Schöpfung, Bibel, Kirche: kreuzförmig

Bild: Das Mausoleum der Kaiserinschwester und -mutter Galla Placidia (gest. 450) in Ravenna neben der oktogonalen Kirche St. Vitale zeigt das nach Osten weisende Kreuz am Sternenhimmel als Mitte und Einheitspunkt der ganzen Schöpfung; diese wird vertreten durch die vier Urwesen der Ezechielvision vom kosmischen Thronwagen mit der göttlichen Herrlichkeitsgestalt eines Menschen (vgl. Ez 1), die von christlichen Theologen mit dem Gekreuzigten identifiziert wurde.

 

Am 10. August 1995, vor 25 Jahren, fällte das höchste deutsche Gericht ein negatives Urteil zum Kruzifix in Klassenzimmern in Bayern, was für Empörung sorgte und Hunderttausende auf die Straßen trieb. Anthroposophische Eltern hatten gegen den „Anblick“ des Kreuzes in Schulen geklagt und Recht bekommen, weil der Staat „neutral“ sein müsse. Aber Neutralität verlangt nicht, dass der öffentliche Raum religionslos ist. Das Kreuz ist das Kennzeichen der christlichen Religion, aber was bedeutet es?

 

Das Kreuz mit dem Kreuz als Zeichen des Leidens

Mit dem Kreuz tun sich heute viele Menschen schwer, auch Christen, weil sie darin nur oder vor allem ein römisches Hinrichtungsinstrument sehen. Die weltweit erste evangelisch-lutherische Bischöfin Maria Jepsen hat deshalb vorgeschlagen, das Kreuz durch die Krippe als christlichem Haupt-Symbol zu ersetzen. Der evangelische Theologe Matthias Morgenroth hat aus demselben Grund wiederholt ein Weihnachtschristentum ins Gespräch gebracht (vgl. Diakonia 4/2017, 218-225), und das, obwohl doch Martin Luther sagt: „Crux sola est nostra theologia – das Kreuz allein ist unsere Theologie“ (WA 5,176, 32f).

Luthers Theologie gilt daher in besonderer Weise als „Kreuzestheologie. Nach Walther von Loewenich (Luthers Theologia crucis, München ²1933), bestimmt die Kreuzestheologie Luthers ganzes Denken (3-10). Für den deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani ist gerade der Kult des Gekreuzigten aus islamischer Sicht eine „Leidensvergötterung“ und „Hypostasierung des Schmerzes“, das aber heißt „Gotteslästerung“ und „Götzendienst“, so erstmals in seiner Betrachtung des Altarbildes „Kreuzigung“ (San Lorenzo in Lucina, Rom, 1637/38) des Barockmalers Guido Reni in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (14. März 2009; später wiederholt in Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München ²2015, 50).

 

Der Gekreuzigte als König der neuen Schöpfung

Im ersten christlichen Jahrtausend gibt es so gut wie keine Darstellung des Gekreuzigten als eines Leidenden. Vielmehr steht er auf dem Kreuz wie auf einem Thron in aufrechter Haltung und bekleidet als König der Wahrheit oder König der neuen Schöpfung. Oder das Kreuz erscheint zwischen den vier Urwesen der Ezechiel-Vision vom kosmischen Thron-Wagen als mit Gemmen besetztes Kreuz der Wiederkunft Christi, so als Apsismosaik in den Kirchen in Santa Pudenziana in Rom (5. Jh.) oder Sant’ Apollinare in Classe bei Ravenna (6. Jh.), der alten weströmischen Hauptstadt. In Sant’ Apollinare stehen rechts und links vom Querbalken die Buchstaben Alpha und Omega für Anfang und Ende. Das Kreuz umschließt in diesem Verständnis das Ganze der Schöpfung. Es erscheint im Paradies als „Baum des Lebens“, und es erscheint im hebräischen Alphabet als letzter Buchstabe Taw in der Bedeutung von „Zeichen“ und dem Zahlenwert 400, der für die Materie steht (das Alpeh = Eins steht für den Geist, den einen Gott und den Gottesnamen JHWH, s. u.).

Auch für Paulus hat das Kreuz eine herausragende Bedeutung, so wenn er im 1. Korintherbrief (1,22-24) sagt: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit.“ Paulus sagt aber auch: Wir verkündigen „das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (1 Kor 2,7f).

 

Gottes Weisheit in der Thora und im Kreuz

Die göttliche Weisheit ist der verborgene Heilsplan Gottes, der im Kreuz für den Glauben offenbar wird. Das Kreuzesgeschehen ist kein ungeplantes Unglück, sondern seit jeher in der „Schrift“, das heißt im Alten Testament, angekündigt: „Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er 500 Brüdern zugleich…“ (1 Kor 15,3-6).

Wer und wo die „500 Brüder“ sind, ist viel gerätselt worden. Vor dem Hintergrund des hebräischen Alphabets steht die Zahl 500 (nach dem Taw als 400) für die kommende Welt, also für das Reich Gottes. Nach dem Buch der Weisheit (11,20) hat der Schöpfer „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“. Indem Gott dem Menschen im Glauben Anteil an seiner Weisheit gibt, lehrt er ihn „den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente“ zu verstehen (7,17), aber auch „Gottes Plan“ mit der Welt überhaupt (9,13.17).

Diesen Plan offenbart Gott in der „Schrift“, das heißt vor allem in der Thora, den fünf Büchern des Mose. Der gebürtig aus Basel stammende, heute in Jerusalem lebende Judaist Gabriel Strenger schreibt in seinem Buch Jüdische Spiritualität in der Tora und den jüdischen Feiertagen (Basel 2016) zu den ersten drei Worten der Bibel Bereschit bara Elohim – „Im Anfang erschuf Gott …“ (Gen 1,1), sie bedeuten „laut der Deutung des Sohars: Mit Reschit, der Hauptsache – also der Weisheit – erschuf Gott Himmel und Erde. So sagt der Sohar auch: ‚Gott blickte in die Tora und erschuf die Welt’ – und damit ist natürlich die Tora Keduma, die ursprüngliche, geistige Tora gemeint“.

 

Offenbarung des ewigen Heilsplans im Kreuz

Wenn Gott die Welt in Weisheit erschaffen hat, so müsste man dies doch auch an der Schöpfung erkennen können. Eben dies behauptet Paulus am Anfang des Römerbriefes: „Seit der Erschaffung der Welt wird seine (Gottes) unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit“ (Röm 1,20; vgl. Weish 13,1-9). Wenn die Menschen den Schöpfer trotzdem nicht erkennen, dann deshalb, weil ihr Herz durch die Sünde den Begierden ausliefert, unrein und verblendet ist (1,24-26).

„Wenn unser Evangelium dennoch verhüllt ist“, sagt der Apostel im 2. Korintherbrief (4,3f), dann deshalb, weil „der Gott dieser Weltzeit“, das heißt der Teufel, „das Denken der Ungläubigen verblendet“ hat. „So strahlt ihnen der Glanz der Heilsbotschaft nicht auf, der Botschaft von der Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist. (…) Denn Gott, der [im Anfang] sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.“

Christus als der Gekreuzigte und Auferstandene ist die Weisheit Gottes in Person, die Offenbarung des ewigen Heilsplans, der Herr der Herrlichkeit, das Ebenbild Gottes, das Licht des Anfangs, das in der „Finsternis“ erstrahlt. Aber dies erkennen nur die Gläubigen, die vom Geist Gottes oder vom Logos Gottes „erleuchtet“ wurden (vgl. Joh 1,9). „Erleuchtung“ (griech. photismos) war in der alten Kirche der Terminus für die Taufe (vgl. Hebr 10,32).

 

Die christliche Taufe als „Mysterium der Achtzahl“

Die Taufe als sakramental-existentielle Teilhabe an Kreuz und Auferstehung Jesu wurde auch das „Mysterium der Achtzahl“ genannt, weil der Tag der Auferstehung Jesu der „dritte Tag“ war, was nach dem „sechsten Tag“ der Schöpfungswoche, nämlich dem Freitag, der „achte Tag“ ist, das heißt der Sonn-tag, der zugleich wieder der „erste Tag“ ist, weil es den „achten Tag“ in der Sieben-Tage-Schöpfung ja nur in der Weise der Antizipation der Zukunft gibt.

Im Markus-Evangelium (16,2) heißt es: „Am ersten Tag der Woche“ kamen die drei Frauen mit den wohlriechenden Ölen „in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging.“ Augustinus hat ausgerechnet, dass Jesus insgesamt 40 Stunden im Grab in der Gewalt des Todes war: Nimmt man die Todesstunde am Karfreitag um 15 Uhr dazu, so sind es am Freitag 4 Stunden, am Samstag 24 Stunden und am Ostersonntag bis zum Sonnenaufgang 12 Stunden, zusammen also 40 Stunden. Die Zahl 40 begegnet beim Aufenthalt Israels in der Wüste, bei der Versuchung Jesu in der Wüste durch den Teufel und als Zeit der Unterweisung der Jünger zwischen Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Die nächste Zahl im Alphabet ist die 50; sie wird gelesen als 7 x 7 + 1, das heißt als Überstieg über die Sieben-Tage-Schöpfung analog zur 8 und zum 8. Tag und somit als Symbol der Ewigkeit. In diesem Sinn gießt der Auferstandene seinen Geist am „50. Tag“ aus, griech. pentecoste (= Pfingsten).

Das Kreuz hat nicht die Zahl 40, wohl aber die Zahl 4 von den vier Enden her sowie die Zahl 400, liest man das Kreuz als letzten Buchstaben Taw. Joseph Ratzinger hat in seinem Buch „Einführung in das Christentum“ mit „Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis“ von 1968 Gott als denjenigen vorgestellt, der am Kreuz „von sich aus in Christus das Omega – der letzte Buchstabe – im Alphabet der Schöpfung werden wollte“ (S. 240). Auf der Osterkerze finden sich neben den fünf Wundmalen im Verhältnis 1 (Herzwunde) zu 4 (Male an Händen und Füßen) auch die zwei Buchstaben Alpha und Omega, Anfang und Ende. Im Hebräischen heißen diese Buchstaben Aleph und Taw, in Zahlen 1 und 400 (≈ 1–4). Alpha und Omega und die fünf Wundmale sagen somit im Kern dasselbe.

 

Das Kreuz im Symbol des letzten hebräischen Buchstabens Taw

Das Taw mit der Bedeutung „Zeichen“ wurde ursprünglich kreuzförmig geschrieben und mit dem Kreuz Christi identifiziert, worauf Ratzinger in seinem Buch „Der Geist der Liturgie“ auch hinweist (152-158: Das Kreuzzeichen). Zum Zahlenwert 400 des Taw schreibt der Thora-Gelehrte Friedrich Weinreb, der die letzten 15 Jahre seines Lebens in Zürich verbrachte (er starb 1988): „In den hebräischen Hieroglyphen ist es [das Taw] einfach ein Kreuz, also das Zeichen; denn es deutet die Vierheit an, wie sie auch in dem Zahlenwert des Taw, 400, zum Ausdruck kommt. Für den Hebräer ist der Begriff 400 das Äußerste, das er im Materiellen denken kann“ (Zahl Zeichen Wort, 75).

Nach Gen 15,13 sind die Israeliten „400 Jahre“ in der „Knechtschaft“ in Ägypten im „Exil“ gewissermaßen jenseits des Paradieses der Gottesnähe, das „bedeutet in diese Sinne: immer. Sie können nur herauskommen, wenn diese Welt durchbrochen wird. (…) Die Maße des Landes [Ägypten] werden mit 400 x 400 angegeben. Mit dem Land meint man nicht einen geographischen Begriff, sondern das All, das unendlich ist“ (ebd.). Das Taw markiert das „Ende des Weges der sichtbaren Zeichen [im hebräischen Alphabet] und Anfang der unsichtbaren Zeichen“: „Das Zeichen Taw zeigt ins Ewige“ (Friedrich Weinreb erzählt den Kreuzweg nach sieben Bildern von Roland Peter Litzenburger, 1982, 54).

Beim Propheten Daniel ist von vier Welt-Reichen die Rede, wobei das „vierte, das letzte irdische Reich“, das „Reich Edoms“ oder auch das „Reich Roms“, eigentlich nie endet: „Nach irdischen Maßstäben hat dieses Reich kein Ende“, deshalb „wird Gott selbst eingreifen“ (30f). Das ‚fünfte’ Reich ist das unsichtbare kommende Reich Gottes, die neue, ewige Welt (Dan 7,27). In diesem Sinn verkündet Jesus als der „Menschensohn“ Daniels das Reich Gottes als das Ewige oder das Himmelreich.

Dieses kommende Reich wird nach den irdischen Zahlen 4, 40 und 400 durch die ‚himmlischen’ Zahlen 5, 50 und 500 ausgedrückt, und zwar im Sinn der Verbindung von 4 und 1, 40 und 10 (vgl. Himmelfahrt/Pfingsten) oder 400 und 100; denn in dieser Verbindung besteht der „Bund“ des einen Gottes im Symbol der 1, 10 und 100 mit der mannigfaltigen Erscheinungswelt im Symbol der 4, 40, und 400. Die Summe von 1, 10 und 100 ergibt 111, die 1 auf allen drei Ebenen; zugleich bedeutet es auch Aleph, 1-30-80 = 111.

Abraham ist bei Isaaks Geburt „100 Jahre“ alt (Gen 21,5); genau 400 Jahre später erfolgt nach der biblischen symbolischen ‚Chronologie’ der ‚Auszug aus Ägypten’ über die ‚40 Jahre’ in der Wüste in das verheißene ‚gelobte Land’. Der Weltkatechismus erklärt zu den „Vorzeichen“ der Taufe im Alten Bund, wie sie in der Osternacht zur Sprache kommen, dass dazu auch die Überschreitung des Jordan durch das Volk Israel gehört, durch die Nachkommen Abrahams also, denen das Land der übernatürlichen Fruchtbarkeit als Gottes Geschenk verheißen war – „ein Bild des ewigen Lebens. Die Verheißung dieses seligen Erbes erfüllt sich im Neuen Bund“ (KKK 1222).

 

Die Opferung des 37-jährigen Isaak auf dem Berg Mori-jah

Der Exodus Israels symbolisiert den Übergang von der Zeit zur Ewigkeit, vom 6. Tag der Diesseitigkeit im Symbol Ägypten über den 7. Tag des Übergangs im Symbol der Wüste zum 8. Tag im Symbol des Gelobten Landes – oder von der sterblichen Körperlichkeit über die Seele in die Geistwelt Gottes. Dieser Weg des Übergangs von der Zeit zur Ewigkeit oder von der Welt zum Reich Gottes ist nicht nur im Exodus vorausgebildet, sondern auch im Aufstieg Abrahams und Isaaks auf den Berg Mori-jah, das heißt: Gott ist mein Lehrer, wo Abraham Isaak als Opfer darbringen soll. Beide lassen in der Ebene, im 6. Tag, den Esel (hebr. chamor) als Symbol des Körpers aus „Lehm“ (hebr. chemer) und die zwei Jungknechte zurück.

Isaak ist bei seinem Opfergang 37 Jahre alt; das ist die Differenz zwischen den 90 Jahren Sarahs bei seiner ‚außer-natürlichen’ Geburt und ihrem Tod mit 127 Jahren (Gen 23,1). Die 37 übersteigt die 36 oder die 6 x 6 – die Summe der ersten 36 Zahlen ergibt 666. Dasselbe symbolisiert der Kreuzweg Jesu vom Karfreitag (6. Tag) über den Karsamstag (7. Tag) zum Ostersonntag als 8. Tag: Jesus ist selbst dieser „Weg“ (Joh 14,6) als „lebendiges Gleichnis“ (so die jüdische Mystikerin Simone Weil) und als „Wahrheit“ (hebr. emeth, 1-40-400).

Isaak trägt das Feuerholz für das Brandopfer „wie ein Kreuz“, wie es in einem jüdischen Midrasch heißt. Der Ingeborg-Psalter (um 1200) zeigt den kreuztragenden Isaak mit dem Chi-Kreuz (= X). Das Chi symbolisiert in Platons Naturphilosophie „Timaios“ die Weltseele; Justin der Märtyrer (2. Jh.) identifiziert dieses Chi mit dem Kreuz Christi (Simone Weil mit dem Logos). Joseph Ratzinger folgert: „Das Kreuz von Golgotha ist vorausgebildet in der Struktur des Kosmos selbst… Der Kosmos spricht uns vom Kreuz, und das Kreuz enträtselt uns den Kosmos. Es ist der eigentliche Schlüssel aller Wirklichkeit“ (Der Geist der Liturgie, 155f).

 

Die kosmische Kreuzestheologie und -frömmigkeit der antiken Kirche

Ähnlich hatte sich auch schon der hl. Bonaventura geäußert, über dessen Verständnis der Offenbarung Joseph Ratzinger seine Habilitation geschrieben hat. Für den großen Franziskanertheologen ist Kreuz „schlechterdings der Schlüssel zu allem; omnia in cruce manifestantur“. Hugo Rahner (der ältere Bruder von Karl Rahner) hat die Kreuzestheologie der alten Kirche in seinem Buch „Griechische Mythen in christlicher Deutung“ (1945) dargestellt, was der Theologe Johannes Holdt so zusammenfasst:

„Im Kreuz sieht die antike Theologie und Frömmigkeit den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis nicht nur des Neuen, sondern auch des Alten Testaments. ‚Es gehört wiederum zu den fundamentalen Sätzen der urchristlichen Symboltheologie, dass alles, was Gott im Alten Testament offenbart hat, angefangen vom ‚Baum des Lebens‘ (Gen 2,9) bis zur persönlichen Weisheit Gottes, in der sich dieser Baum des Lebens verkörpert (Prov. 3,18), nur gesprochen wurde im Blick auf das kommende Heilsgeschehen im Kreuztod der menschgewordenen Weisheit. Darin besteht das Wesen des gesamten Alten Testaments, eine einzige ungeheure Parabel zu sein, in der sich die Zukunft verhüllt, um sie zugleich dem Wissenden offenbar zu machen. Der Alte Bund enthält alle ‚Mysterien des Logos‘.

Noch genauer: er enthält das ‚Mysterium des Kreuzes‘, sagt Justin… Die typologische Regel zur Entschlüsselung des Alten Testaments im Licht des Kreuzes lautet: Alles Holz des Alten Bundes – die rettende Arche Noah, der wasserspendende Holzstab des Mose, das Holzgerüst, an dem die eherne Schlange hing… – ist Vorausbild des Kreuzesholzes. Den herausragenden Platz in dieser Kreuz-Typologie nimmt das Holz des paradiesischen Lebensbaums ein“ (Hugo Rahner. Sein geschichts- und symboltheologisches Denken, Paderborn u. a. 1997, 106f).

 

Der Baum des ewigen Lebens als Schlüssel für den Tempel

Dieser Baum des Lebens steht zusammen mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in der einen „Mitte des Gartens“ (Gen 2,9). Auch hier ist wiederum viel gerätselt worden, was die beiden Bäum bedeuten. Der Schweizer Alttestamentler Andreas Schüle sagt, die Interpretation der beiden Bäume sei „ein letztlich nicht lösbares Rätsel“ (Die Urgeschichte [Genesis 1–11], Zürich 2009, 62).

Friedrich Weinreb hingegen hat gezeigt, dass die Summe der hebräischen Buchstabenzahlen bei den beiden Bäumen 233 und 932 ergibt, das aber ist genau das Bundesverhältnis 1 zu 4. Der Baum des ewigen Lebens steht also für den Himmel, die Ewigkeit, den Geist, der Baum der Erkenntnis für die Erde, die Zeit, den Körper. Beide sind im Bund segensreich verbunden, im Sündenfall als Bundesbruch aber werden sie getrennt und so letzterer zum „Fluch“ Gottes (Gen 3).

Weinreb hat zudem darauf hingewiesen, dass die Thora, die fünf Bücher Mose, als ‚Buch des Bundes’ die Struktur 1 zur 4 hat: Genesis = 1, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium = 4. Im Judentum wird die Thora als Einheit verstanden und deshalb als „Baum des Lebens“, genauer: als „Schüssel“. Schlüssel, hebr. mafteach, von petach, Öffnung, Tür, ist eng verwandt mit pesach = Ostern. Weinreb schreibt: „Sobald der Mensch vom Baum der Erkenntnis nimmt, ist der Weg zum Baum des Lebens, der Weg zum Tempel, verschlossen. (...) Aber am Ende der ersten sechsundzwanzig Geschlechter wird dem Menschen die Offenbarung am Sinai gegeben. Das ist nichts anderes, als dass Gott dem Menschen den Schlüssel gibt, den Baum des Lebens. Hier hast du ihn wieder, sagt Gott, du brauchst ihn nur zu nehmen, dann geht dir der Weg wieder auf“ (Opfer in der Bibel, 107f). Nach diesem Verständnis ist die Thora als Baum des Lebens wie das Kreuz als Baum des Lebens der Schüssel zum Weg in den himmlischen Tempel oder zum ewigen Leben mit dem einen Gott.

 

Der Sohn Gottes erbaut die Welt und die Kirche

Im Grunde ist der Paradiesgarten als Ort der Gottesnähe oder Himmel auf Erden schon das „Urbild des Tempels“ (Hartmut Gese). Der Tempel wiederum ist das Vorausbild der Kirche, die von der Taufe her „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) ist und das „im Mysterium schon gegenwärtige Reich Gottes“, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt (Lumen gentium 3). Als „Paradies“ ist die Schöpfung vor dem Sündenfall auch schon Vorausbild des Reiches der Gottesherrschaft als Gottesnähe. Und die Bibel ist nach dem Verständnis der jüdischen, aber auch der christlichen Mystik als Offenbarung von Gottes „Weisheit“ der „Bauplan“ der Schöpfung und damit auch der Kirche beziehungsweise des Gottesreiches.

Jesus ‚baut’ ja seine Kirche auf den ‚Felsenmann’ Petrus, das heißt auf dessen geistgewirktes Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu (Mt 16,16-18). Im Hebräischen kommt das Wort für ‚Sohn’, ben, vom Wort für ‚bauen’, boneh: Der Vater, hebr. ab (vgl. Abt), baut das ‚Haus’ (hebr. beth) der Welt und dann das Haus der Kirche, das Haus Gottes (Beth-el) oder sein Reich, mit dem Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes, den der Sohn am „50. Tag“ (= pentecoste) nach seiner österlichen Auferstehung ausgießt. Ab ist in den hebräischen Buchstabenzahlen 1-2, ben ist 2-50; die 50 ist als 7 x 7 + 1 analog zur 8. Das heißt, der Vater erbaut die Welt im Sohn und im Heiligen Geist aus Liebe für die ewige Liebesgemeinschaft mit ihm, dem drei-einen Gott.

 

Der Mensch als Bild/ Diener Gottes und der Götzendienst

Nach dem Großen Glaubensbekenntnis ist Jesus Christus „Gottes eingeborener Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater…“ Die Schöpfung als von Gott geschaffene, nicht gezeugte Wirklichkeit aber ist in der vergänglichen Zeit; sie ist nicht Gott von Gott und Licht vom Licht, nicht Licht ohne Finsternis (1 Joh 1,5), sondern auch und nach dem Sündenfall vor allem „Finsternis“, wie der Johannesprolog sagt: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis…“ (Joh 1,5; vgl. Eph 6,12). „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihr Taten waren böse“ (Joh 3,19).

Das Böse lässt sich nur denken, wenn es geschöpfliche, endliche Freiheit gibt, sich für oder gegen das Gute entscheiden zu können. Freiheit wiederum setzt Personalität voraus, die dem Menschen vom Schöpfer mitgeteilt wird, indem er ihn unmittelbar als sein „Bild“ erschafft (Gen 1,26f); die nicht-personalen Tiere werden nur mittelbar erschaffen. Das biblische Bilderverbot, wie es dann besonders der Islam herausstellt, bezieht sich auf den Götzendienst mit heidnischen Kultstatuen im Tempel, nicht auf den Menschen als dem eigentlichen „Bild Gottes“ und „Tempel des Heiligen Geistes“ (Gen 1,26-28; 1 Kor 6,19), was der Islam so nicht sagen würde und von seinem Gottesbild her auch nicht sagen kann.

Denn im Koran wird der Mensch nicht als gottähnlich verstanden, was gerade die Voraussetzung der Menschwerdung des Sohnes Gottes und der Gotteskindschaft des Menschen ist (vgl. 1 Joh 3,2). Durch den Sündenfall, den es im Koran ebenfalls nicht gibt, ist diese Gottesähnlichkeit des Menschen entstellt; das betrifft gerade auch sein geistiges Sehen: Im Sündenfall gehen die zwei Augen auf (Gen 3,7), aber zugleich schließt sich das eine ‚dritte’ Auge der Kontemplation, das oculus contemplationis, wie die mittelalterliche Mystik sagt. Jetzt sieht der Mensch nur noch das äußerlich Erscheinende und wird damit anfällig für den Götzendienst, den Dienst am Äußeren.

Als Prototyp des Götzendieners und des Bösen gilt biblisch Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt (vgl. 1 Joh 3,12). Abel ist Hirte von Tieren, die vom 6. Tag sind, Kain ist „Bauer“ von Pflanzen, die vom 3. Tag sind; er wird als „Diener der Erde“ (hebr. Oved Adamah: Gen 4,2) bezeichnet, das heißt eben als „Götzendiener“. Die Schlange im Paradies steht für den kanaanäischen Fruchtbarkeitskult und damit für den heidnischen Götzendienst überhaupt. Götzendiener ist der Mensch dann, wenn er in der äußeren, vergänglichen Frucht den Sinn seines Lebens sucht.

 

Ein naturwissenschaftlicher Weg zu Gott?

Im Juli 2020 ist das Buch „Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität“ des bekannten Biophysikers und Christen Markolf H. Niemz (Heidelberg) erschienen (Gütersloh). Niemz interpretiert darin die christliche Dreifaltigkeit so: „Gott ist Schöpfer (‚Vater’), Schöpfung (‚Sohn’) und Kreativ-Sein (‚Heiliger Geist’). Der Heilige Geist steht für ‚Atem’ oder ‚Wind’, also für das, was dem Kosmos Leben einhaucht.“

Der naturwissenschaftliche Weg hat für Niemz „den großen Vorteil, dass er ohne Personifizierung des Göttlichen auskommt. Er lässt folglich keine Feindseligkeiten entstehen. Christentum, Islam und Judentum haben gemeinsame Wurzeln, aber ihre Anhänger streiten sich über die Bedeutung eines Jesus von Nazareth. Die Christen betrachten ihn als Sohn Gottes, die Muslime als Propheten Gottes. Nach jüdischer Auffassung könne ein Mensch nicht göttlich sein; außerdem hätten die Christen mit ‚Gottes Sohn’ ein verbotenes Bild von Gott. In diesem Punkt ist der christliche Glaube tatsächlich inkonsistent, denn auch in der Bibel steht, dass wir uns kein Bild von Gott machen sollen. Eine Personalie ist der Hintergrund für blutige Glaubenskriege. Jesus würde sich im Grab umdrehen, wenn er noch könnte! Doch dieser Konflikt lässt sich auflösen, wenn wir den ‚Sohn’ als namenlose Metapher begreifen: als ‚Ei’ oder ‚Schöpfung’“ (katholisch.de, 27. Juli 2020).

Auf die Fragen „Was kam zuerst – Huhn oder Ei, Schöpfer oder Schöpfung?“ antwortet Niemz, das beides sich gegenseitig bedingt: „Ein Gott, der Schöpfer und Schöpfung zugleich ist, entfaltet sich“, so Niemz unter Berufung auf die christliche Mystik. Die christliche und auch die jüdische Mystik und eben auch die Dogmatik sagen freilich etwas ganz anderes.

 

Gottes Sohn versöhnt das Unsichtbare und das Sichtbare

Für den christlichen Glauben stellt der Sohn Gottes durch seine Fleischwerdung, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung die im Sündenfall entstellte Gottebenbildlichkeit des Menschen wieder her. In einer orthodoxen liturgischen Dichtung (Tropaion) der Vorfeier von Weihnachten heißt es: „Christus wird geboren,/ um das einst gefallene Bild Gottes wieder aufzurichten.“

Der Sohn ist nicht die Schöpfung, sondern als Logos das Schöpferwort und als Weisheit oder Thora Keduma so etwas wie der innere oder geistige „Bauplan“ der Schöpfung, das heißt auch Bauplan beziehungsweise Bauherr der Kirche als „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17). Ja, als der Auferstandene ist er selbst der von ihm neu erbaute, von den Mächten des Todes nicht zerstörbare Tempel des Geistes (Joh 2,19-21). Zugleich ist er dessen Schluss-Stein: „Durch ihn“, sagt der Epheserbrief (2,20-22), „wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr im Geist zu einer Wohnung Gottes erbaut.“

In diesem Sinn ist jeder Getaufte zur Heiligkeit als der ursprünglichen Gottesnähe des Paradieses berufen (1 Thess 4,3; Eph 2,13.17; 4,24; Lk 23,43) oder dazu, in seiner Leiblichkeit heiliger „Tempel des Heiligen Geistes“ zu sein (1 Kor 6,19), und zwar in Einheit mit der heiligen Kirche als „geistigem Haus“ aus „lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,4). Im Kolosserbrief-Hymnus (1,15-20) heißt es von Jesus:

„Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten, alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erde wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“

 

Gottes Name als Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe

Gott erschafft im Anfang die Zweiheit von Himmel und Erde, Geist und Materie, unsichtbarer und sichtbarer Welt als Bund hin auf die Einheit der Gegensätze als ‚achten Tag’. Das letzte, zusammenfassende Schöpfungswerk in der Sechs-Tage-Schöpfung ist der Mensch in der Zweiheit von Mann und Frau als ‚achte’ Schöpfertat. Zehnmal heißt es in Gen 1: „Und Gott sprach“. Diese ‚Zehn Worte’ entsprechen den ‚Zehn Geboten’. Auf der ersten Tafel stehen die 5 Gebote der Gottesliebe, auf der zweiten Tafel die 5 Gebote der Nächstenliebe (in jüdischer Zählung). Die Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe ist die Heiligung des Gottesnamens, denn JHWH ist in Zahlen 10-5-6-5, das heißt 10 = 5 + 5 (Waw = ‚Haken’).

JWHW ist, wie Weinreb sagt, „das Sein überhaupt, das ‚howeh‘, 5-6-5, wodurch alles andere existiert“ (Der Weg durch den Tempel, 284). Ähnlich sagt Gabriel Strenger zum Gottesnamen JHWH: „Gott ist demnach das Sein an sich, und alles jeweils Seiende schöpft sein Sein aus Ihm.“ „Der Ewige aber ist vollendete Gegenwärtigkeit (JHWH bedeutet ‚Sein‘)“ (Die Kunst des Betens, 18; 153). Im Johannes-Evangelium erscheint der fleischgewordene Logos als der „Ich bin“ des Gottesnamens. Die sieben „Ich bin“-Bildworte (z. B. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“) werden zusammengefasst im Kreuz als gleichsam achtes „Ich bin es“, das heißt in der endgültigen Offenbarung des Namens Gottes.

Dieser Name wird Mose im brennenden, aber nicht verbrennenden Donbusch offenbart (Ex 3). Mose ist die 26. Generation nach Adam, JHWH ist in den Zahlenwerten der hebräischen Buchstaben 10-5-6-5, in der Summe 26 oder zweimal 13 (analog zu 5 + 5). Denn hebr. ahawah (Liebe) ist in Zahlen 1-5-2-5 = 13; 2 x 13 als zweimal Liebe ergibt die 26 des Namens als Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe.

Am Kreuz offenbart Jesus den Gottesnamen „Ich bin“, der er selbst ist: Jesus = JHWH rettet. Aber er offenbart ihn auf neue Weise, nämlich so, dass alle, die mit ihm in der Teilhabe an seinem heiligen „Fleisch“ und „Blut“ im eucharistischen Brot und Wein eins sind, auch mit dem Vater im Heiligen Geist eins sind (Joh 6,54-57; 17,6.21). Benedikt XVI. kann daher im ersten Band seiner Jesus-Trilogie sagen: „Am Kreuz ist Jesus auf der ‚Höhe‘ Gottes, der die Liebe ist. Dort kann man ihn ‚erkennen‘, kann erkennen, dass ‚ich es bin‘. Der brennende Dornbusch ist das Kreuz. Der höchste Offenbarungsanspruch, das ‚Ich bin es‘ und das Kreuz Jesu sind untrennbar“ (Jesus von Nazareth I, 401).

 

Der Name Jesus: „Retter“ und „Herr“

Den Namen „Jesus“ bedeutet JHWH rettet; deshalb verkünden die Engel bei der Geburt Jesu in Bethlehem: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr“ (Lk 2,11). Messias, hebr. Mashiach, griech. Christos, ist der Geist-Gesalbte und so der „König des achten Tages“; denn das Salböl (hebr. schemen, 300-40-50) des Geistes hat denselben Stamm wie das Wort für acht, hebr. schmonah, (300-40-50-5), und denselben Zahlenwert wie das Wort für Himmel, hebr. schamajim, 300-40-10-40 = 390 (vgl. Weinreb, Schöpfung im Wort, 236-240).

Herr, griech. Kyrios, ist die Übersetzung des Gottesnamens JHWH. Den Namen Jesus geben auf Anweisung des Engels Maria bei Lukas (1,31) und Josef bei Matthäus (1,21). Auf Hebräisch heißt der Name Jehoschua (10-5-6-300-70), statt des zweiten He des Gottesnamens steht dort 300-70 = 370 analog zur 37. Auch hebr. schalom, 300-30-40, hat die 370. Jehoschua oder Josua ist am Ende der Thora der Nachfolger des Mose, der das Volk ins Gelobte Land führt; er heißt auch „Sohn des Nun“ (Dtn 34,9), und Nun ist die Fünfzig. Dem Gelobten Land entspricht der 8. Tag der Auferstehung oder der 50. Tag der Geistsendung, wodurch die Schöpfung zur „neuen Schöpfung“ wird.

Jesus ist der „Erstgeborene der Schöpfung“ durch seine jungfräuliche Fleischwerdung. Denn die geisterfüllte Jungfrau Maria steht für die ganze Schöpfung, von der Paulus sagt, dass sie „bis heute in Geburtswehen“ liegt (Röm 8,22). Maria empfängt und gebiert Jesus aber nicht auf natürliche Weise, sondern auf übernatürliche oder „jungfräuliche“ Weise, das heißt als „neuer Anfang“ in der ursprünglichen Einheit von Schöpfer und Schöpfung vor dem Sündenfall im Paradies.

 

Maria als Schlangenzertreterin und Siegerin über das Böse

Maria ist die ganz und gar Sündlose, von Anfang an „Makellose“ und so die paradiesische Frau, wie sie in vielen Marienliedern besungen wird, so auch in dem Lied „Die Schönste von allen“ mit Bezug auf das Hohelied der Liebe. Es wurde 1927 von dem lothringischen Priester, Volksliedsammler und Volkskundler Louis Pink aufgezeichnet. Darin wird Maria auch besungen als heldenhafte Schlangenzertreterin: „Ihr Haupt ist gezieret mit goldener Kron,/ das Zepter sie führet am himmlischen Thron;/ ein sehr starke Heldin, mit englischem [= engelhaftem] Schritt/ der höllischen Schlange den Kopf sie zertritt“ (GL 889, Eigenteil Freiburg/ Rottenburg-Stuttgart).

Das Motiv des Schlangenzertretens kommt vom Vers Genesis 3,15, der als Proto-Evangelium gilt, weil hier schon der Sieg des Messias über das Böse verheißen ist: „Feindschaft setzte ich zwischen dich (Schlangerich) und die Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse.“ Die „Feindschaft“ zwischen Gott und Mensch rührt von der Ursünde her, also des Sündenfalls durch die Versuchung der sprechenden Schlange.

Was aber ist gemeint mit dem „großen Drachen“, der „alten Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt“ (Offb 12,9)? Und was hat die „Frau“ damit zu tun, also Eva beziehungsweise die neue Eva Maria und auch die Kirche, die auch die neue Eva ist? Im 2. Korintherbrief (11,2f) schreibt Paulus: „Ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen. Ich fürchte aber, wie die Schlange einst durch ihre Falschheit Eva täuschte, könntet auch ihr in euren Gedanken von der aufrichtigen und reinen Hingabe an Christus abkommen.“

Glaube wird hier als „Verlobung“ zwischen Christus und der Kirche verstanden, wobei „die Feier der Verlobung unter Juden bereits eine echte Hochzeit war“: Die Verlobte wurde schon „Braut“ genannt“. „Wenn ein Kind empfangen wurde, wurde dieses als ehelich angesehen; (…) um die Verlobung zu unterbrechen, war eine echte Scheidung notwendig“ (Stefano M. Manelli, Biblische Mariologie, 2018, 145, Anm. 318).

 

Der Bund des Feuers und das Bundeszeichen der Beschneidung

Im Judentum betet der Gläubige beim Befestigen des Gebetsriemens mit drei Ringen um den Mittelfinger (nach Hos 2,21f): „Ich (Gott) verlobe dich Mir in Ewigkeit, Ich verlobe dich Mir durch Gerechtigkeit und Recht, mit Liebe und Barmherzigkeit. Ich verlobe dich Mir durch Treue, damit du den Ewigen erkennst“ (Strenger, Die Kunst des Betens, 67). Die Gebetsriemen (Tefillin) werden „ – wie die Beschneidung – von der Tora als leibliches ‚Zeichen’ (Ot) für den Bund zwischen Israel und dem Ewigen bezeichnet“. Die ‚Verlobung’ des ‚Glaubens’ als ‚Angeloben’ bedeutet also das erneute Schließen des Bundes mit Gott.

Seinen Bund schließt der Schöpfer schon „im Anfang“ mit seiner geliebten Schöpfung: Bereschith, das erste Wort der Bibel, wird auch gelesen als Berith-Esch: Bund des Feuers. Das Feuer steht für die Liebe des Heiligen Geistes, mit der der Schöpfer seine Schöpfung erschafft, umfängt und vom Bösen erlöst. Die Erlösung geschieht jüdisch durch das Bundes-Zeichen der Knabenbeschneidung am „achten Tag“ und christlich durch die Taufe als Wiedergeburt im Geist in achteckigen Becken und Baptisterien. Ihr Urbild hat die Taufe aber nicht nur in Kreuz und Auferstehung Jesu, sondern eben auch in seiner geisterfüllten Jungfrauengeburt. Durch sie ist er der „Erstgeborene der Schöpfung“ als neue Schöpfung, durch  die Auferstehung ist er der „Erstgeborene der Toten“.

Das Zeichen der Jungfrauengeburt ist ein österliches Zeichen des Bundes wie das der Auferstehung aus dem Höhlengrab der ‚Mutter Erde’; die Taufe als Zeichen des neuen Bundes schließt beides ein. Beim Kirchenvater Cyrill von Jerusalem wird die Taufe als ‚Drachenkampf’ verstanden. Noch heute ist mit jeder Taufe die ‚Absage an den Satan’ verbunden: „Widersagt ihr dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben“ (GL 573.8). Papst Franziskus spricht sehr oft vom Teufel; das irritiert die liberale westliche Theologie, weil sie den Teufel längst ‚verabschiedet’ hat.

 

Sintflut und Arche: Sinnbild der Taufe und des Kreuzes

Ein weiteres alttestamentliches Vorausbild der Taufe ist neben der Beschneidung am ‚achten Tag’ auch die Sintflut und die Rettung in der Arche des ‚gerechten’ Noah, der ‚zehnten’ Generation nach Adam. Durch sie werden genau ‚acht’ Menschen gerettet: Noah, seine drei Söhne und ihre vier Frauen (Gen 7,7). In 1 Petr 3,20f heißt es: In der Arche „wurden nur wenige, nämlich acht Menschen, durch das Wasser gerettet. Dem entspricht die Taufe, die jetzt euch rettet.“ Und in 2 Petr 2,5 wird gesagt: Gott „hat auch die frühere Welt nicht verschont, nur Noah, den Verkünder der Gerechtigkeit, hat er zusammen mit sieben anderen als achten bewahrt, als er die Flut über die Welt der Gottlosen brachte.“

Der Name Noah ist in Zahlen 50-8. Gott schließt mit Noah als ‚neuem Adam’ den Bund neu im Zeichen des Regenbogens, nachdem er im ‚ersten Adam’ durch den Sündenfall gebrochen worden ist. Wie die Sintflut Sinnbild der Taufe ist, so ist die Arche Sinnbild der Kirche. Das „winzige Holz“ oder „Floß“ kann aber auch Sinnbild des rettenden Kreuzes sein; denn im Weisheitsbuch (14,6) heißt es: „So hat auch in der Urzeit beim Untergang der übermütigen Riesen die Hoffnung der Welt sich auf ein Floß geflüchtet und, durch deine (Gottes) Hand gesteuert, der Welt den Samen eines neuen Geschlechtes hinterlassen. Denn Segen ruht auf dem Holz, durch das Gerechtigkeit geschieht.“

Segen und Fluch Gottes sind Folge des Bewahrens des Bundes oder des Bruchs des Bundes. Am Kreuz schließt Jesus als das „Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“ (Joh 1,29), den neuen und ewigen Bund in seinem „kostbaren Blut“ (1 Petr 1,19); dazu war das „Lamm ohne Fehl und Makel … schon vor der Erschaffung der Welt … ausersehen“ (V.20). Immer geht es in der Bibel darum, den Bruch des Bundes zu heilen und so den Segen des Schöpfers wieder der ganzen Schöpfung zukommen zu lassen und sie so mit Leben und Gnade zu erfüllen.

 

Das Kreuz als Zeichen des neuen Bundes umschließt Juden und Heiden

Der mit dem Opfertod des Sohnes Gottes am Kreuz errichtete neue und ewige Bund ist dabei unverbrüchlich, weil jetzt Gott selbst in seinem Sohn und seinem Geist direkt involviert ist. Dieser Bund versöhnt den Gegensatz von Himmel und Erde, unsichtbarer und sichtbarer Welt, aber auch den Gegensatz von Juden und Heiden, von dem einen Bundesvolk Israel und den vielen Völkern.

So heißt es im Epheserbrief (2,15f) vom Gekreuzigten, er hat Juden und Nicht-Juden „in seiner Person zu dem einen neuen Menschen“ gemacht: „Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet“ (Eph 2,15f). In diesem Sinn ist Jesus gerade nicht Ursache des Streits um „Personalien“, er ist vielmehr umgekehrt die Ursache des Friedens.

Als der Auferstandene kann er dann den Jüngern seinen Geist der Sündenvergebung einhauchen – wie Adam vom Schöpfer der Geist des Lebens eingehaucht wurde (Gen 2,7; Joh 20,22f). Und er kann ihnen seinen Osterfrieden mitteilen, wie ihn die Welt nicht geben kann (Joh 14,27; 20,19); denn in ihm ist der ursprüngliche Paradiesfriede wieder da. Das Kreuz ist das Zeichen dieses neuen Bundes und zugleich der neue Baum des (ewigen) Lebens mit der Eucharistie als seiner Frucht (Offb 2,7).

 

Ist der Kampf mit dem Drachen ein Kampf gegen das Matriarchat?

Die „Landschaftsmythologin, Ritualfrau, zertifizierte Natur- und Landschaftsvermittlerin, Referentin für moderne Matriarchatsforschung, Leiterin matriarchaler Jahreskreisfeste und Referentin für Frauenthemen im katholischen Bildungswerk Salzburg“, Renate Fuchs-Haberl (Kufstein), hat am Gedenktag des ritterlichen Drachenkämpfers Georg, dem 23. April (2020), in einem Vortrag den Drachenkampf des heiligen Georg als Kampf des Christentums gegen das Heidentum gedeutet. Stehen doch die den ersten Glaubensboten geweihten „Gotteshäuser mit besonderer Vorliebe an ehemals heidnischen Opferstätten“.

„Der Drache und die Drachin stehen für die Kräfte der Elemente. Aus dem asiatischen Raum kennen wir sie noch, die Wasser-, Feuer-, Luft- und Erddrachen, die dort noch Glückssymbole sind, da ohne ihre Kräfte kein Leben auf der Erde möglich wäre. In der Geomantie werden die Energiebahnen der Erde als ‚Drachenlinien’ bezeichnet.“ Fuchs-Haberl sieht in Georgs Drachenkampf also nicht den „Sieg des Guten über das Böse“ symbolisiert, über Sünde, Tod und Teufel als Sieg des Glaubens über die Welt (s. u.); vielmehr erscheint darin für sie „die Abwertung und Diffamierung der erdverbundenen, matriarchalen Spiritualität als ‚das Böse’“.

Das wird gleichzeitig mit der heutigen Umweltproblematik kurzgeschlossen: „Was nicht mehr als heilig betrachtet wird, kann von den Konzernen gnadenlos bis zum letzten Rest zur Ressource gemacht werden.“ Demgegenüber hätten die vorchristlichen Religionen und Riten im Einklang mit der Natur die Vegetation und Fruchtbarkeit der „Mutter Erde“ im Frühling geweckt durch Sonne, Wind und Regen. „In indigen-matriarchalen Kulturen sahen die Menschen in diesen Naturkräften den Herosgeliebten der Erde, mit dem sie ‚Heilige Hochzeit’ feierte. Überall dort, wo sich ein Sonnenstrahl, ein Regentropfen, ein Windhauch mit einem ihrer unzähligen Blütenkelche vereinigte. Vielleicht sticht Georg mit seiner Lanze den Drachen oder, besser gesagt, die Drachin gar nicht ab? Vielleicht will er sie gar nicht töten, sondern nur seine ‚Lanze’ wieder in ihr versenken dürfen…“ – so beim Brauchtum des Georgifestes.

Die Lanze des heiligen Georg wird auf diese Weise unter der Hand zum Phallus-Symbol, das Georgifest verkappten irdischen Fruchtbarkeitskult. Die Lanze ist aber nicht horizontal siegreich über das Böse, sondern als vertikaler Kreuzstab, der Himmel und Erde verbindet. In ihm drückt sich der geistige Sieg des Glaubens über die Welt in der Kraft des Kreuzes aus.

 

Das Kreuz als Zeichen des Sieges des Glaubens über die Welt

Im 1. Johannesbrief (5,4-6) heißt es: „Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. Wer sonst besiegt die Welt außer dem, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist? Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus.“ Wasser und Blut fließen aus der geöffneten, von einer Lanze durchbohrten Seite des Gekreuzigten (Joh 19,34); es sind die Zeichen für Taufe und Eucharistie als den Zeichen des neuen Bundes in Einheit mit dem am Kreuz ‚ausgehauchten’ beziehungsweise ‚überlieferten’ Heiligen Geist (19,30; vgl. 1 Joh 5,8). Das Kreuz ist Zeichen des neuen Bundes und so des Sieges über Sünde, Tod und Teufel.

Mit dem Teufel als ‚Versucher’ hat es Jesus von Anfang an zu tun. Die Geheime Offenbarung des Johannes (12,9) identifiziert Schlange, Drache und Teufel. Schon die Erschaffung der Welt wird im Alten Testament als „Drachenkampf“ dargestellt (vgl. Ps 74,13f; Ps 104,7-9; Ijob 26,12f; Jes 51,9f; Jer 5,22). „Schöpfung bedeutet in der Bibel geradezu den Sieg Gottes über das Meerungeheuer“, so der Judaist Daniel Krochmalnik. Dieser Sieg erst schafft „Raum für die Weltordnung und den Menschen“.

In den Fruchtbarkeitskulten wurde nicht nur die ‚Heilige Hochzeit’ gefeiert, meist auch rituell vollzogen zwischen Priester und Priesterin. Es mussten den (Natur-)Göttern auch immer neu Menschen geopfert werden, um die kosmische Ordnung in Gang zu halten (bei den Azteken waren es Zehntausende, weshalb auch ständig Kriege geführt wurden, um an neues ‚Opfermaterial’ heranzukommen). Im biblischen Gotteskult geht es dagegen nicht um die natürliche Fruchtbarkeit, sondern um die übernatürliche Fruchtbarkeit des Glaubens und der Liebe. Weil Gott selbst sich aus Liebe für die Welt restlos für die Fülle des Lebens des Menschen einsetzt bis hin zum Opfertod seines Sohnes am Kreuz (Joh 3,16), ist der Mensch aus der Angst und Sorge um sein eigenes Dasein befreit (Mt 6,25-32).

Der Hebräerbrief (2,14f) sagt: Jesus hat „Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren.“ Der Teufel hat Gewalt über den Tod und ist deshalb der „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31), weil in der gefallenen Natur Geburt und Tod einander entsprechen: Was geboren wird, muss auch sterben. Im Paradies wird nicht gezeugt oder geboren und auch nicht gestorben analog zum Himmel: Proton und Eschaton, das Erste und das Letzte entsprechen einander. Der Teufel gilt biblisch als gefallener Engel. Die Eucharistie als Antizipation des eschatologischen „Hochzeitsmahles des Lammes“ (Offb 19,9) wird wieder in Gemeinschaft mit den heiligen Engeln im Himmel gefeiert (vgl. Hebr 12,22f).

 

Die „Umkehr“ des Sündenfalls Evas durch die neue Eva Maria

Im Hebräischen hat ‚Schlange’ den männlichen, nicht weiblichen Artikel. Die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils vergleicht in Ziffer 63 zwei Dialoge, den Evas mit der Schlange als gefallenem Engel und den Marias als neue Eva mit dem Engel Gabriel bei der Menschwerdung des Sohnes Gottes (die es so beide im Koran nicht gibt, dort hat die Frau Adams auch keinen Namen):

„Im Geheimnis der Kirche, die ja auch selbst mit Recht Mutter und Jungfrau genannt wird, ist die selige Jungfrau Maria vorangegangen, da sie in hervorragender und einzigartiger Weise das Urbild sowohl der Jungfrau wie der Mutter darstellt. Im Glauben und Gehorsam gebar sie den Sohn des Vaters auf Erden, und zwar ohne einen Mann zu erkennen, vom Heiligen Geist überschattet, als neue Eva, die nicht der alten Schlange, sondern dem Boten Gottes einen von keinem Zweifel verfälschen Glauben schenkte. Sie gebar aber einen Sohn, den Gott gesetzt hat zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern (Röm 8,29), den Gläubigen nämlich, bei deren Geburt und Erziehung sie in mütterliche Liebe mitwirkt.“ Der Erstgeborene der Schöpfung und der Toten ist auch der Erstgeborene unter vielen Brüdern, nämlich den Gläubigen, die durch die Taufe an seiner übernatürlichen Geist-Geburt Anteil erhalten.

Das ‚Überschattet-sein’ vom Geist verweist auf das alttestamentliche Heiligtum am Ende des Buches Exodus, das Mose als „Wohnstätte Gottes“ erbaut: „Dann verhüllte die Wolke [der Gegenwart Gottes] das Offenbarungszelt, und die Herrlichkeit des Herrn erfüllte die Wohnstätte“ (Ex 40,34); entsprechend heißt es bei der Fleischwerdung des Logos: „…und wir haben seine Herrlichkeit gesehen“ (Joh 1,14). Mose „vollendete“ so „das Werk“ (V.33), wie auch Gott am Ende des sechsten Tages sein Werk der Schöpfung „vollendete“ (Gen 2,1-3). Der fleischgewordene Logos wiederum sagt am Kreuz: „Es ist vollbracht/vollendet“ (Joh 19,30).

 

Die Heilige Hochzeit als eschatologisches Zielbild der Schöpfung

Das Werk der Schöpfung ist mit dem ‚siebten Tag’ oder Sabbat aber erst vorläufig vollendet, so wie auch die Verlobung noch nicht die endgültige Hochzeit ist. Diese endgültige ‚Heilige Hochzeit’ kommt erst mit dem ‚achten Tag’ jenseits der Sieben-Tage-Schöpfung. Aber sie wird doch im jüdischen und christlichen Kult auch schon im Geist antizipiert; Weinreb schreibt:

Hier, heißt es, gibt es nur die Verlobung, hebräisch ‚arissa‘, auch ‚Backtrog‘. Der Teig ist da, um das Brot zu backen; das Brot kommt erst bei der Hochzeit, es braucht das Feuer. Wasser, da ist Verlobung – Feuer: Ewigkeit, dann erst ist Ehe, das Brot ist da“ (Das Markus-Evangelium, 755). Und: „Der achte Tag ist die Hochzeit zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, eine in den sieben Tagen vorbereitete Hochzeit“ (Schöpfung im Wort, 833).

Brot heißt hebräisch lechem, Beth-lehem ist das „Haus des Brotes“. Maria als Urbild der Kirche ist durch die jungfräuliche Geburt Urbild der Taufgeburt, aber auch „Miturheberin der Eucharistie“, wie die orthodoxe Theologie hervorhebt: „Christus hat seinen menschlichen Leib aus ihr geformt. Weil dieser Leib gleichzeitig der als Brot und Wein genossene eucharistische Leib ist und Maria ihn in sich getragen hat (Platytera), gilt sie als Miturheberin der Eucharistie…“ (Günter Spitzing, Lexikon byzantinisch-christlicher Symbole, 226).

Ähnlich sagt der Bischof und Kirchenlehrer Hilarius von Poitiers (4. Jh.): „Das aus Maria geborene Fleisch, das vom Heiligen Geist kommt, ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist.“ Wie die Taufe eine „neue Schöpfung“ heraufführt (2 Kor 5,17), so auch die Eucharistie. Maria und die Kirche stehen geheimnisvoll für diese neue Schöpfung als Vollendung der ersten und damit auch für die ‚Heilige Hochzeit’ als vollkommene Vereinigung der Gegensätze.

Im Alten Testament wurde das „Modell der Heiligen Hochzeit auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel“ erstmals beim Propheten Hosea übertragen (vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Heilige Hochzeit, in: CiG 29/2020, 323). Im Gedanken des ‚hochzeitlichen’ Bundes im Feuer des Heiligen Geistes und des ‚achten Tages’ ist es aber verborgen von Anfang an präsent.

 

Die übernatürliche Fruchtbarkeit im Zeichen des Kreuzes

Im Johannesevangelium wird Maria nur an zwei Stellen genannt: beim Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana am Anfang und unter dem Kreuz am Ende. Beide Male wird sie von Jesus als „Frau“ angesprochen (Joh 2,4; 19,26). Maria ist hier und dort die neue Eva, die Frau schlechthin, die Repräsentantin der Kirche als Partnerin des neuen und ewigen Hochzeitsbundes.

Der Täufer Johannes ist im 4. Evangelium Glaubenszeuge für Jesus als „das Licht“ (Joh 1,7), als „das Lamm Gottes“ (1,29) und als „der Bräutigam“, der „die Braut hat“ (3,29). Dieser Bräutigam ist Jesus als der Gekreuzigte; denn am Kreuz erwirbt er sich in der Hingabe seines Leibes und Blutes die Kirche als seine geheiligte Braut. Der Epheserbrief (5,25f) sagt: Christus hat „die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben…, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten und andere Fehler, heilig soll sie sein und makellos“ – ein besseres Anti Aging-Programm als die Wiedergeburt im Wasser der Taufe kann es nicht geben!

Heilig, rein und makellos ist die Kirche nur durch die Überwindung von Sünde, Tod und Teufel durch die drei Geist-Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Das Zeichen des Glaubens ist das Kreuz, von dem es im 4. Evangelium (3,14) heißt: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss auch der Menschensohn [am Kreuz] erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“

 

Die ‚Erhöhung’ der Schlange am Kreuz als Heilszeichen

Diese ‚Erhöhung’ der Schlange am Kreuz spielt an auf die Erzählung im Buch Numeri (21,8f), wo Gott zur Strafe für das ‚Murren’ der Israeliten bei der Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten giftige Schlange schickt; Mose muss das Schlangen-Zeichen errichten, damit jeder, der gebissen wurde und zu dem Zeichen aufblickt, am Leben bleibt. Beide Texte, der aus dem 4. Evangelium und der aus dem Buch Numeri, sind die Lesungstexte am Fest Kreuzerhöhung 40 Tage nach dem Hochfest der Verklärung Jesu, wo die Kleider Jesu „blendend weiß wie das Licht“ wurden (Mt 17,2).

Die Farbe weiß ist die Farbe der Vollendung oder der Zusammenfassung der sieben Farben des Spektrums als ‚achte Farbe’. Weiß, so erklärt Friedrich Weinreb, bedeutet „alle Farben zusammen“. „Weil die Thora eine Einheit ist, ist die Farbe der Thora das Weiß.“ Auch die ‚roten‘ Sünden müssen „weiß gewaschen werden wie Schnee“ (Das Opfer in der Bibel, 362; zum „Schnee“ vgl. Ps 51,9; Mt 28,3). In der Apokalypse wird von den Märtyrern oder Blutzeugen des Glaubens gesagt, dass sie „ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht“ haben (Offb 7,14). Auch der „Weiße Sonntag“ als Oktavtag von Ostern mit der Feier der Erstkommunion gehört hierher.

Die Erhöhung zum Weiß des Lichts geschieht nicht ohne den Abstieg in das Dunkel und das Schwarz der Nacht im Reich des Todes: „Wenn das Weizenkorn nicht in die [Mutter] Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Um dieses reiche Fruchtbringen geht es im Kreuz. Nicht eine natürliche Fruchtbarkeit ist gemeint, sondern die übernatürliche von Glaube und Liebe und damit des ewigen Lebens, wie sie die Märtyrer bezeugen, deren Blut der ‚Samen’ für neue Christen ist.

Die wahre Fruchtbarkeit des Glaubens besteht in der vollkommenen Einheit mit Christus, wie sie vom Bild des Weinstocks mit den Rebzweigen dargestellt wird: „Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er [der Vater als Winzer] ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt“ (Joh 15,2). In der Basilika San Clemente in Rom oder auch in der Abteikirche der Benediktiner in Beuron zeigen die Apsiden das Kreuz als wahren Weinstock mit vielen fruchtbaren Rebzweigen.

Der übernatürlichen Fruchtbarkeit des Kreuzes voraus geht der Sieg über den Teufel, der zur bloß irdischen, natürlichen Fruchtbarkeit verführt. Am Fest Kreuzerhöhung betet die Kirche: „Du (Gott) hast das Heil der Welt auf das Holz des Kreuzes gegründet. Vom Baum des Paradieses kam der Tod, vom Baum des Kreuzes erstand das Leben. Der Feind, der am Holz gesiegt hat, wurde auch am Holze besiegt durch unseren Herrn Jesus Christus.“

 

Gottes Einwohnen im Menschen im Symbol der 5 (1–4)

Das Kreuz lässt den Menschen zurückkehren ins verlorene Paradies in die Nähe Gottes: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“, verheißt der Gekreuzigte dem mitgekreuzigten reumütigen Schächer (Lk 23,43). Durch die Reue und die Tränen über seine Sünden kann der Mensch auch noch im ‚letzten Augenblick’ sein Leben fruchtbar werden lassen für das Reich Gottes. Fruchtbar in diesem Sinn ist der Mensch in dem Maße, wie er wieder zum Tempel und zur Wohnstätte Gottes geworden ist: „Wenn jemand mich liebt“, sagt Jesus im Johannes-Evangelium (14,23), „wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“

Die alten Religionen haben Tempel nicht nur als ‚Opferstätten’ erbaut, sondern auch und vor allem als ‚Wohnung’, um durch die Gegenwart des Göttlichen wieder Segen und Fruchtbarkeit zu erlangen. Von diesem Gedanken lebt auch noch mehr oder weniger viel im Alten Bund fort. Im Neuen Bund geschieht eine „Vergeistigung“ und „Verinnerlichung“, wie die Kunsthistorikerin und Symbolforscherin Mechthild Clauss in ihrem Buch zur Deutung von karolingischen Miniaturen aus dem 9. Jahrhundert zu den Psalmen herausstellt:

„Die Einwohnung des Gottes im gläubigen Menschen ist die Gabe Christi im Neuen Bund. Diese Gabe bedeutet: Teilhabe an Christus! Erst durch Opfertod und Auferstehung des Gottessohnes kann dieser dem Menschen so nahe sein, dass seine Gegenwart überall erfahrbar ist. ‚Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir’, – so beschreibt Paulus die Einwohnung Gottes, die dem Gläubigen geschenkt ist. Im Alten Bund kam Gott von außen; jetzt kommt er von innen! (Gal 2,20)“ (Illustration als Textauslegung. Der karolingische Stuttgarter Psalter um 830, 2018, 143; s. in diesem Blog den davor stehenden Beitrag Die Psalmen als messinaische Prophetie).

 

Die Herzensgemeinschaft der Liebe zwischen Christus und Kirche

Der Psalmensänger und -dichter David präfiguriert diesen Gottessohn. In einer der Miniaturen spielt er – „versunken in seine Gespräch mit Gott“ – die Cithara, während die Seele (Anima) im Zentrum trauernd auf einem Berg sitzt; unterhalb und links von ihr erblühen fünf große, leuchtend rote Blüten, lilienförmige Kelche, beziehungsweise ein Baum mit fünf Ästen, die jeweils in fünf große fünfteilige Blätter münden: „Nicht Dreiheit und Vierheit stehen bei diesem letzten Bild im Vordergrund, sondern die Symbolzahl fünf, die Zahl des Menschen. Sie leitet sich heraus aus der Vierheit, dem Symbol der Erde, ist aber entscheidend geprägt durch ihr Zentrum, den Punkt in der Mitte, der sie erst zur Fünfheit macht“ (ebd. 141).

Der Baum als Feigenbaum erinnert an den Sündenfall, wo sich Adam und Eva ihre Blöße mit Feigenblättern verhüllen (Gen 3,7). Das strahlend helle Gelb der roten Blüten „deutet auf die unsichtbare Christus-Mitte, die sich in der Fünfzahl dieses Strauches verbirgt“ (ebd. 142). Die Fünf als Verbindung von 1 (Gott) und 4 (Welt) ist auch die Zahl des Menschen A-dam (1-4-40) sowie der fünfteiligen Thora (Genesis = 1), weil sie die Zahl des Bundes ist. Im Sündenfall wird der Bund gebrochen, aus A-dam wird nur noch -dam = Blut. Im „kostbaren Blut“ des am Kreuz geschlachteten Gotteslammes und „neuen Adam“ Christus wird der Bund neu und unverbrüchlich für immer geschlossen.

Der gekreuzigte und auferstandene „neue Adam“ hat fünf verklärte Wundmale im Verhältnis 1 (durchbohrte Herzwunde) zu 4 (Male an Händen und Füßen; vgl. die fünf roten Wachsstifte auf der Osterkerze). Aus dem durchbohrten Herzen des Erlösers am Kreuz, der ‚fünften’ Wunde, entspringen in ‚Wasser’ und ‚Blut’ die zwei Sakramente des Neuen Bundes und damit die Kirche als Braut selbst. In der Konzilskonstitution über die heilige Liturgie heißt es: „Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen“ (SC 5).

Zwischen Gott und Mensch, Christus und Kirche besteht von daher eine neue Herzensgemeinschaft der Liebe: „Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,17-19).

 

Das Kreuz als Rückkehr zur Harmonie des Ursprungs

Länge und Breite, Höhe und Tiefe wurden vom viergliedrigen Kreuz verstanden. So sagt der Kirchenvater Gregor von Nyssa: „Ob das Kreuz einen tieferen Sinn enthält, werden wohl alle wissen, die sich mehr auf die Deutung von Geheimnissen verstehen. (…) So will uns das Kreuz durch seine Gestalt, die nach vier Seiten auseinander geht, indem von seinem Mittelpunkt, durch den es zusammengehalten wird, deutlich vier Balken vorspringen, die Lehre geben, dass er, der da im Augenblick seines nach dem göttlichen Heilsplan erlittenen Todes daran ausgestreckt war, der ist, welcher das Universum in sich eint und harmonisch verbindet, indem er die verschiedenartigen Dinge zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfasst.“

Das alte Weltbild ist bestimmt von zwei Weltkreisen, dem Himmelsäquator mit den Fixsternen und der Ekliptik als Band der zwölf Tierkreiszeichen, das die Sonne in ihrem Jahreslauf einmal durchläuft. Beide Kreise bilden ein gegenläufiges „Räderwerk“ (Ez 10,13) mit zwei kreuzförmigen Schnittpunkten: den Äquinoktien im Frühling und im Herbst. Der Frühlingspunkt als ‚Anfang’ des Jahres wird markiert durch das erste Tierkreiszeichen Widder.

Auf dem Gipfelpunkt des Opferberges, der später der Tempelberg ist (2 Chr 3,1), opfert Abraham anstelle des geliebten Sohnes Isaak den Widder aus dem X-förmigen Baum (Gen 22,13). Dabei öffnet sich der Himmel und es erscheint ein Engel. Symbolisiert wird damit der Durchbruch zum 8. Tag, der zugleich die Rückkehr ist zum 1. Tag, zum ‚Anfang’, dem ‚Resch’ von Bereschith, zu dem „Es werde Licht“ (Gen 1,3; vgl. 2 Kor 4,6).

 

Der Thron des Kreuzes und der kosmische Thronwagen bei Ezechiel

Das kosmische „Räderwerk“ oder der Thronwagen Gottes mit der Gestalt der Herrlichkeit eines Menschen ist die Grundlage der jüdischen Merkaba-Mystik. Ephräm der Syrer erkennt in dieser Herrlichkeitsgestalt auf dem Gottesthron schon die Herrlichkeitsgestalt des gekreuzigten Messiaskönigs, erhöht auf dem Kreuzesthron: „Den Wagen der vier Wesen verließ er [Christus] und stieg herab – und schuf sich das Kreuz als Gefährt nach den vier Weltrichtungen.“ „So wie Jahwe sich in der Vision des Ezechiel in Kapitel 1 offenbart, so offenbart er sich auch am Kreuz und in der Kreuzesbotschaft der Evangelien“ (Holger Kaffka, „Die Schädelstätte wurde zum Paradies“, 71).

In der schon genannten römischen Kirche Santa Pudenziana wird das Gemmenkreuz flankiert von den vier Urwesen des Ezechiel. Im Mausoleum der Kaiserinschwester und -mutter Galla Placidia in Ravenna erscheinen die vier Urwesen in den vier Ecken des Sternenhimmels mit dem Kreuz als Mitte (s. o.). Andere Kreuzesdarstellung zeigen häufig an den vier Kreuzenden die vier Urwesen, im Zentrum aber das Gotteslamm.

Bei Bonaventura ist die Gestalt der „Herrlichkeit des Herrn“ auf dem kosmischen Thronwagen mit den vier Rädern und dem vierfachen Antlitz von Stier, Löwe, Mensch und Adler – was seit Irenäus auf die Viergestalt der Evangelien, seit Hieronymus auf die vier Evangelisten bezogen wird – „Vorausbild“ der Viergestaltigkeit, die das „Buch der Schöpfung“ ebenso wie das Buch der Offenbarung (Bibel) bestimmt. Im Prolog (§ 2) des Breviloquium von 1256 spricht der Kirchenlehrer (gemäß Eph 3,18) von der kreuzförmigen „Breite, Länge, Höhe und Tiefe“ der Heiligen Schrift. Deren ‚Breite‘ wiederum ist ebenfalls vierfach gegliedert: fünf Bücher des Gesetzes, zehn der Geschichte, fünf der Weisheit und sechs der Propheten. Die Zahlen entsprechen in etwas anderer Reihenfolge dem Tetragramm JHWH (= 10-5-6-5 = 26).

Auch das Neue Testament wird vierfach gegliedert (vier Evangelien, Apostelgeschichte, Apostelbriefe, Johannesapokalypse). So ergibt sich „eine wundersame Entsprechung … nicht nur hinsichtlich inhaltlicher Übereinstimmung, sondern auch in der Viergestaltigkeit“; ja, die Schrift selbst ist „gleichsam ein geistiges Kreuz, auf dem das ganze Gebilde des Universums (tota machina universi) geschrieben steht und mit dem Licht des menschlichen Geistes gewissermaßen geschaut werden kann“ (Breviloquium, 20-22; 39 und 88).

Das Buch der Schöpfung wird auch in Analogie zu einem Gedicht verstanden. Dessen Schönheit lässt sich nur erkennen, wenn man es als Ganzes im Blick hat. „So kann auch niemand die Schönheit der Ordnung und der Lenkung des Universums sehen, außer er betrachtet sie als ganze.“ „Weil aber kein Mensch so langlebig ist…, darum hat der Hl. Geist uns in Fürsorge das Buch der Hl. Schrift gegeben, dessen Länge das gleiche Maß hat wie die Lenkung des Universums“ (Breviloqium, 27f). Die Hl Schrift ist aber auch notwendig, um das Buch der Schöpfung unverstellt zu lesen: „Dieses Buch [die Bibel] reinigt des Menschen Herz und Verstand, damit er jenes ursprüngliche Buch der Schöpfung wieder unverstellt lesen kann“ (zit. nach L. Schwienhorst-Schönberger, Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob, Freiburg u. a. 2007, 226f).

 

Das Kreuz zwischen Sonne und Mond: Erleuchtung durch den Logos

Die Christenheit feiert Ostern am ersten Sonn-tag nach dem Frühlings-Vollmond. Schon in frühester Zeit wird das Kreuz auch zwischen Sonne und Mond dargestellt, so im syrischen Rabula-Codex (586). Das spielt auf die dreistündige ‚Sonnenfinsternis’ bei der Kreuzigung Jesu (Lk 23,44) an, die keine natürliche ist, denn die dauert nur zwei Minuten. Der Kirchenvater Ephräm deutet sie in einer Predigt zum Karfreitag als Symbol der endzeitlichen Fülle Christi: „Auch die Gestirne dienten ihm [Jesus] am Tag des Leidens. – Sie waren zugleich voll, ein Symbol seiner Fülle, in der es kein Abnehmen gibt. – Die Sonne zeigte das Symbol seiner [göttlichen] Herrlichkeit, – der Mond zeigte das Symbol seiner Menschheit; beide verkündeten ihn.“

Der Essener Kunsthistoriker Herbert Fendrich spricht im Hinblick auf diese ‚Sonnenfinsternis’ von einem „epiphanischen“ Charakter: „Das ‚Dunkel‘ hinter dem Tempelvorhang ist ein besonderer Ort der Gegenwart des Herrn bei seinem Volk. Er selbst wollte im Dunkeln wohnen, so hat im Weihegebet des Tempels Salomo die Anbringung des Vorhangs vor dem Allerheiligsten begründet (1 Kön 8,12). Dieses Dunkel reißt bei der Kreuzigung Jesu auf – und ‚erscheint‘ an anderer Stelle. Das Kreuz wird zu dem Ort der Gegenwart Gottes“ (Bild und Wort, in: Ausstellungskatalog Kreuz und Kruzifix, 29-36).

Sonne und Mond sind aber auch die kosmischen Symbole für die Prinzipien Geist und Materie, des Männlichen und des Weiblichen, auch für Bewusstsein und das Unbewusste (mit seinen kollektiven religiösen Urbildern). Im alten China stehen sie für Yang und Yin, deren rechtes Zusammenwirken erst die Ganzheit ermöglicht. Der Psychologe Erich Neumann verweist darauf, dass „charakteristischerweise … im Chinesischen das Zeichen ‚Ming‘, Erleuchtung, eine Verbindung der Bilder von Sonne und Mond“ ist (Der Mond und das matriarchale Bewusstsein, 375). „Für das Männliche ebenso wie für das Weibliche ist die Ganzheit erst dann erreichbar, wenn in einer Verbindung der Gegensätze Tag und Nacht, Oberes und Unteres, patriarchales und matriarchales Bewusstsein zu der ihnen eigentümlichen Produktivität gelangen und sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Von dieser Wiederherstellung der Ganzheit gilt der Satz des Midrasch: ‚Und des Mondes Schein wird sein wie der Sonne Schein‘“ (ebd. 376; vgl. Jes 30,26).

 

Die mystischen ‚Hochzeit‘ Christi am Kreuz mit der erlösten Menschheit

In der jüdischen Mystik, der Kabbala, ist das periodische Verschwinden des Mondlichts Symbol für das Exil Israels, während die Wiederkehr (‚Auferstehung‘) des Mondlichtes zur vollen Größe im Bild des Vollmondes ein Symbol der Wiederherstellung aller Dinge in der Erlösung ist: „Dieses Drama spielt sich in Gott selbst ab, wo der Mond das Symbol der Schechina [Gegenwart Gottes, 10. Sefira Malchut] und die Sonne das Symbol der zentralen Sephira Tipheret [Schönheit, Herrlichkeit, Erbarmen] ist. Ihre Scheidung und ihre heilige Hochzeit symbolisieren folglich Krieg und Frieden in der Höhe und für uns“ (Daniel Krochmalnik, Vortrag Sol und Luna in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart).

Mit der Feier der ‚Heiligen Hochzeit’ zwischen Sonne und Mond am ‚Freitagnachmittag’ (dem Zeitpunkt des Sündenfalls des gerade erschaffenen Menschen kurz vor dem Sabbat) wurde die erhoffte Erlösung antizipiert, wobei die Braut Gottes sowohl der Sabbat ist als auch die „Ekklesia Israel“ beziehungsweise „die mystische Gemeinde Israel“, die mit der Schechina und der Möndin identifiziert wurden. In der christlichen Vorstellung von Maria als neuer Eva (auf der Mondsichel: Offb 12,1; vgl. Adam ‚Rippe’: Gen 2,21f), als Kirche im Ursprung oder Kirche im Vollsinn und Urbild der Ekklesia universalis im Bild des Mondes in makelloser Reinheit und Schönheit (vgl. Hld 4,7; 6,10; Eph 5,27) wird dieser jüdische Symbolkomplex aufgegriffen und weitergeführt.

In der mystischen ‚Hochzeit‘ Christi am Kreuz mit der erlösten Menschheit – repräsentiert durch Maria bei der Hochzeit zu Kana und unter dem Kreuz – am ‚Freitagnachmittag‘ (Karfreitag) findet die erlösende Liebeshingabe des ‚Sonnen-Bräutigams‘ Christus (Ps 19,6) ihr Ziel der Weltvollendung. Wer zum Durchbohrten und Erhöhten aufschaut, dessen Augen werden geheilt, gereinigt und erleuchtet zum inneren Sehen (= Glauben) der „verborgenen Weisheit Gottes“, die „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört“ hat (1 Kor 2,7.9).

 

Das Kreuz als heilbringendes Pharmakon oder „Gegengift“

Der gekreuzigte Logos offenbart sich so am Kreuz als die vereinigende Mitte der Gegensätze und damit als „das Licht, der jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9) – als „Arznei gegen die Erbsünde unserer Schlangen-Klugheit“ (Ludwig Weimer). Die aufgerichtete Schlange am Äskulapstab ist das Zeichen der Apotheken für das Pharmakon, „welches je nach Brauch oder Missbrauch ‚Heilmittel‘ oder ‚Gift‘ bedeutet“ (Detlef Witt, Die Evolution der menschlichen Gottesbeziehung).

Christlich ist die Eucharistie in der Demutsgestalt des Brotes das „Gegengift“ gegen das todbringende Gift der Paradiesschlange und ihres Hochmuts: „Durch Mitteilung seiner Unsterblichkeitskräfte (hebt Christus) den Schaden jenes Giftes wieder auf“ (Gregor von Nyssa). Im Hebräischen hat „Gift“, Sam, auch zu tun mit dem Wort für Kleidung, Umhüllung, Simlah, mit Samael (Satan, Todesengel) und Smol, links: die linke oder ‚andere‘ Seite. Genauer macht das Gift der Schlange den Menschen „blind und taub … für die Macht der Liebe“ (F. Weinreb).

Die Macht der Liebe ist die Macht der Einswerdung und damit der Einheit (vgl. Gal 3,28). Der Epheserbrief (4,12f) fordert die Getauften auf, am Aufbau des einen Leibes Christi mitzuwirken: „So sollen wir alle zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen. (…) Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten und in allem wachsen, bis wir ihn erreicht haben. Er, Christus, ist das Haupt“, hebr. resch, die Haupt-sache also, aber auch das Haupt der neuen Menschheit, der Kirche als neuer Schöpfung, der neue Adam als neuer Anfang (reschith), „das Haupt, von dem aus der ganze Leib durch Gelenke und Bänder versorgt und zusammengehalten wird und durch Gottes Wirken wächst“ (Kol 2,19).

Klaus W. Hälbig

 

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