Jesu „Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ (Joh 4,34) – „gehorsam bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). So wird Jesus zur eucharistischen Paradies-Speise am Kreuz als neuem Baum des ewigen Lebens (vgl. Offb 2,7) – Darstellung aus Äthiopien.
Das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana – im Jahr 2021 vom 6. – 8. Sept. – ist der 1. Tag des siebten Monats Tischri; zehn Tage später ist das Versöhnungsfest Jom Kippur. Neujahr erinnert an den Anfang der Schöpfung und die Erschaffung Adams. Christlich ist das Kreuz der neue Ort der Versöhnung (Röm 3,25) und Erlösung als Neuschöpfung, die ebenfalls durchsichtig ist auf die Ur-Erschaffung der Welt. Das Fest Kreuzerhöhung (14. September) macht das Kreuz zudem durchsichtig auf Adams ‚Ur-Sünde‘.
Der „Feind“ (Schlange = Teufel), der am Baum der Erkenntnis „gesiegt“ hat, heißt es in der Präfation, „wurde auch am Holze (Kreuz) besiegt durch unseren Herrn Jesus Christus“. Die alttestamentliche Lesung (Num 21,8f) erinnert an die zur Strafe für ihr ‚Murren‘ von Schlangen gebissenen Israeliten, die im Aufblick zur ‚erhöhten‘ Kupferschlange, die den Gekreuzigten präfiguriert (Joh 3,14), gerettet werden. Kupfer ist das Metall der Venus, die als Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin (germ. Freya) für den ‚sechsten Tag‘ steht (= Freitag, franz. vendredi, vgl. Karfreitag). Denn die Zahl sechs (lat. sex) ist zweimal drei (zwei = ‚weiblich‘, drei = ‚männlich‘) und gilt deshalb in der Antike als „Zahl der Ehe“.
Der Mensch: Erschaffen für den Bund der Liebe
An diesem ‚sechsten Tag‘ wird der Mensch männlich-weiblich für Ehe und Fruchtbarkeit erschaffen, mehr noch für den ‚hochzeitlichen‘ ewigen Bund, das heißt das Eins-Sein der Zweiheit von Mann und Frau in der Liebe (Gen 2,24; Eph 5,31f). Das Zeichen dieses (ehelichen) Bundes ist der ‚siebte Tag‘ (Samstag) oder Sabbat, der die Gegensätze von Geist und Materie, Ewigkeit und Zeit vorläufig vereint (Schabat, 300-2-400; 300 = ‚Geist‘, 400 = ‚Materie‘). Die vollkommene Vereinigung geschieht in der Auferstehung am ‚achten Tag‘ (Sonntag) als Beginn der kommenden Welt – jenseits der zeitlichen Sieben-Tage-Schöpfung. Der Mensch ist das achte und letzte Werk des Schöpfers, das Himmel und Erde, Geist und Materie, Seele und Leib in sich zusammenfasst.
Dass Israel „400 Jahre“ in Ägypten im Exil ist (Gen 15,13; Ex 12,40), bedeutet immer. Es kann „nur herauskommen, wenn diese Welt durchbrochen wird. (…) Die Maße des Landes werden mit 400 x 400 angegeben. Mit dem Land meint man nicht einen geographischen Begriff, sondern das All, das unendlich ist“, so Friedrich Weinreb. Die Zahl 500 jenseits des hebräischen Schöpfungs-Alphabets, das mit dem ursprünglich kreuzförmigen Taw (= 400) endet, steht für die kommende neue Welt der Auferstehung (vgl. 1 Kor 15,6; Ez 42,20): „In den hebräischen Hieroglyphen ist es (das Taw) einfach ein Kreuz, also das Zeichen; denn es deutet die Vierheit an, wie sie auch in dem Zahlenwert des Taw, 400, zum Ausdruck kommt. Für den Hebräer ist der Begriff 400 das Äußerste, das er im Materiellen denken kann“ (Zahl Zeichen Wort, 75). Die Summe von 1 + 2 + 3 + 4 ergibt 10 als wiederhergestellte Einheit (vgl. auch Punkt, Linie, Fläche, Raum).
Die Erschaffung des Lichts als Kampfansage
Gottes erstes Wort „Es werde Licht“ (Gen 1,3) bedeutet eine „Kampfansage“ (Renate Brandscheidt) an die vier Urgegebenheiten: „Finsternis“, Tohuwabohu, „Wasser“ und „Urflut“ (Gen 1,2). Paulus sieht in der Erschaffung des Lichts schon den Sieg des Auferstandenen angekündigt: „Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (2 Kor 4,6). Ebenso Johannes: „Das wahre Licht (Logos), das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt, aber die Welt erkannte ihn nicht“ (Joh 1,9). „… die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse“ (Joh 3,19). In der „Nacht“ des Verrats (Joh 13,30) – das ist „heute“, wie die Liturgie des Gründonnerstags ergänzt – und in der „Mittagsnacht“ (Erich Przywara) des Kreuzestodes Jesu siegt aber Gottes Licht, bricht das Reich des wahren Glaubens, der Liebe und der Hoffnung an.
Kreuz und Auferstehung Jesu sind zudem durchsichtig auf den Exodus Israels aus ‚Ägypten‘: Christus ist „unser Paschalamm“ (1 Kor 5,7). In Joh 19,29 erinnert der Ysopzweig an die Bestreichung der Türen der Israeliten mit dem Blut des Lammes und einem Ysop (Ex 12,22); nach Joh 19,36 darf dem Gekreuzigten „kein Gebein“ zerbrochen werden wie beim Paschalamm (Ex 12,46).
Exodus: Die vier Nächte der Befreiung
Israel feiert an Pesach/Ostern die Befreiung aus ‚Ägypten‘ als Sinnbild der dem Tod verfallenen Welt. Die „eine Nacht des Wachens“ umfasst dabei vier Nächte: 1. Die Nacht bei der Erschaffung der Welt durch das Licht; 2. die Nacht, in der dem 100-jährigen Abraham Isaak geboren wird, den er als 37-Jährigen gehorsam opfert (s. u.); 3. die Nacht, in der Gottes (linke) Hand die Erstgeborenen Ägyptens tötet, während die rechte Hand Israel umhegt, „damit erfüllt werde, was die Schrift sagt: ‚Mein erstgeborener Sohn – das sind die Israeliten‘ (Ex 4,22)“; 4. die Nacht der Befreiung der Welt durch den König-Messias (vgl. Clemens Thoma, Memoria der Rettung – Feier des Glaubens im Judentum, in: Angelus A. Häußling [Hg], Vom Sinn der Liturgie. Gedächtnis unserer Erlösung und Lobpreis Gottes, Düsseldorf 1991, 45-61, 52f).
Entsprechend hat auch die christliche Osternacht vier Lesungen, die an die ‚vier Nächte‘ der Befreiung erinnern: Erschaffung der Welt (Gen 1); Abrahams Glaubensgehorsam als Sinnbild für Tod und Auferstehung (Gen 22,1-19; Hebr 11,17-19); Durchzug durch das Rote Meer (Ex 14); die messianische Erwartung eines neuen Jerusalem (Jes 54,4-14) beziehungsweise eines neuen Herzens durch Eingießung des reinigenden Gottesgeistes (Ez 36,16-28).
Isaak wird ‚übernatürlich‘ gezeugt mit Gottes Hilfe: „Sara (90 Jahre alt) erging es längst nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt“ (Gen 18,11); sie stirbt mit 127 Jahren (Gen 23,1). Von daher ist Isaak bei seinem Opfergang 37 Jahre, Abraham 137 Jahre alt. Die Summe der Zahlen von 1 bis 36 ergibt 666 als Symbol des ‚sechsten Tages‘ im Sinn der bloßen Diesseitigkeit wie bei den ‚Tieren‘ (Trieben), über die der Mensch als königliches „Bild Gottes“ gerade „herrschen“ soll (Gen 1,26f). Die Zahl 37 ‚übersteigt‘ die 36 oder 6² auf den ‚siebten Tag‘ der Gottesverehrung hin (was den Tieren nicht möglich ist). Dann öffnet sich der Himmel oder der ‚achte Tag‘: Die Welt wird durchsichtig auf das rettende ‚Lamm‘ hin (Gen 22,13f).
Jesu Sieg über Sünde und Tod am Kreuz
Für den Glauben ist Jesus am Kreuz nicht gescheitert, sondern er hat das Ziel seiner göttlichen Mission erreicht: die Errichtung von Gottes Königsherrschaft oder Reich. Dies geschieht gerade am Kreuz (Joh 19,30: „Es ist vollbracht“) als Vollendung des vor Grundlegung der Welt bestehenden Heilsplans (Eph 1,4.11.20f). Aus dem Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis, der für alle Religionen grundlegend ist, geht der Gekreuzigte und Auferstandene als strahlender Sieger hervor über Sünde, Tod und Teufel, „der die Gewalt über den Tod hat“ (Hebr 2,14).
Dieser Sieg im Aufstrahlen der Heilsbotschaft von „der Herrlichkeit Christi, der Gottes Bild ist“, wird aber nur im Glauben erkannt; für den Ungläubigen bleibt das Evangelium „verhüllt“; denn: „Der Gott dieser Weltzeit [= Teufel] hat das Denken der Ungläubigen verblendet“ (2 Kor 4,3f). Als am ‚sechsten Tag‘ erschaffenes Naturwesen erscheint der Mensch sterblich und vergänglich, als bloßer „Staub“ (Gen 3,19). Im lebendigen Austausch mit den vier Elementen Feuer und Luft, Wasser und Erde ist er wie Tier und Pflanze, die Nahrung und Atemluft spenden.
Aber geschenkt ist dem Menschen noch ein Fünftes, die Quint-essenz gleichsam: die Freiheit, auf der seine Würde basiert. Als königliches Freiheitswesen, das heißt als vernunft- und selbstbestimmter Repräsentant (Bild) Gottes, soll er „herrschen“ über Erde und Tiere. Deshalb wird er zwar am ‚sechsten Tag‘ erschaffen, aber als ‚achtes Werk‘ für den ‚achten Tag‘.
Der Kirchenlehrer Bonaventura schreibt im Sechstagewerk (Hexaemeron von 1273, XV, 17): „Am sechsten Tag wurde der Mensch als Herrscher der Tiere [= Triebe] geschaffen … Es entspricht dem sechsten [Weltzeit-]Alter, von Christus bis zum Weltenende. Und im sechsten Alter ist Christus geboren, am sechsten Tag wurde er gekreuzigt, im sechsten Monat nach der Empfängnis des Johannes wurde er empfangen. Die Weisheit also ist im sechsten Alter Fleisch geworden. Das siebte Alter eilt mit dem sechsten, es ist die Ruhe der Seele nach dem [körperlichen] Leiden Christi. – Darauf folgt das achte Alter, die Auferstehung … Das ist die Rückkehr zum ersten, denn nach dem siebten Tag geschieht der Rücklauf zum ersten.“ Der ‚achte Tag‘ (Sonntag) der Auferstehung Jesu von den Toten entspricht dem ‚ersten Tag‘ oder „Tag eins“ (Erschaffung des Lichts).
Das Kreuz und der siebenarmige Leuchter
Friedrich Weinreb erklärt zum ‚sechsten Tag‘: „Jetzt verstehen wir das Geschehen mit der Schlange am sechsten Tag im Paradies; aber auch den Verrat am Freitag, dem die Kreuzigung folgt. Und es fällt uns gleich die Schlange aus Kupfer ein, die, aufgerichtete, erhobene, die heilt (4. Mose 21,8 und 9)“, das heißt, die in der Zeit gebrochene oder zerteilte Erkenntnis wieder ganz macht (Der siebenarmige Leuchter, 39).
Wie der Davidstern versinnbildet auch der goldene siebenarmige Leuchter im Tempel die zweimal drei Schöpfungstage und den ‚siebten Tag‘ als Mittelstamm oder Mitte, wo der Gegensatz des ‚Männlichen‘ (Dreieck nach oben) und des ‚Weiblichen‘ (Dreieck nach unten) seinen harmonischen Ausgleich findet. Dies geschieht allerdings erst vorläufig im Sinn der mystischen ‚Verlobung‘, denn auch hier vollzieht sich die vollkommene Einheit der Gegensätze erst am ‚achten Tag‘ als mystische ‚Hochzeit‘.
Klemens von Alexandrien sieht im Leuchter ein Vorausbild des Kreuzes, das erlösend die Gegensätze der zeitlichen Schöpfung zur ewigen Vollendung führt. Das mit über zwanzig Szenen aus dem Buch Genesis gestaltete Metall-Kreuz am Eingang des Museums der Lateranbasilika in Rom, der eigentlichen Papstkirche, zeigt auf der Rückseite der Szene der Kreuzigung die Szene des Sündenfalls. Einerseits findet so die Erlösung in der „Stunde“ des Sündenfalls am ‚sechsten Tag‘ statt (in der ‚Sonnenfinsternis‘ von der „sechsten bis zur neunten Stunde“: Lk 23,44), und zwar am ‚Nachmittag‘, denn am ‚Vormittag‘ werden die Landtiere des sechsten Tages erschaffen.
Andererseits zielt schon die Fleischwerdung des Logos auf diese „Stunde“ (vgl. Joh 2,4). Deshalb schultert in der Ikonographie schon der in den Schoß der Jungfrau hinabsteigende Gottessohn das Kreuz. Oder das in „Windeln“ wie mit Leinenbinden umwickelte Christuskind wird mit dem Lamm zu Füßen dargestellt. Auf den Sündenfall spielen auch die zahllosen Darstellungen des Christkindes auf dem Schoß Mariens mit dem ‚Apfel‘ in der Hand an (z. B. Maria im Rosenhag von Stefan Lochner, 1. Hälfte 15. Jh.).
Die Präfigurationen der österlichen Taufe
Die jungfräuliche Geburt der geisterfüllten Jungfrau Maria ist Vorausbild der Wiedergeburt in der Taufe in der Kraft des Geistes. Vorausbild der Taufe ist die Beschneidung am Fleisch am „achten Tag“ als Zeichen des Bundes, zuerst bei Isaak (Gen 21,4). Der Epheserbrief (4,24) sagt den Täuflingen: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“
Paulus erklärt: „Wie wir nach dem Bild des Irdischen [= Adam] gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen [neuer Adam] gestaltet werden“ (1 Kor 15,49). Die Taufe ist das „sacramentum octavi“: In Christus sein bedeutet eine „neue Schöpfung“ (1 Kor 5,17). Die Zahl 8 symbolisiert dabei immer schon die kommende oder jenseitige Welt (vgl. Lemniskate ∞).
Vorausbild der Taufe ist auch die Rettung der „acht“ Personen in der Arche aus der Sintflut als Zeichen des Bundes (1 Petr 3,20f; 2 Petr 2,4f). Der Bundesschluss wiederum ins Paradies zurück, denn der ‚Sündenfall‘ bedeutet den Bruch des Bundes. Die Folgen des Falls beschreibt der Katechismus der Katholischen Kirche so: „Adam und Eva verlieren sogleich die Gnade der ursprünglichen Heiligkeit“ (Nr. 399). „Die Harmonie, die sie der ursprünglichen Gerechtigkeit verdankten, ist zerstört; die Herrschaft der geistigen Fähigkeiten der Seele über den Körper ist gebrochen; die Einheit zwischen Mann und Frau ist Spannungen unterworfen; ihre Beziehungen sind gezeichnet durch Begierde und Herrschsucht“ (Nr. 400).
Wiederherstellung der Ur-Harmonie in Jesus und Maria
Mit Jesus als dem neuen (‚jungfräulichen‘) Adam und der Jungfrau Maria als der neuen Eva kehrt die ursprüngliche Harmonie der Heiligkeit und Gerechtigkeit, die Vollkommenheit oder der (Paradies-)Frieden zurück (vgl. Lk 2,14). Maria, die die geisterfüllte Kirche verkörpert, wird deshalb ikonographisch als die Siegerin im Zertreten der „alten Schlange“ dargestellt (gemäß Off 12,1-18). Denn ihre jungfräuliche Geburt des Wortes Gottes antizipiert schon die Auferstehung (Gehen durch ‚verschlossene‘ Türen).
Das Balken-Kreuz symbolisiert die wiederhergestellte Doppelnatur des Menschen, die in der Doppelnatur Christi (‚wahrer Mensch‘ und ‚wahrer Gott‘) kulminiert: Der horizontale Balken steht für die empirische Natur, der vertikale für die überempirische (himmlische) Natur. Der himmlische „Logos“ nimmt das irdische „Fleisch“ an, „opfert“ es am Kreuz und „erhöht“ so die „gefallene“ Natur zu Gott (ana-phora = hochbringen). „Ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32).
Buchstäblicher und mystischer Sinn der Bibel
Wie der Mensch – und der Kosmos von ‚Erde‘ und ‚Himmel‘ (s. u.) – eine Doppelnatur hat, so auch die Heilige Schrift (als ‚Bauplan‘ der Schöpfung). Sie ist ‚empirisch‘ (‚historisch‘) und geistig-geistlich oder allegorisch zu verstehen. Die Aufdeckung des geistlich-allegorischen Sinns heißt bei den alexandrinischen Theologen Klemens und Origenes „mystisch“. Ihnen geht es darum, „dass die gesamte Bibel und die ganze Geschichte des Gottesvolkes ihren letzten Sinn und sozusagen ihren Schlüssel einzig und allein in Christus findet“ (Louis Bouyer), und zwar dem Gekreuzigten. Denn das Kreuz ist die Offenbarung des vor allen Zeiten vorausbestimmten „Mysteriums der verborgenen Weisheit Gottes“ (1 Kor 2,9), wobei „Weisheit“ vor allem den „Heilsplan“ meint (vgl. Eph 1,11).
Wie die empirische Seite von Mensch und Welt dem Erkenntnisbaum entspricht, so die überempirische (geistige) Seite dem Lebensbaum. In diesem Sinn wird auch die Thora im Judentum als Offenbarung der „Weisheit“ des Schöpfers verstanden: „Wer nach ihr (der Weisheit) greift, dem ist sie ein Lebensbaum“ (Spr 3,18). Der Benediktinerabt Paschasius Radbert (ca. 790–850) schreibt in seinem Eucharistie-Traktat:
„Der ‚Baum des Lebens‘ ist jetzt Christus in der Kirche, dessen Vorbild jener Baum im Paradiese war. Deshalb ist es gut zu wissen, dass hier die Wahrheit erfüllt ist, auf die einst das Bild vorausdeutet.“ Und weiter: „Gottes Macht ernährt uns durch ihr unsichtbares Wirken wie bei der Frucht des Baumes im Paradies, wenn wir die Kraft der Weisheit zum ewigen Leben genießen. Solange wir sie würdig genießen, sind wir seelisch unsterblich, ja wir werden, in Besseres umgewandelt, zu den ewigen Gütern gelangen.“
Das Kreuz als Erfüllung des Heilsplans Gottes
Weil Jesu Kreuzestod und Auferstehung nicht zufällig oder planlos geschehen, sondern den Heilsplan Gottes (= Schrift/Thora) erfüllen, sagt Paulus: „Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas…“ (1 Kor 15,3-4).
Die Thora enthält aber den ‚Heilsplan‘ nicht auf der Ebene des ‚Buchstabens‘, sondern nur in ihrem geistigen Verständnis, das durch das Kreuzesgeschehen gerade erschlossen wird (vgl. Lk 24,25-32.44-47), und zwar als ‚Sieg‘ des Lebens (Gottes) über den Tod, des Glaubens über den Unglauben der „Welt“ (1 Joh 5,4f). In einem ‚buchstäblichen‘ Verständnis dagegen wird ein Gekreuzigter von der Thora verflucht: „Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt“ (Dtn 21,23).
Das greift Paulus auf und wendet es gegen das Gesetz im äußeren Sinn, den der Gekreuzigte ablöst: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist… Jesus Christus hat uns freigekauft, damit den Heiden durch ihn der Segen Abrahams zuteilwird und wir so aufgrund des Glaubens den verheißenen Geist empfangen“ (Gal 3,13-14). Mit dem Empfang des Geistes ist die ‚Kreuzigung‘ des ‚Fleisches‘ und seiner Begierden (Gal 5,24) als innere Beschneidung verbunden: „Wer sie empfängt, sagt sich los von seinem vergänglichen Körper“ (Kol 2,11) – in der Sündenvergebung und Auferstehung (V.13).
Das Gesetz (als „Schuldschein“) hat Christus „an das Kreuz geheftet“ (V.14). Für Tertullian (2 Jh.) ist das Christentum daher statt der Religion des Gesetzes die Religion des Kreuzes als Siegeszeichen (tropaeum). Der bist zum Tod am Kreuz dem Heilswillen des Vaters gehorsame Sohn wird gerade in seiner Selbsterniedrigung „über alle erhöht“ (Phil 2,6-9).
Die Befreiung aus der Fluch-Sphäre des Todes
Schon durch Adams ‚Ur-Sünde‘ als Bruch des Bundes gerät der Mensch in die Fluch-Sphäre des Todes, wie der Alttestamentler Norbert Lohfink ausführt. Für den Jesuiten besteht eine Parallele zwischen Israels Erwählung „außerhalb des Landes Kanaan“, den auferlegten Geboten Gottes als Bedingung des Bundes mit dem „Bundeskult“, der „Leben“ schenkt, und der Androhung von ‚Fluch‘, ‚Vertreibung‘ und ‚Sterben‘ bei Gebotsübertretung mit den entsprechenden Aussagen in Gen 2 und 3: „Die Sünde Israels erscheint in dieser Aussagenreihe als … Bundesbruch. Jedes Übel, das Israel treffen kann, ist Folge des Bundesbruches. Aus der Bundestreue dagegen folgt das Leben-können im Lande, das heißt im Raum des Segens.“
Dabei ist der Segen für Israel bei bestehender Bundestreue kein exklusiver, weil er schon mit dem „universalen Völkersegen“ durch Abraham, dem „Vater vieler Völker“ (Gen 17,5; vgl. Röm 4,13-17), beginnt: „Allein deshalb, weil Israel zum Segen für alle Völker werden soll, hat der Jahwist vor seine Geschichte Israels eine universalmenschheitliche Urgeschichte gebaut.“ Mit der „Sünde der Stammeltern“ als „Anfang der universalen Menschheitsgeschichte“ kam „die Sünde in die Welt…, und durch sie ihre Konsequenz: Aussetzung der Menschheit in die Fluchsphäre des Todes. Paulus hat diese Aussageabsicht in Röm 5 durchaus richtig verstanden“ (Der theologischen Hintergrund der Genesiserzählung vom Sündenfall, in: Karl Forster, Realität und Wirksamkeit des Bösen, Würzburg 1965, 71-89, 80f).
Vor dieselbe Wahl, vor der Adam versagt, ist auch Israel gestellt: „Leben und Tod lege ich (Gott) dir (Israel) vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben“ (Dtn 30,19f; vgl. auch Willibald Sandler, Der verbotene Baum des Paradieses. Was es mit dem Sündenfall auf sich hat, Kevelaer 2009, 91).
Commedia: Dantes Läuterung zum Paradies-Aufstieg
Am Fest Kreuzerhöhung des Jahres 1321 ist Italiens größter Dichter in Ravenna im ‚Exil‘ gestorben. Der gebürtige Florentiner musste seine Heimatstadt, weil er sich politisch auf der ‚falschen Seite‘ befand, um 1301 fluchtartig verlassen und fand zunächst in Verona ‚Exil‘, später auch in anderen norditalienischen Städten, zuletzt in Ravenna, wo ein Grabmal in der architektonischen Gestalt eines Tempelchens an ihn erinnert. Das riesige Versepos der Commedia konnte er kurz zuvor noch vollenden.
Dantes Vision von seiner Reise durch die drei Jenseitsreiche Hölle, Läuterungsberg und Paradies beginnt in der Nacht zum Karfreitag des Jubeljahres 1300 „in der Mitte des Lebens“ (Dante ist 35 Jahre alt). Er steigt hinab in die neun Höllenkreise im Innern der Erde und hinauf auf die sieben Terrassen (als Gegensatz zu den sieben Todsünden) des Läuterungsberges. Dessen Gipfel bildet das irdische Paradies, das überragt wird von den sieben Planeten-Himmeln (mit Mond- und Sonnenhimmel), dem Fixsternhimmel (als 8. Himmel) und (als 9. Himmel) vom Kristallhimmel oder „Ersten Beweger“. Umfangen wird das Ganze vom Unbewegten Himmel oder Empyreum (Feuerhimmel).
Dantes Weltdichtung als Weisheit nach Maß und Zahl
Der über allem thronende dreifaltige Gott wird seinerseits von den neun Chören der Engel umgeben. Bonaventura unterscheidet die „Natur des Himmels … hauptsächlich in drei Himmel: das Empyreum, den Kristallhimmel und das Firmament“ mit den sieben Planetenhimmeln (Breviloqium, II.6: Die Erschaffung der Geistwesen). Dante verweist mit seinen 1 + 3 x 33 Gesängen der Commedia auf die Dreifaltigkeit, aber auch auf das Lebensalter des Gekreuzigten. 3 oder 3² (= 9) ist die Zahl des Himmels/Jenseits; 1 (10, 100) ist die Zahl Gottes und der vollendeten Einheit; 7 (= 3 + 4) ist die Zahl der Schöpfung als Einheit von Himmel (3) und Erde (4), jenseitiger und diesseitiger Welt.
Die Dichtung hat 14.235 Verse: 7117 + 1 + 7117; der Mittelvers 118 ist die Gematrie des Namens Dante Alighieri. Nach dem Buch der Weisheit (11,20) hat Gott „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“. Für Augustinus sind die Zahlen die „in der Welt selbst präsente Form der Weisheit Gottes, die vom menschlichen Geist erkannt werden kann“. Bonaventura verweist auf Boëthius, dem zufolge „die Zahl das wichtigste Urbild im Geist des Schöpfers ist“; deshalb, so der Franziskanertheologe, „ist sie die wichtigste Spur, die zur Weisheit führt“ (Itinerarium mentis in Deum, II).
In Dantes Weltdichtung ist neben der Dreizahl die Sechszahl „vielleicht die wichtigste Zahl der christlichen Symbolik“: „Am sechsten Tag seiner Jenseitswanderung erreicht Dante das irdische Paradies; am sechsten Tag wird er sich dort durch ein Bad in den Paradiesflüssen verjüngen und ein neuer Mensch werden, ebenso wie Gott am sechsten Tag seines Schöpfungswerkes den Menschen im Paradies erschaffen hat. (…) Sechs Stunden dauert die fiktive Handlung im irdischen Paradies: etwa um sechs Uhr morgens steigt Dante auf die Höhe des Berges, und sechs Stunden später, mittags 12 Uhr, also zur sechsten Stunde des Tages, schließt die zweite Cantica ab und beginnt der Aufstieg zum Mondhimmel“ (Manfred Hardt, Die Zahl in der Divina Commedia, Frankfurt 1973, 67 und 173).
Vermittlung von irdischem und himmlischem Eros
Dantes „existentielle Theologie“ hat nach Hans Urs von Balthasar ihre Mitte in der Szene der Beichte: „Dante hat verstanden, dass Beichte eigentlich fegendes, ausbrennendes Feuer sein muss, und dass das Fegfeuer nach dem Tod nichts anderes sein kann als die letzte existentielle Beichte: Konfrontation mit der Liebe, wie sie wirklich und im Himmel ist, und restloser Zusammenbruch alles dessen, was sich vermessentlich auf Erden so nannte. (…) Diese Klärung des Eros vor seiner endgültigen Verklärung ist nur kirchlich möglich…“ (Herrlichkeit II/2, 363-462: Dante, 411).
Die am ‚sechsten Tag‘ begründete irdische (sexuelle) Liebe von Mann und Frau wird bei Dante „durchgetragen bis in die Höhe des Himmels, ja sie wird zum bewegenden Grund der ganzen Jenseitsreise erhoben. Eine Liebe, die auf Erden zwischen zwei Menschen begonnen hat, wird im Itinerarium zu Gott nicht verleugnet, nicht überschritten, sie fällt der klassischen via negativa nicht, wie bisher immer und selbstverständlich, zum Opfer, sondern wird, in welcher Verwandlung und Läuterung auch immer, hindurchgetragen bis zum Thron Gottes. Das ist in der Geschichte der christlichen Theologie schlechterdings unerhört“ (387f).
Auf dem Läuterungsberg nimmt Matelda, „der Frühling in Person“ (W. Wehle), die Rolle der (geläuterten) Venus ein; das dynamische Aufstiegsschema über drei Stufen lautet: „Da Matelda a Beatrice a Maria“ (Rosetta Migliorini-Fissi). Der ganze Prozess der Welterlösung wird gekrönt von der marianischen Himmelsrose der Seligen und Heiligen.
Das Kreuz: Zeichen für Glaube, Liebe, Hoffnung
Der Jesuit Josef Andreas Jungmann (1889–1975) formulierte als Aufgabe der kirchlichen Kunst im Sinn einer Theologie der Verkündigung, in ihr solle das „uns in Christus geschenkte Heil zum Ausdruck“ kommen; das „Bild des Gekreuzigten“ sei daher möglichst „schon vom unvergänglichen Glanz seines Sieges umschlossen“ (Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, 1936, 219). Die romanischen Triumph- oder Siegeskreuze des 11. und 12. Jahrhunderts zeigten den Gekreuzigten aufrechtstehend mit offenen Augen (z. B. Willigis- und Theoderich-Kreuz).
Im Kreuz von St. Gero (Köln) vor einer gelben Strahlensonne (Ende 10. Jh.) ist der gekreuzigte Körper dagegen schon leicht gebeugt. Mit dem Lebensbaum-Motiv verbindet sich dann im 12. Jh. das Sakrament der Liebe als Frucht: Das „kostbare Blut“ wird von Engeln im Kelch aufgefangen. In der Lateranbasilika erscheint in der Apsis das Lebensbaum-Kreuz auf goldenem Grund (Anfang 13. Jh.); an dessen Fuß entspringen die vier Paradiesflüsse (Evangelien), die die Welt wieder mit Gnade und Segen zur bleibenden Fruchtbarkeit erfüllen (mit Bezug auf Ps 42,2: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser…“).
Eine romanische Miniatur in einem Codex aus Zwiefalten (um 1250) stellt die vier Paradiesflüsse in Form eines lateinischen Kreuzes dar mit den vier Kardinaltugenden und den vier Evangelisten in den Ecken; das kreisförmige Zentrum bildet hier das Lamm Gottes mit Nimbus und Kreuzstab. Die zahllosen Kreuzsteine in Armenien heißen „blühendes Kreuz“ und greifen das Lebensbaum-Motiv auf, ebenso die Hochkreuze in Irland. Im Zeichen des Kreuzes segnet die Kirche die Welt, aber nicht im Sinne Nietzsches („Aus Betenden müssen wir Segnende werden“), sondern im ‚ohnmächtigen‘ und demütigen Gestus des Bittgebets.
Eine ganzseitige Miniatur im fünfbändigen Salzburger Missale von Berthold Furtmeyr (zwischen 1482 und 1489 geschaffen) als ergänzenden Illustration zu den Texten der Liturgie des Fronleichnamsfestes zeigt den einen Paradies-Baum mit zwei gegensätzlichen Seiten: von der rechten Seite (mit Totenschädel oder Adamschädel) pflückt Eva die Frucht des Todes, von der linken Seite (mit Kruzifix) pflückt Maria als neue Eva die eucharistische Frucht des Lebens. Eine Besonderheit für die Identifikation von (Pest-)Kranken mit Jesu Passion sind die hyperrealistischen Pestkreuze (in gewisser Weise auch der Isenheimer Altar mit dem eigentlich schon toten Täufer Johannes, der auf das Gotteslamm-Symbol hinweist).
Das Kreuz der Wiederkunft in der Kunst des 5. und 6. Jahrhunderts
Zu diesen späteren Kreuzdarstellungen im denkbar größten Gegensatz scheinen die Parusie-Kreuze in Ravenna zu stehen, so im Mausoleum der Kaiserin-Mutter Galla Placidia (um 450) gegenüber von San Vitale (mit achteckigem Grundriss). Im Zentrum des nächtlichen Sternenhimmels der bemalten Decke erscheint das (Licht-)Kreuz mit den vier Urwesen (Evangelistensymbole) aus der Ezechiel-Vision in den vier Ecken (Ähnlich wurde schon das Kreuz in Santa Pudenziana, frühes 5. Jh., in Rom als Gemmenkreuz vor dem Himmel in der Apsis dargestellt).
Hundert Jahre später entsteht im damaligen Hafenbereich von Ravenna die Kirche Sant‘ Apollinare in Classe mit einem geosteten Apsis-Mosaik. Das Parusie-Kreuz ist hier der ‚hundertste‘ Stern in einem Clipeus mit 99 Sternen, flankiert von Mose und Elia als Repräsentanten des Alten Bundes bei der Verklärung Christi, dessen (Sonnen-)Antlitz im Zentrum des gemmenbesetzten Kreuzes erscheint.
Eingebettet ist das Mosaik in eine grüne Paradies-Landschaft mit stilisierten Bäumen und Sträuchern. Wie das Parusie-Kreuz die Hoffnung stärkt, so das Sieges-Kreuz den Glauben (als „Sieg“ über die Welt) und das Eucharistie-Kreuz die Liebe, was dem dreifachen geistigen Schriftsinn entspricht (anagogisch, typologisch und moralisch) und den drei Zeiten.
Marc Chagalls Fenster in Zürich: Grünes Paradies der Gegenwart
Im Chor der reformierten Fraumünster-Kirche (um 1100) in Zürich hat der jüdische Maler Marc Chagall von 1965 bis 1970 fünf Fenster gestaltet: Dem einen neutestamentlichen Fenster mit Christus am „grünen Holz“ (Lk 23,31) des Kreuzes im Zentrum (als Quint-essenz) stehen die vier alttestamentlichen kleineren Fenster flankierend zur Seite: links das blaue Jakobsfenster mit dem Himmelsleiter-Traum (vgl. GL 294,4: „Du [Kreuz] bist die sichre Leiter,/ darauf man steigt zum Leben,/ das Gott will ewig geben“) und auf der Nordseite ganz links das feuerrote Prophetenfenster mit Elia, der auf dem Sonnenwagen zum Himmel auffährt; rechts das gelbe Zionsfenster mit dem Harfe spielenden Psalmensänger König David sowie dem irdischen und dem himmlischen Jerusalem und auf der Südseite ganz rechts das tiefblaue Gesetzesfenster mit Mose, der die zwei Gesetzestafeln trägt (die Farbe der Thora ist eigentlich das Weiß).
Die Farbsymbolik der drei geosteten Hauptfenster vom Gelb über Grün zum Blau entspricht der Symbolik der drei Zeitdimensionen Vergangenheit (Glaube), Gegenwart (Liebe) und Zukunft (Hoffnung), die im Paradies ganz und eins sind, so auch in der Eucharistie als Liturgie des antizipierten ‚achten Tages‘; denn: „Alles ist in der Kirche Parusie, alles ist zeit- und raumlose verhüllte Wirklichkeit in Symbolen, alles ist in den Mysterien der Kirche ewiges Jetzt.“ „Jetzt stehen wir am Ende des siebenten Tages, an der Schwelle des göttlichen achten und ewigen Tages“ (Pjotr Hendrix, „Garten“ und „Morgen“ als Ort und Zeit für das Mysterium paschale in der orthodoxen Kirche, in: Eranos-Jahrbuch 1963, 147-171).
Bei Friedrich Weinreb heißt es zum Grün: „Die grüne Farbe ist die Farbe des Vollendeten, denn sie entsteht, wenn die Farbe der Vergangenheit, des Ostens (Gold, Gelb), und die Farbe der Zukunft, des Westens (Blau), zur Einheit werden. Vergangenheit und Zukunft sind in einem erfüllten Jetzt eins geworden. (…) Die Zeit, die uns wie Wasser bedrücken kann und die Gefahr enthält, dass wir durch sie mitgerissen werden, hört dort im Garten als solche auf, weil das Gelb mit dem Blau zum Grün geworden ist. In der Offenbarung aus dem Sinai am fünfzigsten Tag nach den sieben Wochen Unterwegssein in der Wüste heißt es, dass der Sinai grün ist, der ganze Berg. (…) Denn jetzt, wo man alles zusammen sieht, wird deutlich, dass es vollkommen ist: von herrlichstem Grün. Darum sieht man im Garten alle Schattierungen des Grünen und darum ist auch die Farbe des fünfzigsten Tages (das heißt, des achten Tages) Grün“ (Der Weg durch den Tempel, 299f).
Das Grün – bei Hildegard wurzelt die Grünkraft (viriditas) des Geistes in der Sonne als Bild des ‚männlichen‘ Gottes – verweist so als Farbe der Hoffnung auf die Gegenwart des Kommenden als Mitte, die das Gelb der Herkunft (Osten) und das Blau der Zukunft (Westen) vereint, ebenso das Rot des Körpers (Norden) und das Weiß des Geistes (Süden): „Dort im Zentrum trifft sich alles. Dort ist auch der Garten. Dort sind auch die beiden Bäume. Das Paradies ist die Kreuzung [!] der Wege. Zukunft und Vergangenheit vereinen sich dort: Irdisches und Himmlisches“ (Legende von den beiden Bäumen, 106). Wo die Zeit nicht mehr in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerteilt, sondern ganz und eins ist, da ist das ‚grüne‘ Paradies auf Erden wieder erschlossen: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).
Das Kreuz: Der Schlüssel zum Paradies und „süßes Holz“
Rupert von Deutz (um 1070–1129) sagt in seinem Kommentar zum Hohelied der Liebe: „Christus selbst ist der Baum des Lebens im neuen Paradies [der Kirche], von dessen Früchte die Gläubigen essen dürfen, die heilige Eucharistie, die vor dem Tod bewahrt.“ Und in seinem großen Kreuz-Hymnus heißt es: „Das Kreuz Christi – die Porte des Himmels, der Schlüssel des Paradieses, der Sturz des Teufels, die Aufrichtung des Menschen… die Erwartung der Patriarchen, die Verheißung der Propheten, der Triumph der Könige, die Würde der Priester …“ Das Kreuz ist „das Hinschwinden der Finsternis, das Eingießen des Lichtes, das Entfliehen des Todes… Durch das Kreuz hat Christus alles an sich gezogen [Joh 12,32]: Das Kreuz ist die Herrschaft des Vaters, das Szepter des Sohnes, das Siegel des Heiligen Geistes, ist das Zeugnis der ganzen Dreifaltigkeit“ (Liber De Divinis Officiis 6,21).
Und weiter: „Durch den Glauben an Christi Leiden und Kreuz verstehen wir jetzt die Geheimnisse des Gesetzes und den verborgenen Sinn der Schriften der Propheten… Und so ist es geschehen, dass wir nunmehr vom Wasser von Mara trinken können, das, wie wir im Buch Exodus (vgl. Ex 15,23-25) lesen, das Volk nicht trinken konnte, bis auf das laute Rufen des Mose zum Herrn hin der Herr ihm ein Holz zeigt, das seine Bitterkeit in Süße verwandelte, nachdem er es ins Wasser geworfen hatte. Denn das Wasser von Mara bedeutet zeichenhaft das Gesetz, das nicht wenig an Bitterkeit enthält, da es sagt: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ (Ex 21,24) und ähnliches. Es wird aber durch das Holz des Kreuzes süß, wofern du dir das Beispiel des leidenden Herrn vor Augen gestellt hast…“
Kommentierend dazu heißt es: „Der Glaube an das in der liturgischen Feier enthüllte Kreuz ist für Rupert die aufschließende Kraft zum wahren Verständnis des Alten Testamentes und zur Überwindung der ‚Bitterkeit‘ des Gesetzes durch die Nachfolge des ‚süßen‘ Beispiels, das der am Kreuz leidende Herr den gläubig werdenden Heiden des Neuen Bundes gegeben hat“ (Fontes Christiani, Bd. 33/3, 826, Anm. 45).
Das Buch Exodus erzählt an der entsprechenden Stelle, dass die Israeliten auf ihrem Wüstenzug zum Offenbarungsgeschehen am Sinai drei Tage kein Wasser fanden. „Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man es Mara (Bitterbrunnen). Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken? Es schrie zum Herrn, und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Als er es ins Wasser warf, wurde das Wasser süß“ (Ex 15,22-24).
Heilung und Erlösung von der Bitterkeit des Todes
Priesterliches Handeln ist (in der alten Welt) immer auch ärztliches Handeln. Die erste Krankheit ist das Erlebnis des bitteren Todes (hebr. mar maweth). Die erste Heilung, die Gott als Arzt (hebr. rofe) bringt, ist daher das Holz (hebr. ez), der Baum des (ewigen) Lebens, im bitteren Wasser der Zeit (hebr. eth), der das Wasser süß macht. „Denn ich, der Herr, bin dein Arzt“ (Ex 15,26). Weinreb bemerkt dazu: Der Weg Gottes ist „Heilung als erstes, denn lege diesen Baum des Lebens in die Zeit, bringe dieses Ewige in die Zeit. Wenn du beide miteinander verbindest, wird das Wasser süß, das ist die Heilung.“ „Man muss das Ganze nehmen, nur dann ist die Thora der Baum des Lebens“ (Der Weg durch den Tempel, 183; vgl. die Verwandlung des Wassers in sechs Krügen in den besseren oder süßen Wein des Neuen Bundes: Joh 2,1-11).
Die Thora ist in dem Maße Wort Gottes, in dem ihr mystischer Sinn vorherrscht und damit die Spaltung des Menschen in seine Doppelnatur ebenso überwunden ist wie auch die Spaltung der Zeit. Mystisch verstanden ist der menschliche Körper als Form (hebr. gal, 3-30, vgl. galuth: ‚Verbannung‘ in die Zeit) für die Erlösung und Auferstehung geschaffen.
Als Erlöser, hebr. goel, 3-1-30, stirbt Jesus aus Gal-ilea mit 33 Jahren (vgl. 3 + 3 Schöpfungstage) am „grünen Holz“ des Kreuzes und bringt so die Eins/Einheit in die Vielheit der Zeit. Deshalb zerreißt bei der Kreuzigung der Vorhang vor dem Allerheiligsten des Tempels (Lk 23,45; vgl. 2 Kor 3,13-18), so dass die Offenbarung des Alten Bundes erst in ihrem eigentlichen geistig-geistlichen, ganzheitlichen Sinn verstanden werden kann (vgl. Klaus W. Hälbig, Die Heimholung ins Paradies. Jesu Fruchtbarkeit als neuer Adam und Ursprung der Kirche, St. Ottilien 2021).
Der Neue Bund in den entschlüsselten Zeichen des Alten Bundes
Erst wenn die vielen Schriften in dem im Kreuz ‚überlieferten‘ Heiligen Geist gelesen eine innere Einheit bilden, sind sie göttliche Offenbarung und ‚Wort Gottes‘, das zu entschlüsseln die Aufgabe der Theologie ist. Davon hat sich die historisch-kritische Exegese heute weitgehend verabschiedet. Schon Martin Luther hat die richtige Formel „Crux sola est nostra theologia“ (WA 5,176,32f) als Absage an die „theologia gloriae“ der Scholastik (der Gekreuzigte ist der ‚für uns‘ Verfluchte) und des geistigen Schriftsinns missverstanden, während das Kreuz gerade umgekehrt dessen Inkraftsetzung ist.
Bischof Melito von Sardes (2. Jh.) sagt in seiner Passah-Homilie: „Alles, was [im Alten Bund] gesagt wurde und geschah, ist ein verschlüsseltes Zeichen, in dem sich Gottes Absicht ankündigt. Denn jedes Wort und jedes Ereignis ist ein Gleichnis. Die Worte sind ein Gleichnis, und die Ereignisse sind ein Modell für das Zukünftige.“ Der Gekreuzigte und Auferstandene hat „die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt“ (Offb 1,18). ‚Schlüssel’, hebr. mafteach, von petach, Öffnung, Tür, ist eng verwandt mit pesach = Ostern; Weinreb schreibt:
„Sobald der Mensch vom Baum der Erkenntnis nimmt, ist der Weg zum Baum des Lebens, der Weg zum Tempel, verschlossen. (…) Aber am Ende der ersten sechsundzwanzig Geschlechter [JHWH = 10-5-6-5 = 26, das heißt bei Mose] wird dem Menschen die Offenbarung am Sinai gegeben. Das ist nichts anderes, als dass Gott dem Menschen den Schlüssel gibt, den Baum des Lebens. Hier hast du ihn wieder, sagt Gott, du brauchst ihn nur zu nehmen, dann geht dir der Weg wieder auf. Und darum ist das Wort für den Auszug an ‚Ostern’, ‚pesach’, eng mit ‚öffnen’ verwandt. Wenn man in dieser Welt der Zweiheit von Ägypten [der Verbannung in die Zeit] wirklich leidet und seufzt und sie nicht erträgt…, erlebt man dieses Wunder des Ausziehens, das zur Offenbarung am Sinai führt, wo man den Schlüssel erhält. Es ist der Weg, den jeder Mensch im Leben zu gehen sich sehnt“ (Das Opfer in der Bibel, 107f).
Das Kreuz erschließt das Innerste oder Allerheiligste
Der Kirchenlehrer und größte Dichter unter den Kirchenvätern, Ephräm der Syrer (306–373), sagt zum Unterschied zwischen dem irdischen und himmlischen Paradies: „In das Heiligtum (das irdische Paradies) ward Adam versetzt: in das Allerheiligste (das himmlische Paradies) sollte er später eingehen.“ Das Kreuz erschließt den Weg zum Heiligtum des Tempels (bzw. zum getauften Körper als Tempel des Heiligen Geistes) wie auch zum Allerheiligsten (der Geistseele). Zum Zerreißen des Tempelvorhangs bemerkt Rupert von Deutz:
„Diese Enthüllung zur Verehrung des Kreuzes bedeutet daher ebenso wie jenes Zerreißen des Vorhangs des Tempels für uns dem mystischen Sinne nach, dass denen, die an den Gekreuzigten glauben, die früher verschlossenen Geheimnisse der Schriften offenbar werden. Denn durch den Glauben an Christi Leiden und Kreuz verstehen wir jetzt den verborgenen Sinn der Schriften der Propheten… Wir verehren also im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, wie der Apostel sagt (vgl. Hebr 2,9), die ihm gebührende Ehre, das erworbene Heil, das zurückgebrachte Leben, die vollendete Rettung, die immerwährende Befreiung. Wir verehren das Kreuz – den Schutz des Glaubens, die Stärke der Hoffnung, den Sitz der Liebe… Wir verehren das Kreuz – und es hat den Hochmut ausgerottet…“ (Liber De Divinis Officiis 6,21) – den Hochmut als erste Entsprechung zum Ungehorsam Adams im Paradies.
Klaus W. Hälbig
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