf sich selbst: „Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels“ (Gen 28,17). Von diesem Haus, Tor und Himmel scheinen so manche Kirchenverantwortliche nicht einmal mehr eine Ahnung zu haben, natürlich auch nicht davon, dass durch die heilige Taufe als Teilhabe an Tod und Auferstehung Jesu und ‚Tor des Glaubens’ zum Himmel die ursprüngliche „Heiligkeit und Gerechtigkeit“ wiedergewonnen wird (Eph 4,24).
Akrobatische Pantomime „Becoming“ (Werden)
Angesichts solcher wachsender Tendenzen zur Selbstprofanierung und Selbstauflösung der Kirche in eine zeitgenössische Eventkultur hinein, wozu auch die Schaffung von Kirchenmusikerstellen ausschließlich für Popularmusik und „Popkantoren“ gehört, ist das Angebot einer „tanzenden“ Heiliggeist-Kirche in Heidelberg noch geradezu von Ernsthaftigkeit geprägt. Entsprechend groß war vor allem bei Frauen das Interesse an den Tanzdarbietungen des städtischen Tanztheaters Heidelberg am Sonntag, 14. Juli, wobei aber nicht die Kirche tanzte, sondern professionelle (und profane) Theaterleute. Sie stellten in einer 30-minütigen akrobatischen Pantomime mit musikalischer Begleitung das Thema „Becoming“ (Werden) auf der im Mittelschiff aufgebauten Bühne dar.
Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca predigte zum Lesungstext, der ersten biblischen Schöpfungserzählung, wo beim „ersten Wort“ Gottes: „Es werde Licht“ (Gen 1,3), bezeichnenderweise nur das „Werde“ interessierte, nicht das „Licht“. Auch wo mit dem 1. Johannesbrief (4,8) verkündet wurde, „Gott ist die Liebe“, so fiel der Vers danach, dass „Gott seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (4,10), unter den Tisch, erst recht die Warnung: „Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist“ (2,15).
Das biblische Wort interessierte offenbar nur noch selektiv und deshalb nicht wirklich. So wurde auch die erste Schöpfungserzählung um die Schöpfungstage vier (Erschaffung der „Lichter“ Sonne, Mond und Sterne) und fünf (Erschaffung der Vögel oben und der Fische unten) sowie um den halben sechsten Tag (Erschaffung der Erd- oder Landtiere) gekürzt und damit in der für die ganze Bibel grundlegenden Struktur vollkommen unlesbar. Man wollte gleich beim Menschen landen, und zwar dem evolutiv „werdenden“ Menschen, obwohl davon gar nichts im Text steht.
Das „Licht“ vom ersten Schöpfungstag ist im Unterschied zu den „Lichtern“ des vierten Tages kein irgendwie kosmisches Licht, sondern Gottes (geschaffene) Weisheit, die gleichsam als „Hintergrundstrahlung“ allem Geschaffenen ordnend zugrunde liegt und die bei der Auferstehung Jesu am „achten Tag“, der zugleich der „erste Tag“ (Sonntag) der Woche ist, wieder hell in den gläubigen Herzen aufstrahlt (vgl. 2 Kor 4,6). Dass deshalb die Gemeinde oder Kirche sich jeden Sonntag versammelt, um das heilige Abendmahl oder die Eucharistie, das heißt Danksagung zu feiern für die großen Heilstaten Gottes, die mit der Schöpfung anheben und in der Auferstehung Jesu als österliche Neuschöpfung ihre (vorläufige) Vollendung finden, dürfte den wenigsten Kirchenbesuchern bewusst sein.
Da wundert es natürlich auch nicht, wenn die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihren Gemeinden in der aktuellen Studie „Faktoren des Kirchgangs“ empfiehlt, offen über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes zu diskutieren, weil dieser für viele nicht mehr attraktiv sei. Den drei Prozent evangelischen Christen (734 000), die überhaupt noch einen Sonntagsgottesdienst besuchen, gehe es dabei meist um eine „intensive Identitätsvergewisserung“. Wichtig sei aber auch, Gottesdienste anlassbezogen und zielgruppenspezifisch „in theologisch begründeter Freiheit“ anzubieten, um mehr Menschen zu erreichen. Wozu aber will man sie überhaupt erreichen?
Ihr seid das Licht der Welt
„Ihr seid das Licht der Welt“, sagt Jesus in der Bergpredigt seinen Jüngern. Die Kirche darf ihr Christus-Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern sie muss es hell vor den Menschen leuchten lassen. Denn auch „eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. (…) So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,14-17).
Mit „guten Werken“ haben es die evangelischen Christen bekanntlich aber nicht so sehr und mit der Erfüllung des (als Kontrast zum „Evavneglium“ abgewerteten) „Gesetzes“ auch nicht. Eher stützt man sich auf die Verheißungen der alttestamentlichen „Propheten“, die im „Evangelium“ von Jesus Christus „erfüllt“ seien. Aber Gesetz und Propheten sind mit Jesus nicht abgeschafft, im Gegenteil: Die Szene der Verklärung Jesu auf einem „hohen Berg“ (Fest am 6. August) zeigt vielmehr, dass Gesetz (Mose) und Propheten (Elija) in Jesus aufgipfeln, der als der „Sohn Gottes“ jetzt die höchste Autorität ist: „Auf ihn sollt ihr hören“ (Mt 17,5), was aber nicht möglich ist, ohne zugleich auch auf Mose und die Propheten zu hören (Joh 5,46f).
Indem neben dem verklärten Jesus, dessen „Gesicht leuchtete wie die Sonne“ und dessen Kleider blendend weiß wurden „wie das Licht“ (V. 2), Mose und Elija erscheinen (V. 3), bekräftigt der Text auch ihre Autorität, die für das „Evangelium“ fundamental ist: Ohne „Schöpfung“ im ersten Buch „Mose“ keine Erlösung im Neuen Testament; ohne das von Elija auf das Opfer herabgerufene Geist-Feuer vom Himmel keine Epiklese (Herabrufung des verwandelnden Geistes) auf die eucharistischen Schöpfungsgaben Brot und Wein. Auch damit haben es die evangelischen Christen allerdings nicht so sehr: Abendmahl wurde an dem Tanz-Sonntag in der Heiliggeist-Kirche nicht gefeiert.
Dafür wurden die Termine für die Sommerpredigtreihe „Tanz und Bibel“ ausgelegt: „Ein Tanz kostet Johannes des Täufer den Kopf (Mk 6,19-27)“ (28. Juli), „Aus Sack und Asche: Aufstehen und Tanzen (Psalm 30,12)“ (4. August), „Tanzparty für den verlorenen Sohn (Lk 15,22-32)“ (11. August), „Tanzen hat seine Zeit (Pred 3,4)“ (18. August), „Siegestanz der Mirjam (2 Mose 15,20-21)“ (25. August), „Die gottesdienstliche Choreografie – Gebetsbewegungen und -haltungen im evangelischen Gottesdienst“ (1. September), „Tanz ums goldene Kalb (2 Mose 32)“ (8. September).
Davids Tanzen vor der Bundeslade
Bei den biblischen Anspielungen aufs „Tanzen“ wurde ein wichtiges Tanzgeschehen außer Acht gelassen: Davids freudiger Tanz und mit ihm des ganzen Hauses Israel vor der Bundeslade, dem Ort der Gegenwart Gottes (Schechina) und darum Allerheiligsten des Alten Testaments (2 Sam 6,5.14f). Davids Tanzen hat seine neutestamentliche Parallele im freudigen Hüpfen des „sechs Monate“ alten Johannes des Täufers in seinem Mutterleib bei der Begegnung Elisabeths mit der soeben durch die „Überschattung“ des Heiligen Geistes schwanger gewordenen Jungfrau Maria als neuem Tempel und neuer Bundeslade:
„Als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabeth vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme [das es auch heute noch gehört wird]: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Selig ist, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ“ (Lk 1,41-45).
Bundeslade und Maria bleiben jeweils „drei Monate lang“ am Ort (2 Sam 6,11f; Lk 1,56), dann kehren sie zurück. Die Gottesmutter Maria trägt und fasst in ihrem jungfräulichen Schoß nicht weniger als den „Herrn“ und Schöpfer der Welt, den die Himmel nicht fassen. In seiner Ansprache zum Abschluss des Marienmonats Mai (2005) erklärte Papst Benedikt XVI. im Anschluss an die Bezeichnung Marias als „eucharistische Frau“ in der Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (2003) von Johannes Paul II.: „Als lebendiger Tabernakel des fleischgewordenen Gottes ist Maria die Bundeslade, in der der Herr sein Volk besucht und erlöst hat.“ Das lateinische Wort ‚Tabernakel’ für die Aufbewahrung der Eucharistie bedeutet ‚Zelt’ und erinnert damit an das Stiftszelt mit der Bundeslade und den zwei Gesetzestafeln (als Kern der Thora) sowie an das Gottesheiligtum des Alten Bundes überhaupt.
In unversehrtem („jungfräulichen“) Glauben hat Maria als „neue Eva“ durch die Botschaft des Engels am 25. März, dem Augenblick des Aufgangs der Sonne im Osten und Symbol für den Anfang der Schöpfung (Frühlings-Äquinoktium nach dem Julianischen Kalender), die Fülle des Licht und Leben spendenden ewigen Schöpferwortes empfangen. Nach dem ersten Pfingstfest, so Benedikt XVI. weiter, empfing sie „im Sakrament jenen Leib…, den sie im Schoß empfangen und getragen hatte“. Das Empfangen der Eucharistie als Christi dahingegebenes „Fleisch für das Leben der Welt“ (Joh 6,51) und das jungfräuliche Empfangen des fleischwerdenden Schöpferwortes Gottes stehen so in einem direkten Zusammenhang. Zum Empfang der Eucharistie führt Joseph Ratzinger aus:
„Was heißt das: den Herrn empfangen? Dies ist nie nur ein leiblicher Vorgang, wie wenn ich ein Stück Brot esse. Dies kann deshalb nie nur das Geschehen eines Augenblicks sein. Christus empfangen heißt: auf ihn zugehen, ihn anbeten. Aus diesem Grund kann das Empfangen über den Moment der eucharistischen Feier hinausreichen, ja, muss es tun. Je mehr die Kirche in das eucharistische Geheimnis hineinwuchs, desto mehr hat sie begriffen, dass sie Kommunion nicht in den umgrenzten Minuten der Messe zu Ende feiern kann. Erst als so das Ewige Licht in den Kirchen entzündet wurde und neben dem Altar der Tabernakel aufgerichtet wurde, war gleichsam die Knospe des Geheimnisses aufgesprungen und die Fülle des eucharistischen Geheimnisses von der Kirche angenommen. Immer ist der Herr da. Die Kirche ist nicht bloß ein Raum, in dem in der Frühe einmal etwas stattfindet, während er den Rest des Tages ‚funktionslos’ leer bliebe. Im Kirchenraum ist immer ‚Kirche’, weil immer der Herr sich schenkt, weil das eucharistische Geheimnis bleibt und weil wir im Zugehen darauf immerfort im Gottesdienst der ganzen glaubenden, betenden und liebenden Kirche eingeschlossen sind“ (Theologie der Liturgie, 345f).
Die Kirche als „Gefäß“ für das heilige Feuer
Die von der heiligen Eucharistie her und auf sie hin gebaute marianische Kirche ist das geistliche Gefäß, der heilige Leib und die Monstranz des Herrn als des Heiligen, des Feuers vom Himmel, das alles bloß Irdische verzehrt, wenn es sich nicht verwandeln lässt zum Heiligen, das dem heiligen Gott gemäß ist. Bevor Mose die zwei Gesetzestafeln des Bundes auf dem Sinai „im Feuer“ empfängt (Ex 19,18), muss er beim brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch (hebr. sne, wie Sinai) seine Schuhe, mit denen er die Erde berührt, ausziehen: „Denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5).
Die Kirchenväter deuten die „immerwährende Jungfräulichkeit“ Marias von hierher im Bild des brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbuschs: „Vom 4. Jh. an wird der Dornbusch als Typus der ‚Immerjungfrau’ verstanden, die Gott als das Feuer in sich trägt (Maria, die Allheilige), ohne zu verbrennen; er symbolisiert, dass sie Jungfrau blieb, obwohl sie gebar“ (Günter Spitzing, Lexikon byzantinisch christlicher Symbole, 63). Das Ewige Licht vor dem Tabernakel in katholischen Kirchen erinnert an dieses göttliche Feuer vom Himmel als Ausweis der Göttlichkeit Jesu überhaupt, das das „Gesetz“ Gottes und der „Bund“ der Liebe Gottes in Person ist.
Jakob (Israel) träumt auf seinem Weg von Beerscheba nach Haran, auf einem Stein liegend, von einer Leiter, die bis zum Himmel reicht und auf der die Engel Gottes auf- und niedersteigen; als er aus seinem Schlaf aufwacht, erkennt er: „Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels“ (Gen 28,17). Er nimmt den Stein, auf dem er seinen Kopf gelegt hat, stellt ihn als Steinmal auf, salbt ihn mit Öl und gibt dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus). Der Vers Gen 28,17 stand früher und steht teilweise noch heute über den Eingangsportalen der Kirchen (zum Beispiel an der Kirche von Stilfs am Fuß des Ortler in Südtirol).
Der biblische Text fügt am Ende noch hinzu. „Früher hieß die Stadt Lus“ (V. 19). Lus bedeutet Mandel; der Mandelbaum blüht als erster noch im Winter und ist deshalb Zeichen der im Frühling kommenden „Auferstehung“ des Lebens. Die Mandel gilt daher im Judentum als „achte Frucht“ (vgl. Christus, besonders der Verklärte, in der „Mandorla“). „Jakob legt sich also an den Ort der Mandel, den Ort des achten Tages, den Ort der Erlösung. Dann sieht er den Himmel sich öffnen und schaut Gott“ (Friedrich Weinreb, Die Astrologie in der jüdischen Mystik, 162).
Auch seinen Jüngern verheißt Jesus: „Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (Joh 1,51). Diese Öffnung des Himmelstores geschieht am Kreuz in der Öffnung des Herzens oder der Seite des Erlösers, aus der die lebendigen Zeichen von Wasser (Taufe) und Blut (Eucharistie) hervorströmen, die die Kirche konstituieren (Joh 19,34; vgl. 7,37f). Im Osterlied „Freu dich, erlöste Christenheit“ (GL 337.4) kann die Gemeinde singen: „Die Seite, die geöffnet war,/ zeigt sich als Himmelspforte klar.“
Das Kreuz als Leiter des Aufstiegs zum Himmel
Die christliche Tradition hat deshalb im Kreuz die Himmelsleiter gesehen: „Du (Kreuz) bist die sichre Leiter, darauf man steigt zum Leben,/ das Gott will ewig geben“ ( GL 294.4). Dieser Gedanke erschließt sich erst, wenn man die Symbolik der Mitte und der Zahl fünf beachtet (die Herzwunde ist die zentrale fünfte Wunde neben den vier Wunden an Händen und Füßen, vgl. die fünf Wachsstifte auf der Osterkerze). Gérard de Champeaux/ Dom Sébastian Sterckx schreiben in ihrem Buch „Einführung in die Welt der Symbole“ (1990, 51):
„Die Zahl des Kreuzes ist die Vier. Mehr noch ist es die Fünf… Dieser gemeinsame Punkt ist der entscheidende Schnittpunkt des Denkens. Hier verändern sich oft die Ebenen, nur hier findet der Übergang von einer Welt in die andere statt. Dieser Punkt ist der Omphalos der Griechen, der Nabel der Welt unserer Vorfahren, die heilige Treppe so vieler Religionen, die Himmelsleiter. Hier gelangt man vom Himmel zur Erde, von der Erde zum Himmel, hier stehen Raum, Zeit und Ewigkeit miteinander in Verbindung. (…) In jeder Hinsicht hat das Kreuz die Funktion der Synthese und des Maßes…“ „Von allen Symbolen ist das Kreuz das umfassendste, ganzheitlichste. Es steht für Übergang und Vermittlung, für die permanente Vereinigung des Universums …“
Die „hochzeitliche“ Vereinigung der zwei Seiten der Schöpfung (Geist und Materie) in Kreuz und Auferstehung ist vorausgebildet in der Himmelsleiter Jakobs und in der Mandel (Lus). Das hebräische Wort für Mandel, schaqad, 300-100-4, ist Anagramm von qadosch, 100-4-300: ‚Heilig(-keit)’. Durch Hinzufügung des Feuer- und Geist-Buchstabens Schin = 300 wird daraus der Wert 704, der dem Wert von Qädäm, 100-4-600, ‚Orient’ beziehungsweise Unsterblichkeit entspricht (vgl. Adam Kadmon als Himmlischer Mensch).
Der verherrlichte Christus in der Mandorla, so die christliche Kabbalistin Annick de Souzenelle, „ist das lebendige Schin. Insofern dieser [dreizackige] Buchstabe Symbol der Trinität ist, aber auch insofern das Schin ‚Zahn’ bedeutet und den ‚Eckstein’ bezeichnet, verbindet es sich in den Darstellungen des verherrlichten Christus mit seinem Archetyp. Bereits die Bundeslade enthielt dieses Symbol: der sechsarmige Leuchter, der die Form von zwei verbundenen Schin hatte, trug auf jedem seiner Arme ‚drei mandelförmige Kelche’ (Ex 37,19)“ (Le Symbolisme du corps humain, Kap. XXI).
Die 2 x 3 Leuchten symbolisieren die sechs (2 x 3) Schöpfungstage (sechs, hebr. schesch, 300-300) mit dem „siebten Tag“ als Stamm in der Mitte, der dann im „achten Tag“ der Auferstehung seine Erfüllung findet. Im Auferstandenen sind Himmel und Erde, Geist und Materie versöhnt und eins (Kol 1,20). In ihm treffen Himmel und Erde zusammen, weshalb die Kirchenväter im Gekreuzigten den „Vortänzer im mystischen Reigen“ sahen. In dem Hippolyt zugeschriebenen Osterhymnus vom Beginn des 3. Jahrhunderts, der ein wundervolles Loblied auf das kosmische Kreuzmysterium anstimmt, heißt es:
„Dieser himmelweite Baum ist von der Erde empor zum Himmel gewachsen. Unsterbliches Gewächs, reckt er sich zwischen Himmel und Erde. Er ist der feste Stützpunkt des Alls, der Ruhepunkt aller Dinge, die Grundlage des Weltenrunds, der kosmische Angelpunkt. Er fasst in sich zusammen die ganze Vielgestalt der menschlichen Natur. O Gekreuzigter, du Vortänzer im mystischen Tanze! O des geistlichen Hochzeitsfestes! O des göttlichen Pascha, übergehend von den Himmeln bis zur Erde und wiederum aufsteigend in die Himmel! O neue Feier aller Dinge, o kosmische Festversammlung, o Freude des Universums, o Ehre, o Lust, o Entzücken, durch die der finstere Tod vernichtet, das Leben dem All mitgeteilt, die Tore des Himmels geöffnet wurden“ (zit. nach Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, 72f).
Der Gekreuzigte als Vortänzer im mystischen Tanz
Diesen Gedanken des mystischen Vortänzers greift auch der evangelisch-reformierte Theologe Jürgen Moltmann in seiner ökologischen Schöpfungslehre „Gott in der Schöpfung“ auf (1985, 306–309: Die Welt als Tanz, bes. 308): „Der Logos, der von Anfang an bei Gott ist und in Ewigkeit sein Entzücken darstellt, ist ‚der heilige Vortänzer im himmlischen Reigen‘ der Erlösten. Dies sind neuplatonische Gedanken und Bilder. (…) Die ewige Harmonie des Göttlichen und des Kosmischen findet ihre Entsprechungen in den Harmonien des Menschen mit der Natur und des Leibes mit der Seele im Tanz. Die Sterne sind, wie die Pythagoräer sagen, die kosmischen Tanzchöre, und die Seele, die bei den Sternen den Sitz ihrer Seligkeit findet, wird in Ewigkeit im Reigen der Gestirne tanzen. Solche Bilder hat Gregor von Nyssa aufgenommen, wenn er Urstand und Erlösung mit Metaphern des Tanzes beschreibt.“ (Es folgt das Zitat aus dem Osterhymnus des Hippolyt).
In jeder Eucharistiefeier verbindet sich die irdische Kirche mit der himmlischen, mit den Chören der Engel und der Heiligen, besonders bei Gesang des „Sanctus“, der der Vision des Jesaja entnommen ist, der die ganze Erde erfüllt sieht von Gottes Herrlichkeit: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere“ (Jes 6,3). Dieser Ruf der brennenden Serafim erklingt auch im jüdischen Synagogengottesdienst, wobei es oft üblich war, „sich beim Rezitieren des ‚kadosch, kadosch, kadosch’ (‚Heilig, heilig, heilig’) dreimal leicht auf den Zehenspitzen zu erheben. Diese liturgische Geste symbolisiert den Aufstieg der Betenden zu den Engeln im Himmel, die Gottes Heiligkeit und Größe preisen“ (Robert Vorholt, Heilig, heilig, heilig, in: CiG Nr. 29/2019, 324).
In der Feier des Gottesdienstes als Himmel auf Erden gewinnen die Gläubigen im Singen der Hymnen jene schwebende ‚Leichtigkeit’ des Seins, die Kindern, Heiligen und eben ‚fliegenden’ oder beschwingt ‚tanzenden’ Engeln eignet. Liturgie als heiliges ‚Spiel’ in kindlicher Freude hat etwas Leichtes, von der alltäglichen Sorgenschwere Abgehobenes. Vor allem darf sich niemand selbst allzu ernst nehmen, nicht allzu schwer in der Gewichtigkeit der eigenen irdischen Funktion, will er den Sinn des heiligen Spiels nicht verfehlen und so auch sein Leben verspielen.
Joseph Ratzinger sagte im Gespräch mit Peter Seewald im Jahr 1996, der Glaube mache „den Menschen auch leicht“. Das sei „bei den Kirchenvätern, vor allen Dingen in der Mönchstheologie, auch gut zu sehen: Glauben heißt, dass wir wie Engel werden, sagen sie. Wir können fliegen, weil wir uns selber nicht mehr schwer nehmen. Gläubig werden heißt leicht werden, aus seinem Schwergewicht, mit dem wir nach unten hängen, herauszutreten und damit in das Schweben des Glaubens hineinzukommen“ (Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im neuen Jahrtausend, 2000, 30). Auch der Ruf des Priesters vor dem Eintritt in das eucharistische Wandlungsgeschehen „Erhebet die Herzen“ setzt ein Leichtsein durch ein von Sündenschwere gereinigtes Herz voraus.
Nach Friedrich Weinreb muss der Mensch leicht sein, um sich emporheben und dem Heiligen nähern zu können: „Denn das Heilige ist … ein verzehrendes Feuer. Wenn man ihm nahekommt und nicht weiß, dass es das Heilige ist, wird man verzehrt. Häufig kommt es in der Bibel vor, dass Menschen sagen: Das ist ein Engel, den will ich auf keinen Fall sehen. Oder Gott erscheint im brennenden Dornbusch: Komm ihm nicht zu nahe! Darin äußert sich das Wissen, dass sich nur ein vollkommen ‚leichter‘ Mensch diesem Heiligen der anderen Welt nähern kann. Und darum auch: Ziehe deine Schuhe aus. (…) Wenn man in Schuhen dasteht, bedeutet das, dass sich der Mensch noch wie in einem Zwang mit dieser Seite des Lebens, dieser Realität hier, verbunden fühlt. Er muss diese Art der Verbindung mit der Welt ablegen und darf nicht in den Schuhen, nicht auf dem ‚Tier‘ stehen. Er muss eigentlich vom Tier absteigen, um als Mensch ‚leicht‘ sein zu können“ (Der Weg durch den Tempel, 135f).
Körper, Sexualität und Keuschheit
Dem Leichten des Himmels steht das Schwere der Erde entgegen, was im Hebräischen kawed, 20-2-4, heißt, auch ‚Leber‘, die, wie Weinreb erklärt, „hier das Blut des Menschen erzeugt“: „Das Blut gibt der ‚nephesch‘ [Körperseele] hier Form und ‚Schwere‘, damit sie auf der Erde bleibt und nicht einfach in die Höhe springt. Durch die Leber, heißt es, wird der Mensch auf die Erde gedrückt und auf ihr festgehalten, die Leber macht ihn ‚schwer‘. Der Mensch kann hier in Erscheinung treten, weil er eine Leber hat. Die Leber gilt auch als der Ort des Zorns, der Erregung beim Menschen. Er glaubt dann, die Dinge müssten anders sein. Sie ist außerdem der Ort der Eifersucht sowie der Ort der geschlechtlichen Liebe … Also ist die Leber auch der Ort des Ursprungs der körperlichen Erscheinung“ (Das Opfer in der Bibel. 2010, 679).
Im Himmel gibt es keine geschlechtliche Liebe mehr, denn dort, wo die Menschen engelgleich sind, wird auch nicht mehr geheiratet (Mt 22,30). Die Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9) nimmt aber dasgeistliche Hochzeitsfest oder die „ewige Hochzeit“ mit dem Schöpfer vorweg, weshalb der der Eucharistie vorstehende Prietser sinnvollerweise ehelos lebt. Das ist nicht zuerst Absage an Ehe und Eros, nicht zuerst Triebunterdrückung und Verzicht auf Sexualität, sondern als Möglichkeit zu sehen „für ein brennenderes, alles andere verzehrendes Gottesbegehren…: als Möglichkeit zu einer größeren, schöneren Fruchtbarkeit des Herzens“, so die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken (München) in einer Kolumne unter dem Titel „Keusche Kraft“ (in: Philosophie-Magazin 6/2016, 20). Ihr Fazit: „Solange wir keine andere Sprache der Liebe als die eines scheinaufgeklären Sexualpositivs haben, wird kein Mensch mehr verstehen, was Keuschheit einmal hieß.“ Auch deshalb fühle sich in Deutschland „kaum noch jemand zum Priester berufen“.
Das Zweite Vatikanische Konzil ging noch davon aus, dass Zölibat und Keuschheit zumindest im Raum der katholischen Kirche verstanden werden. In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ (Nr. 7) heißt es zur zölibatären Ehelosigkeit: „Christus liebt die Kirche als seine Braut; er ist zum Urbild des Mannes geworden, der seine Gattin liebt wie seinen eigenen Leib.“ Zugleich ist Christus in seiner Jungfräulichkeit, Vollkommenheit und (eucharistischen) Lebenshingabe am Kreuz das Urbild des zölibatär lebenden Priesters, dessen Aufgabe es ist, „die Gläubigen einem Mann zu vermählen und sie als keusche Jungfrau Christus zuzuführen [2 Kor 11,2]; so weisen sie auf jenen geheimnisvollen Ehebund hin, der von Gott begründet ist und im anderen Leben ins volle Licht treten wird, in welchem die Kirche Christus zum einzigen Bräutigam hat“ (Presbyterium ordinis 16; vgl. Lumen gentium 42).
Verlust der ‚dionysischen’ Dimension des Gottesdienstes
Wenn heute Ekstase, Rausch und Enthusiasmus (= In-Gott-sein) außerhalb der Kirche in Drogen und Musik gesucht wird, wenn die Diskotheken, Tanztempel und Konzerthäuser für den größten Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen die neuen Kathedralen sind, dann hat dies eben auch mit dem Verlust der ‚dionysischen’ Dimension des Gottesdienstes zu tun, obwohl dort doch der Wein eine zentrale Rolle spielt. Beim ersten programmatischen Wunder Jesu im Johannesevangelium, der Verwandlung einer großen Menge von 600 Liter Wasser in den besseren Wein (Joh 2,1-11), klingt das Dionysische noch an. Die Religionsphilosophin Hanna-Barabara Gerl-Falkovitz sagt zur „schöpferischen Einheit von Essen und Lieben, von Genießen und Bleiben“, wie es eben im Bild des eucharistischen Hochzeitsmahls und des Weinwunders zu Kana erscheint:
„Das Aufblitzen des Neuen in der Gestalt Jesu beginnt mit dem Fest aller Feste: einer Hochzeit (Joh 2,1-11). Auf Bitten der Mutter wandelt der Gast die bäuerliche Feier in Kana ins aufblitzend Große: ins endgültige Fest von unfasslicher Fülle. Die frühe Kirche hat in dem Doppelanfang von Taufe und Weinwunder das herrliche Aufreißen des Himmels über die Erde gesehen. Wie grämlich nehmen sich dagegen die religionskritischen Verdächtigungen aus: Die Lehre Christi sei traurig und weltflüchtig. Ja, es gibt die erschütternden Stellen der Trauer Christi, die sich zum Leiden am Vergeblichen verdichtet. Aber unterfangen, durchstrahlt ist sein Dasein von dem Auftakt: Wasser wird Wein. Und diese Ouvertüre steigert sich überdies zum angekündigten Finale“ – der Verwandlung von Wein in Jesu Blut des neuen Bundes (Heiliges Essen – Essen des Heiligen, in: IKaZ „Communio“ 1/2017, 41-51, hier 49f).
Im 19. Jahrhundert kritisierten protestantische Theologen wie David Friedrich Strauß das Wandlungswunder als „Luxuswunder“, weil es nicht irgendeiner Not oder einem wirklichen Bedürfnis abgeholfen habe, sondern „nur einen weiteren Reiz der Lust herbeischaffte“ (zit. nach Ansgar Wucherpfennig, Die Hochzeit zu Kana, in: ThPH 3/2004, 321-338, hier 325). Strauß, ein Schüler Hegels, hatte 1835 über den historischen Jesus das Buch „Das Leben Jesu“ veröffentlicht, das ungeheure Wirkung erzielte. Dem historischen Jesus stellte er den „Mythos“ vom „Christus“ als Produkt des menschlichen Geistes gegenüber, der die Idee der Gattung Mensch repräsentiere, deren „Fortschritt“ enthusiastisch begrüßt wird. Der romantische Enthusiamus wird von Strauß nicht zerstört, sondern „vom Himmel auf die Erde“ heruntergeholt, wie auch Ludwig Feuerbach die „Kandidaten des Jenseits“ in „Studenten des Diesseits“ verwandeln wollte (vgl. Rüdiger Safranski, Romantik, 245).
Buchstäbliches und geistliches Verständnis der Schrift
Schon der heilige Bonaventura beklagt im Hinblick auf das Wandlungswunder auf der Hochzeit zu Kana einen Mangel an geistig-geistlichem Verständnis der Bibel. Ausdrücklich warnt der Seraphische Lehrer vor der Gefahr einer Verkehrung des Weinwunders durch die ‚Philosophie‘ (wissenschaftliche Exegese), so dass aus dem Wein der Heiligen Schrift am Ende Wasser wird: „Das wäre das schlechteste Wunder“ (Hexaemeron XIX, 14). Wasser nämlich ist, wie schon Augustinus betont, das Alte Testament solange, als in ihm nicht Christus entdeckt wird: „Der Buchstabe [der Schrift] allein ist lediglich Wasser, das erst im geistlichen Verständnis in Wein verwandelt wird; er ist Stein, der erst zu Brot werden muss“ (ebd. XIX, 8).
Doch genau dieses falsche, nicht vom Heiligen Geist geleitete, sondern der historischen ‚Vernunft’ folgende Verständnis setzt sich mit der historisch-kritischen Exegese im 19. Jahrhundert durch, die dann vom Zweiten Vatikanischen Konzil auch für die katholische Exegese zugelassen wird, ohne sie damit freilich zur einzigen Methode des Schriftverständnisses zu machen, was dann aber doch faktisch geschehen ist. Geistliche oder „nüchterne Trunkenheit“ war von solcher Art Exegese nicht mehr zu erwarten. Das Bibelstudium wurde derart dröge, dass man in Predigten und Glaubenserklärungen lieber auf andere, scheinbar „inspiriertere“ Texte zurückgreift und um das Alten Testament oft einen großen Bogen macht oder eben den biblischen Text kurzerhand zurechtstutzt.
Die deutschen Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Friedrich Nietzsche an seinem Ende spürten die Gefahr des Nihilismus, die von solcher Art dem Historismus, Positivismus und Materialismus vershriebenen Vernunft ausgeht. Sie wollten die christliche Religion nicht in bürgerliche Moral „übersetzen“ und so letztlich „aufheben“ (in Hegels dreifachem Sinn) wie die Aufklärung, sondern die ganze Welt „romantisieren“: im Endlichen sollte das Unendliche, im Irdischen das Himmlische aufscheinen. Dazu wurde dem Gefühl und Gemüt, dem Unbewussten und dem Traum, dem Volksgeist und der Poesie, der Schönheit und dem Fest, bei manchen auch dem Mittelalter und der katholischen Kirche neue Bedeutung verliehen. Nicht bloß Nützlichkeit und Realismus, Arbeitseifer und geheimnisloses Behagen sollten triumphieren, sondern das Festliche und Mythische jenseits aller rationalistischen Alltagskultur, mit einem Wort: das entfesselte Dionysische.
Friedrich Nietzsches Loblied auf Tanz, Spiel und Fest
Nietzsche empfand es zunächst im romantischen Musikdrama und „Bühnenweihfestspiel“ eines Richard Wagner, bei dem Kunst, Kultur und Natur zu einer Einheit verschmolzen und Musik zum Rausch wurde. Im Maße, wie sich Wagner Motiven der christlichen Erlösungsreligion bediente, sucht Nietzsche selbst mit seiner ‚dionysischen Weisheit’ eine reine Diesseitsreligion mit ästhetischen Mitteln zu begründen, so in seiner Zarathustra-Dichtung, einem „Buch für alle und keinen“. Tanz und Fest spielen darin eine zentrale Rolle.
Nietzsches Zarathustra ist durchaus bereit, an einen ‚Gott‘ und ‚Erlöser‘ zu glauben; nur müssten ihm die Anhänger des gekreuzigten Erlösers „bessere Lieder … singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen“ (Za II: Von den Priestern). Und: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“, denn Zarathustras „A und O“ ist gerade, „dass alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde“ Za I: vom Lesen und Schreiben sowie Za III: Die sieben Siegel (Oder: Das Ja- und Amen-Lied). Nach Pindar ist Dionysos „der vollkommenste Tänzer unter den Göttern“, das will auch Zarathustra sein beziehungsweise Nietzsche, der am Ende seines schon umnachteten Lebens „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ verkündet (letzter Satz aus der Spätschrift „Ecce homo“ von 1888 mit dem Untertitel „Wie man wird, was man ist“). Dass gerade der Gekreuzigte bei den Kirchenvätern der ‚Vortänzer im mystischen Reigen’ ist, war dem Pastorensohn offenbar entgangen.
Während die vom Denkstil der „großen protestantischen Kulturen“ geprägte angelsächsische Ethnologie des 19. Jahrhunderts das Fest als zentrales religiöse Phänomen völlig übersehen konnte (vgl. Josef Pieper, Zustimmung zur Welt, 74), kam es Nietzsche auf das Fest gerade an, allerdings in einem ‚heidnischen’ Sinn: „Was liegt an aller unserer Kunst der Kunstwerke“, schreibt er im Aphorismus „Jetzt und ehedem“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (n. 89), „wenn jene höhere Kunst, die Kunst der Feste, uns abhanden kommt. Ehemals waren alle Kunstwerke an der großen Feststraße der Menschheit aufgestellt als Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von der großen Leidensstraße der Menschheit beiseite locken, für ein lüsternes Augenblickchen: man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an.“
Nietzsches „Flucht“ in den „Traum-Rausch des Dionysischen“ (Erich Przywara) ist nicht der ‚kleine Wahnsinn‘ der Kunstbesessenen. Es ist vielmehr der ‚Rausch‘ des großen Hochzeitsfestes von Himmel und Erde, der in der Gestalt des griechischen Weingottes Dionysos gesucht und in der Zarathustra-Dichtung in der Verkündigung der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ als „Ring der Ringe“ auch inszeniert wird. Dort singt der im dionysischen Tanz-Rhythmus verzückte Zarathustra im Ja-und-Amen-Lied: „Wenn meine Tugend eines Tänzers Tugend ist, und ich oft mit beiden Füßen in gold-smaragdenes Entzücken sprang“, so dass „alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer“ wird, so wäre das „mein A und O.“
Die christliche Liturgie als Fest par excellence
Die christliche Ikonographie stellt von Anfang an das Kreuz am Himmel zwischen Alpha und Omega dar, so im Apsismosaik von Sant’ Apollinare von Classe, dem Hafen von Ravenna (6. Jh), das im Zentrum des eschatologischen Kreuzes der Wiederkunft und des Himmels-Clipeus Christus als Haupt-Medaillon darstellt, der zugleich der Verklärte zwischen Mose und Elija ist. „Denn Gott, der [im Anfang] sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten [Gen 1,3], er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (2 Kor 4,6).
Nietzsche versteht das Fest als „Heidentum par excellence“ (Nachgelassene Schriften: Der Wille zur Macht, 4. Buch, n. 84), wozu Joseph Ratzinger feststellt: „Das Gegenteil ist wahr: Nur wenn es eine göttliche Ermächtigung gibt, sich zu freuen – nur wenn Gott selbst es verbürgt, dass mein Leben und die Welt Grund zur Freude sind, kann es ein wirkliches Fest geben. Und darum ist die christliche Liturgie, in der die gekreuzigte Liebe Gottes gegenwärtig wird, das Fest par excellence“ (40 Jahre Konstitution über die heilige Liturgie, in: Liturgisches Jahrbuch 4/ 2003, 209-221, hier 221).
Hinter der Frage nach dem Charakter des Festes als Heidentum oder Christentum verbirgt sich die umfassendere Frage nach dem Charakter des Kreuzes oder des Christlichen überhaupt als Lebensbejahung oder Lebensverneinung. Josef Pieper bemerkt in seiner Fest-Theorie „Zustimmung zur Welt“ (60): „Jeder Kult ist ‚Affirmation‘, nicht allein Gottes, sondern auch der Welt. Man weiß, wie leidenschaftlich Nietzsche dem christlichen Kult gerade dies bestritten hat. Wenn er den ‚heidnischen Cult‘ ‚eine Form der Bejahung des Lebens‘ nennt, so meint er das als eine aggressive Unterscheidung, als eine Anklage gegen das Christentum; unter den vielen Dingen, welche die Kirche ‚verdorben‘ habe, seien auch ‚die Feste‘. Dass es Tatsachen gibt, die solche Vorwürfe begreiflich machen, lässt sich kaum bestreiten; dadurch werden sie allerdings nicht wahrer …“
Für Christen sind Leben und Welt – weil gerettet „in der Hoffnung“ (Röm 8,24) – ein Grund zu unbändiger Freude. Diese findet ihren Ausdruck in Fest und Feier, die selbst Vollzug der Hoffnung und so des Aufstiegs aus dem Fallen sind. Wenn die freudlose Trägheit des Herzens (acedia) und Verzweiflung „an nichts genug Freude“ haben kann, so kann die christliche Hoffnung nicht genug Freude haben und Gottes Heilshandeln lobpreisen; denn, so Nietzsche: „Um Freude irgendworan zu haben, muss man alles gutheißen“ (zit. ebd. 46).
‚Gutheißen‘ (bene-dicere) bedeutet ‚segnen’: Im Kreuz, das Himmel und Erde wieder verbindet oder den Bund wiederherstellt, wird der große Ur-Segen des Schöpfers vom 7. Schöpfungstag über der Welt neu aufgerichtet – auf den österlichen 8. Tag hin, der in jeder Eucharistie antizipiert wird: „So ereignet sich in der Eucharistie fürwahr der mystische hieròs gamós [heilige Hochzeit] im Zeichen des neuen Weines, das heißt im ‚Blut jener Traube, die – in die Kelter der Passion geworfen – diesen Trank hervorbrachte‘“ (Photina Rech, Inbild des Kosmos, Bd. II, 449).
Die richtige Ordnung der Liebe
In einem Aphorismus in „Jenseits von Gut und Böse“ (IV, 168) kritisiert Nietzsche das Christentum als leib- und erosfeindlich: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster.“ In seiner ersten Enzyklika Deus caritas est (2005) hat Papst Benedikt XVI. dieser Diagnose widersprochen: „Die Herausforderung durch den Eros (sei) dann bestanden“, „wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden“ (5). In der gefallenen Welt sind Sexus und Eros nicht einfach eine „unschuldige“ Liebeskraft, sondern ein Trieb, der an die animalische Herkunft des Menschen erinnert. Das „Fleisch“ mit seinen „Leidenschaften und Begierden“ soll nach Paulus „gekreuzigt“ werden (Gal 5,24), aber nicht, um es zu töten, sondern um es verwandelt in die rechte Ordnung zu bringen.
Die Spannung zwischen dem apollinischen Licht und dem dionysischen Rausch ist unaufhebbar. Weltspiel und Welttanz wie beim indischen Weltengott Shiva hat das Christentum nicht einfach ins Jenseits verlagert, sondern ihm in der heiligen Liturgie Raum gegeben, aber so, dass Heiligkeit und Sakralität nicht verwässert werden. „Denn ihr sollt wissen, dass Jahwe zwischen Ägypten und Israel einen Unterschied macht“ (Ex 11,7), das heißt zwischen der gefallenen und der erlösten Welt.
Wenn heute sakraler Tanz und „Körpergebete“ besonders in neuen Projekten einer (eucharistielosen) „Frauenliturgie“ auch in der katholischen Kirche wiederentdeckt werden, dann ist zwischen sakral und profan wohl zu unterscheiden. Die „erste Tänzerin“ an der Oper Paris, Mireille Nègre, hält in ihrem Glaubenszeugnis „Ich tanze Gott für dich“ (1985, 97 fest: „Das Ideal des Tanzes ist das Kreuz Christi. Das Kreuz ist die Ausdehnung in die Breite, in die Höhe, in alle Dimensionen. Das Kreuz, und es allein, führt die Dimensionen des Kosmos und der Ewigkeit zusammen.“
Kreuz, Trinität und Analogie im Bild vom Hochzeits-Tanz
Diese Sicht des Kreuzes vertritt auch der Jesuit Erich Przywara, der die katholische Lehre von der Seins-Analogie zwischen Gott und Welt neu vom Kreuz her begründet hat. Das Kreuz versteht Przywara so als „Hochzeits-Thron“, wo der Logos im Bild des Lammes den Kosmos in Gestalt der Kirche-Braut erwählt und erwirbt; die Kreuzigung wird zur Kreuzung und Vermittlung der Gegensätze im Kreuzmittelpunkt als Schnittpunkt von Schöpfer und Schöpfung:
„Im Licht des Kreuzes Jesu erscheint der Mensch selbst ‚als Mitte, Kreuzung, Riss‘. Mitte ist er deshalb, weil in ihm die Gegensätze der Schöpfung (Materie – Geist, Mann – Frau bzw. Schaffen – Empfangen ...) zusammen-gewachsen sind; als dieses Kon-Kretum ist er das Abbild der göttlichen Einheitsfülle. Diese Mitte ist er aber nur, weil er die Kreuzung, das heißt die wesensmäßige Kreuz-Analogie ist: ganz in der waagrechten Entsprechung (Geist – Materie usw.) und zugleich ganz über sich hinaus auf der Senkrechten in Gott ‚hangend‘, wie und weil Gott ganz über sich hinaus in der Welt hängt.“ „So übersetzten sich bei Przywara Hochzeitsbild und Analogiebegriff gegenseitig“ (Sturmius-M. Wittschier, Kreuz Trinität Analogie. Trinitarische Ontologie unter dem Leitbild des Kreuzes, dargestellt als ästhetische Theologie, 1987, 60 und 57).
Die ‚Hochzeit‘ als Analogie wird näherhin zum Hochzeits-Tanz oder -Reigen als „Schwingen zwischen dem Eins einer noch so großen Ähnlichkeit ... und der Distanz [4] einer je größeren Unähnlichkeit“, wie Przywara mit der Analogie-Definition des 4. Laterankonzils (1215) sagt (ebd. 58, vgl. 303-306). Das Kreuzesgeschehen mit dem Kreuzesopfer als Mitte der Liturgie im hochzeitlichen Reigen der Feste im Kirchenjahr erscheint so als umfassendes Sprachge- schehen. Als Ursprung aller christlichen Feste und Sakramente ereignet sich im Kreuz bzw. in der eucharistischen Kommunion je neu die sakramentalsymbolische Kommunikation zwischen Himmel und Erde. In der Feier der kosmischen Eucharistie findet die Welt-Liturgie der Kirche ihren Gipfel und Höhepunkt.
Umgekehrt hat die Welt kultischen beziehungsweise sakramentalen Charakter, wird sie doch von Gott als universaler Tempel für Gottes (Selbst-)Verherrlichung erbaut, der im konkreten einen Tempel von Jerusalem und zuvor im Zelt-Heiligtum, das Mose analog zum Schöpfer „vollendet“ (Ex 40,33; Gen 22), sein Abbild hat (Ex 25,9) wie Gott im Menschen. Dies setzt auch ein neues Verständnis der Sprache als Ent-sprechung in ihrer Bildlichkeit und Metaphorik voraus, wie es Nietzsche selbst in seiner Dichtung „Also sprach Zarathustra“ zurückgewinnen will. Im Rückblick des „Ecce homo“ (Also sprach Zarathustra § 3) deutet er die (an der Bibel geschulten) Bildsprache und Gleichnisrede seiner Dichtung als „Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“.
Die Zerstörung von Begriff und Realität der Kirche
In dem Aphorismus „Bauernaufstand des Geistes“ der „Fröhlichen Wissenschaft“ (n. 358) versteht Nietzsche die Kirche als inspiriertes „Bauwerk“ des Geistes, dem die Reformation Luthers nicht wirklich Rechnung getragen habe. Indem Luther, so Nietzsche, den Glauben an die Inspiration der kirchlichen Konzilien weggeworfen und die inspirierten biblischen Bücher an jedermann (und damit an die Philologen als „Zerstörern“ des auf Büchern beruhenden Glaubens) ausgeliefert habe, sei auch der Begriff Kirche zerstört worden: „Denn nur unter der Voraussetzung, dass der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff Kirche Kraft.“
Nicht nur der ‚Begriff’ Kirche wurde zerstört, sondern auch die Realität der einen Kirche in der westlichen Welt, zerspalten in tausenderlei Denominationen (lutherische, calvinistisch-reformierte, zwinglianische, hussitische Landeskirchen, Freikirchen, Pfingstler, Sekten usw.). Im Gegensatz zu den Kirchen aus der Reformation hat die katholische Kirche immer daran festgehalten, selbst ‚heilsnotwendig’ zu sein („Extra ecclesiam nulla salus“). Noch das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche unter dem Bild der rettenden ‚Arche des Heils’ gesehen, „in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Türe eintreten“ (Lumen gentium 14). Heute hingegen erachten es viele Eltern nicht einmal mehr als sinnvoll, ihre Kinder überhaupt taufen zu lassen.
Das ist auch nicht verwunderlich, hat doch die Reformation, wie die evangelische Theologin Uta Pohl-Patalog (Kiel) feststellt, „die Heilsrelevanz der Kirche deutlich relativiert, insofern nach evangelischer Überzeugung für die Frage des Heils allein die Beziehung zu Gott entscheidend ist. (…) ‚Der Protestantismus lässt sich im Grunde gar nicht auf Kirchengrenzen und konfessionelle Gegensätze im herkömmlichen Sinn verrechnen, sondern verlangt danach, als eine in die moderne Kultur konstruktiv integrierte Christentumspraxis ergriffen zu werden’ [Wilhelm Gräb]. Die Grundgestalt protestantischer Frömmigkeit bildet nicht die Kirche, sondern die ‚Gesinnungs-, Gewissens- und Überzeugungsreligion’, so dass nicht die Kirche, sondern Haus und Familie als ‚paradigmatische Sozialform der protestantischen Persönlichkeitsreligion’ gelten würden [Wolfgang Steck].“
„Nicht zuletzt aufgrund dieser Ausrichtung gilt der Protestantismus als relativ ‚frei’ und ‚liberal’. Er betont die eigene Urteilsbildung und Entscheidung auch gegenüber der Institution und ihren
Ritualen. (…) Gleichzeitig erweist sich die protestantische Distanz zur Institution Kirche durchaus als prekär. Dass die evangelische Kirche eine früher beginnende und traditionell höhere
Austrittsquote zu verzeichnen hat als die katholische, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein. Insbesondere aber hat diese protestantische Ausrichtung negative Konsequenzen für den
Gottesdienstbesuch. ‚Die im nordeuropäischen Protestantismus weit verbreitete Phantasie, man müsse nicht zum Gottesdienst gehen, um Christ zu sein, bedroht gegenwärtig die Lebendigkeit
evangelisch-christlicher Religion im Kern’ [Hans-Martin Gutmann]“ (Die grundlegenden Fragen offen halten. Impulse der Reformation für die Kirche(n),
in: Diakonia 3/2017, 154-160, hier 156).
Halbierung der Kirchenmitgliedszahlen bis 2060
Bis 2060 wird sich die Zahl der Getauften bei beiden großen Kirchen halbiert haben, von heute ca. 45 Millionen auf ca. 23 Millionen, so eine Studie des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge (FZG) im Auftrag von Bischofskonferenz und EKD. Der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann antwortete auf die Frage, warum jedes Jahr eine deutsche Großstadt die Kirche verlässt: „Es geht uns sehr gut in Deutschland. Wir haben hier keine wirkliche Not. Wir sind so gesättigt, so sehr auf uns selbst konzentriert. Das berührt auch uns Katholiken und lässt uns erlahmen. (…) Uns muss es darum gehen, dass die, die zum Glauben stehen, wieder neues Herdfeuer sein können“ („Das Wichtigste ist die Freundschaft mit Christus“, in: Die Tagespost, 16. Sept. 2017).
Um die „galoppierende Entchristlichung der Gesellschaft“ (Thomas Sternberg) aufzuhalten, ist mehr notwendig als ungewöhnliche, körperbetonte Gottesdienstformen wie Taufen im Bach, Gottesdienst in der Kneipe, Segen für Meerschweinchen, Theatertanz, Biker-Gottesdienst usw., auch mehr als ungewöhnliche Musikformen (Klangschalen, Harfenspiel). Es braucht eine Wiederentdeckung des Heiligen Geistes als Feuer vom Himmel, aber ganz anders als bei den boomenden „Pfingstkirchen“, die sich oft ganz zu unrecht auf den Pfingstgeist berufen, bei denen aber doch das eine oder andere im Bereich von moderner „Verkündigung“ und geistlicher „Heilung“ abgeschaut werden kann.
Vor allem aber braucht es neben einer Kirche, die wieder „geistbetont, geisterfüllt, voller Geisteslust, Expansionsdrang, Neugier“ ist (Johannes Röser), die Wiederherstellung der durch die so genannte Reformation verlorene Einheit der Kirche. Dies freilich nicht auf dem Weg einer „falschen Toleranz“ und damit falschen Ökumene, wo jede Kirche bleibt, wie sie halt geworden ist, nur die fundamentalen Unterschieden im Verständnis von Bibel, Glauben, Kirche und Jesus Christus als irrelevant für ein „gemeinsames Abendmahl“ wegerklärt werden. Deshalb braucht es nicht zuletzt eine neue „Unterscheidung der Geister“ (1 Kor 12,10; 1 Thess 5,21; 1 Joh 4,1).
Toleranz und Fortschritt oder das Geistfeuer neu entzünden?
Der Dichter der Aufklärung, Gotthold Ephraim Lessing, lässt in seinem 1779 erschienenen dramatischen Hauptwerk „Nathan der Weise“ die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam sich selbst gegenseitig in ihren Wahrheitsansprüchen so relativieren, dass nur noch ein Wettstreit im gegenseitiges Übertreffen im moralisch Guten übrig bleibt. Jede positive geoffenbarte Religion ist nur noch akzeptabel als vernunftbestimmte Moral, ob und in welchem Maß sie „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“ weiß. Religion ist dann am besten, wenn sie „die guten Wirkungen der natürlichen (Vernunft-)Religion am wenigsten einschränkt“ und sich selbst ganz der „Toleranz“ verschreibt.
Nur: Toleranz bezieht sich nicht auf das Verhältnis zu Glaubenssätzen und Wahrheitsansprüchen, sondern auf das Verhältnis zu andersgläubigen Menschen. Wo „Toleranz“ zum gemeinsamen Wahrheitsverzicht führt, es also nur noch „Meinungen“ geben darf, da wird der Relativismus selbst zum wahren, nicht mehr kritisierbaren Glaubenssatz erhoben. Lessing war Anhänger der Freimaurerei und neigte auch zu einer Wiedergeburtslehre im westlichen Sinn.
In seinem religionsphilosophisches Hauptwerk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von 1780 formulierte er die Vorstellung von drei sich ablösenden Epochen der Vernunft-Entwicklung, die er auch parallel zur Entwicklung eines Menschen versteht. Die erste Epoche des kindlichen Stadiums der Vernunft und Moral ist die des Alten Testaments. Mit dem Neuen Testament kommt das Stadium des Jünglings, das heißt von unbeweisbaren „zufälligen Geschichtswahrheiten“. Mit der Aufklärung tritt die Menschheit in das dritte Stadium der „ewigen Vernunftwahrheiten“ oder des „ewigen Evangeliums der Vernunft“.
Vorausgedacht wurde ein ähnlicher Gedanke von dem kalabresischen Benediktinerabt Joachim von Fiore. Er machte Ende des 12. Jahrhunderts nach einer „Erleuchtung“ an Pfingsten aus dem heilsgeschichtlichen Schema von Schatten – Bild – Wirklichkeit oder Naturgesetz, offenbartes Gesetz, Gnade Christi ein neues, nämlich trinitarisches Schema in Anlehnung an die drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist. Eine Epoche soll nun 1260 Jahre dauern, berechnet nach dem Stammbaum Jesu nach Matthäus von 42 Generationen zu jeweils 30 Jahren. Das Alte Testament wird mit dem Zeitalter des Vaters identifiziert, das Neue Testament mit dem des Sohnes, das im Jahr 1260 in das Zeitalter des Heiligen Geistes übergehen soll, das heißt in die johanneische Liebes- und Geistkirche eines kontemplativen Mönchtums als „Drittes Reich“ anstelle der bis dahin herrschenden Papst- oder Klerikerkirche des Sohnes Gottes. Im alten Schema durchdringen sich die drei Stadien wechselseitig, im neuen lösen sie einander ab.
Hier ist man dem Glauben an einen beständigen „Fortschritt“ der Menschheit verfallen, dort weiß man, dass das Gesicht der im Ewigen verankerten Kirche „vielfältig (ist), nicht nur aus einer räumlichen Perspektive heraus, in ihren Völkern, Rassen und Kulturen, sondern auch aus ihrer zeitlichen Wirklichkeit heraus, die es uns erlaubt, in die Quellen der lebendigsten und vollsten Tradition einzutauchen. Ihrerseits ist diese Tradition berufen, das Feuer am Leben zu erhalten …, die erste Liebe mit Hilfe des Heiligen Geistes wieder zu entzünden“ (…), „damit eure Söhne und Töchter Visionen und eure Alten wieder prophetische Träume empfangen (vgl. Joel 3,1)“ (Papst Franziskus in seinem Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ vom 29. Juni 2019).
Heiligkeit der selbstlosen Liebe Gottes zum Menschen
Ähnlich äußerte sich Kardinal Walter Kasper zu seinem 30-jährigen Bischofsjubiläum im Interview mit der Herder-Korrespondenz (3/2019, 20f): „Wir müssen den Menschen helfen, den Sinn ihres Lebens zu finden! Von Christus her! Das ist die Grundaufgabe. Wenn wir es schaffen, dieses Feuer wieder aus der Asche hervorzuholen, dann kommt vieles andere von selbst.“ Auf den Tod angesprochen fügte der frühere Ökumene-Minister des Papstes hinzu: „Was man mit dem Fegefeuer meint, ist das Feuer der Liebe Gottes: Im Angesicht Gottes leidet man daran, dass man dieser Liebe nicht gerecht geworden ist. Das Fegfeuer ist das reinigende Feuer der Liebe Gottes.“
Der evangelische Dogmatiker Notger Slenczka (Berlin) rief die katholischen Gläubigen dazu auf, sich „auf das Zentrum des Katholischen“ zu besinnen und „sich von diesem Zentrum wieder ergreifen zu lassen. (…) Es ist Zeit, dass in der Kirche sich das Bewusstsein der Heiligkeit der selbstlosen Liebe, die in ihr gegenwärtig ist, wieder meldet und darstellt – und das ist die Aufgabe aller katholischen Gläubigen.“ Die Gegenwart des Heiligen sei nicht in den Personen, „sondern in der Hostie ist das Heilige in der Kirche so gegenwärtig, dass es das Wesen des Brotes wird. Und von dort strahlt es aus und ergreift Personen. Ergreift sie durch die Sakramente, durch die Messgottesdienste, durch das Kirchenjahr ...“.
Ihm persönlich tue es leid und es „schmerzt mich, wenn ich sehe, dass katholische Christen ihrer Kirche den Rücken kehren und austreten. Ich halte das für einen schweren Fehler, und ich halte übrigens auch den Übertritt katholischer Gläubiger in eine protestantische Kirche für einen Fehler, wenn dieser Schritt motiviert ist durch die Enttäuschung über Verfehlungen der Kirche. Wir sind diesbezüglich nicht besser“ (Votum Ecclesiae. Ein protestantischer Blick auf die katholische Tradition, in: Herder-Korrespondenz 7/2019, 24-28, hier 28).
Gut über die Kirche reden
Zu den vom „synodalen Prozess“ avisierten Strukturreformen äußerte sich Papst Franziskus in seinem Brief an das pilgernde Gottesvolk in Deutschland nicht, weder zur Missbrauchsproblematik noch zur Zölibats- oder Frauenfrage. Wohl aber sieht er die Hauptaufgabe der Kirche heute darin, endlich die „Neuevangelisierung“ voranzutreiben und den Sensus ecclesiae (kirchlicher Glaubenssinn aller Getauften) zur Geltung zu bringen. Nach Ansicht des Berliner Erzbischofs Heiner Koch könne man an der evangelischen Kirche sehen, „dass durch noch so viele Reformen die Menschen nicht in Massen wiederkommen“ (so im Interview mit dem Domradio Köln, 21. Juli). Dafür sei der Abbruch mit der Gottverbundenheit und der gesellschaftlichen Verbundenheit mit der Kirche zu groß.
Auch nach dem Bochumer Theologen Björn Szymanowski lässt sich der seit Jahrzehnten anhaltende Abwärtstrend nicht von heute auf morgen verändern; wohl aber müssten Skandale vermieden und transparent aufgearbeitet werden. Ihm zufolge gehöre für die meisten „die Kirche zur Kultur“. Es sollte aber neue und auch viel niedrigschwelligere Angebote geben, vielleicht auch für Konfessionslose (Domradio).
Der Religionssoziologe Detlef Pollack (Münster) mahnte im KNA-Interview (Juli 2019) an, nicht nur immer Kirchenkritisches zu äußern: „Ich denke, dass die Menschen in der Kirche anfangen müssten, über die Kirche gut zu reden. Wenn die ganze Zeit nur Kritik geübt wird, dann hat das eine verheerende Wirkung auf das Image der Kirche. Und es wäre wahrscheinlich auch am besten, wenn die Menschen außerhalb der Kirche gut über sie reden würden. Durch Kommunikation und eine Veränderung des Diskurses kann man auch einiges erreichen.“ Die Kirche ist „das Licht der Welt“– steht das nicht irgendwo in der Bibel?
Klaus W. Hälbig
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Elfie Horak (Mittwoch, 24 Juli 2019 11:02)
Menschen, die nicht mehr verstehen, warum der Glaube wichtig ist, wird man durch Tanzdarbietungen in der Kirche nicht halten können, denn die bekommen sie billiger im Theater. Allerdings diejenigen, die den aufkeimenden Verdacht haben, dass ihnen der Gottesdienst eine Tür in einen Bereich öffnen kann, der sie aus der profanen Alltagswelt heraushebt und gewahr werden läßt, dass es jenseits dieser Welt das Ewige gibt, das Zeitlose, das allein schon deswegen Aufmerksamkeit belohnt, weil man wenigstens für einen Moment, im Gottedienst, den zeitlichen Verfall abstreifen und teilhaftig an diesem Ewigen werden kann. Diejenigen, denen dieser Gedanke schon mal gekommen ist, werden mit Tanz in der Kirche nicht weiter geführt. Die Gefahr besteht, dass die diesen Gedanken irgendwann vergessen; sich ganz und gar im Zeitlichen einrichten und bald nicht mehr einsehen, wofür sie Kirchensteuer bezahlen.