Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist heimgegangen

Das Porträt von Papst Benedikt XVI. von Michael Triegel hängt im Geburtshaus Joseph Ratzingers in Marktl am Inn im oberbayerischen Landkreis Altötting, einem der wichtigsten Marienwallfahrtsorte der katholischen Welt.

 

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist am letzten Tag des Jahres 2022, am Morgen des 31. Dezembers, dem Samstag in der Weihnachtsoktav, im Alter von 95 Jahren heimgegangen. Zeitlebens hat er sich für die Verbindung von Glauben und Vernunft sowie von Tradition und Moderne stark gemacht. Für die Erschließung und Bewahrung des Glaubensgutes der katholischen Kirche in einer immer säkularer werdenden Welt hat er Herausragendes geleistet.

 

Einführung in den katholischen Glauben im Horizont einer säkularen Welt

Als Konzilstheologe an der Seite von Kardinal Frings, als Erzbischof von München und Freising, als langjähriger Präfekt der Glaubenskongregation an der Seite von Papst Johannes Paul II. und schließlich als Papst hat er sich dafür eingesetzt, den Glauben so zur Sprache zu bringen, dass die heutigen Menschen ihn als beglückendes, froh machendes und befreiendes Geschenk Gottes annehmen können. Theologie und Spiritualität, Denke und Beten gehörten für ihn untrennbar zusammen. Der Nachwelt im Gedächtnis bleiben wird vor allem sein völlig überraschender, als „historisch“ bewerteter Rücktritt vom höchsten Amt der Kirche nach acht Regierungsjahren, die auch von Pannen, Versäumnissen, Irritationen und Enttäuschungen begleitet und überschattet waren.

 

Zu seinen größten theologischen Werken gehört seine „Einführung in das Christentum“ (1968), wo er überzeugend das Glaubensbekenntnis der Kirche im Horizont des heutigen Denkens erschlossen hat. Wegweisende kurze Einführungen in ein für das Heute reflektiertes Christsein sind auch seine Enzykliken zu den drei Geist-Tugenden Liebe (2005), Hoffnung (2007) und Glaube (2013, herausgegeben von seinem Nachfolger Papst Franziskus) sowie seine drei Bände zu Jesus von Nazareth (2007ff), die er sich unter der Last des Papstamtes abgerungen hat (mit Vorarbeiten im Sommerurlaub 2003 und 2004): „Nach meiner Wahl auf den Bischofssitz von Rom habe ich alle freien Augenblicke genutzt, um das Buch voranzubringen“, schrieb er im Vorwort des ersten Bandes. Den zweiten (und dritten) Band stellte er zurück, weil es ihm vordringlich erschien, „Gestalt und Botschaft Jesu in seinem öffentlichen Wirken darzustellen und dazu zu helfen, dass lebendige Beziehung zu ihm wachsen kann“ (30. Sept. 2006).

 

Die Bibel als Gegenwart im Gottesdienst der Kirche

Gegenüber anderen Darstellungen des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu ging es ihm darum zu zeigen, dass „das Volk Gottes – die Kirche – … das lebendige Subjekt der Schrift (ist); in ihr sind die biblischen Worte immer Gegenwart“ (Vorwort) – und nicht Vergangenheit, wie es bei der historisch-kritischen Schriftauslegung der Fall ist. Inspiration des biblischen Autors bedeutet: „Der Autor spricht nicht als privates, in sich geschlossenes Subjekt. Er spricht in einer lebendigen Gemeinschaft und so in einer lebendigen geschichtlichen Bewegung, die er nicht macht und die auch vom Kollektiv nicht gemacht wird, sondern in der eine größere führende Kraft am Werk ist. Es gibt Dimensionen des Wortes, die die alte Lehre von den vier Schriftsinnen im Kern durchaus sachgemäß angedeutet hat. Die vier Schriftsinne sind nicht nebeneinanderstehenden Einzelbedeutungen, sondern eben Dimensionen des einen Wortes, das über den Augenblick hinausreicht“ (ebd.; zu den vier Schriftsinnen vgl. KKK 114–118).

 

Damit hat sich Joseph Ratzinger gegen die Bibelwissenschaft in ihrer herrschenden Gestalt gestellt, die nur den Literalsinn kennen will und einen geistigen Sinn der Schrift in Abrede stellt. Sie beruft sich dafür auf die Enzyklika „Divino afflante spiritu“ von Papst Pius XII. von 1943, wo „auf katholischer Seite endgültig die allegorische Schriftauslegung zurückgestellt zugunsten der Bedeutung des Literalsinns der biblischen Texte“ (Christoph Dohmen/ Thomas Hieke, Das Buch der Bücher. Die Bibel – Eine Einführung, 2010, 74f). Die angeführte Enzyklika sagt freilich etwas ganz anderes:

 

„Aussprüche und Geschehnisse des Alten Testamentes hat Gott in Seiner Weisheit so angeordnet und eingerichtet, dass das Vergangene geistigerweise das vorausbedeutete, was im Neuen Bund der Gnade geschehen sollte. Wie darum der Exeget den Literalsinn der Worte, den der heilige Schriftsteller beabsichtigte und ausdrückte, auffinden und erklären muss, so auch den geistigen, sofern nur gebührend feststeht, dass Gott diesen Sinn wirklich gewollt hat. Denn nur Gott konnte diesen geistigen Sinn kennen und uns offenbaren. (…) Diesen geistigen Sinn also, den Gott selbst gewollt und angeordnet hat, sollen die katholischen Exegeten mit der Sorgfalt aufhellen und darlegen, die die Würde des Wortes Gottes fordert“ (II.2).

 

Bei der Dogmatisierung der ‚Himmelfahrt‘ Mariens durch Pius XII. mit der Bulle „Munificentissimus Deus“ am Allerheiligenfest 1950 wurde als ‚Schriftbeweis‘ nach dem geistigen Sinn darauf verwiesen, dass Maria mit der Bundeslade im innersten Allerheiligsten des Tempels identifiziert wurde und dieser Lade als Baumaterial die ‚Unverweslichkeit‘ des Akazienholzes diente (Ex 25,10); zudem heißt es in Psalm 132,8: „Erhebe dich, o Herr, zu deiner Ruhestatt, du und deine heilige Lade!“ Nach dem Literalsinn hätte der für alle katholischen Gläubigen verbindliche Glaubenssatz nie formuliert werden können.

 

Relativierung der historischen Kritik gegenüber dem Lehramt

Konrad Schmid und Jens Schröter kritisieren in ihrer Bibel-Einführung Benedikt XVI., weil er die kritische Auslegung „durch ‚kanonische Exegese‘ und eine Wiederaufnahme der Inspirationslehre überwinden“ wolle: „De facto würde das auf eine Relativierung der historischen Kritik gegenüber dem Lehramt hinauslaufen“ (Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, 2019, 445). Den beiden protestantischen Bibelwissenschaftlern zufolge kann die heutige Exegese „nur zeitbedingte, dem jeweiligen Kenntnisstand sowie der kulturellen und religiösen Sozialisation ihrer Interpreten entsprechende Auslegungen der Bibel hervorbringen, keine unumstößlich für alle Zeiten geltenden“ (402). Doch genau das tut das katholische Lehramt, wofür Joseph Ratzinger die theologische Legitimation liefern wollte und lieferte.

 

Die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, an der Joseph Ratzinger wesentlichen Anteil hat, sagt mit der Schrift: „Lebendig ist Gottes Rede und wirksam“ (Hebr 4,12), „mächtig aufzubauen und das Erbe auszuteilen unter allen Geheiligten“ (Apg 20,32; vgl. 1 Thess 2,13) (Dei Verbum 21). Christus als das eine verbum incarnatum ist „Glaubensstärke, Seelenspeise und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens“ (ebd.). Wo nur noch der äußere Sinn erklärt wird, ihr geistiger Sinn aber, durch den die Bibel für das Glaubensleben des Einzelnen wie der Kirche erst ‚nahrhaft‘ und relevant wird, unerschlossen bleibt, da nimmt es nicht wunder, dass sich in der heutigen säkularisierten, ehemals christlichen Gesellschaft das Verständnis der Bibel dem Nullpunkt nähert: die Bibel ist zum „unbekannten Bestseller“ geworden (so der Titel einer Ausgabe von Herder-Korrespondenz-Spezial 2020).

 

Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift

Das erschreckend geringe Wissen der meisten Menschen über grundlegende Glaubensaussagen, das Meinungsumfragen Jahr für Jahr neu belegen, ist das eine; die völlige Unkenntnis des tieferen geistigen Sinns der Bibel das andere. Als Theologe, Kirchenführer und Papst wollte Ratzinger diesem Missstand abhelfen: „Die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift sind nicht einfach Literatur. Die Schrift ist in und aus dem lebendigen Subjekt des wandernden Gottesvolkes gewachsen und lebt in ihm“ (Vorwort, Jesus von Nazareth I). Die Bibel ist das Buch der Kirche, die inspiriert und getragen ist vom Heiligen Geist wie die biblischen Autoren auch. Das gilt insbesondere für die geisterfüllten Heiligen der Kirche. So kann mit Blick auf den heiligen Franziskus gesagt werden: „Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift“ (108).

 

Schriftauslegung kann daher „keine rein akademische Angelegenheit sein und kann nicht ins rein Historische verbannt werden. Die Schrift trägt überall ein Zukunftspotential in sich, das sich erst im Durchleben und Durchleiden ihrer Worte öffnet. Franz von Assisi hat die Verheißung dieses Wortes [der Seligpreisung der Armen vom Geist her] in letzter Radikalität ergriffen“ (ebd.). So erlangte er die „innerste Offenheit für Christus, mit dem er in der Verwundung durch die Wundmale ganz gleichgestaltet wurde, so dass nun wirklich nicht mehr sein Selbst lebte, sondern er als der Wiedergeborene ganz von und in Christus existierte. Er wolle ja keinen Orden gründen, sondern einfach das Volk Gottes neu sammeln auf ein Hören des Wortes, das sich nicht mit gelehrten Kommentaren aus dem Ernst des Anrufs stiehlt“ (109). Mit diesen Worten hat der Papst auch sein eigenes Anliegen umschrieben – und sich mutig gegen die Zunft der akademischen Exegeten gestellt, die genau das tun: Sich aus dem Ernst des göttlichen Anrufs der Heiligen Schrift wegzustehlen.

 

Die Kirche: „das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi“

Den geistig Armen verheißt Jesus das Himmelreich oder Reich Gottes (Mt 5,3; Lk 6,20). „Franziskus stand ganz in der Kirche; und zugleich wächst in solchen Gestalten die Kirche in ihr künftiges und doch schon gegenwärtiges Ziel hinein: Reich Gottes kommt nahe…“ (ebd.). Die dogmatische Konzilskonstitution über die Kirche „Lumen gentium“ hatte formuliert: „Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi, wächst durch die Kraft Gottes sichtbar in der Welt. Diese Anfänge und dieses Wachstum werden zeichenhaft angedeutet durch Blut und Wasser, die der geöffneten Seite des gekreuzigten Jesus entströmen (vgl. Joh 19,34)…“ (LG 3). Ebenso sagt schon die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“: „Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen“ (SC 5).

 

Zu dieser Auslegung der Geburt der Kirche als neuer Eva (2 Kor 11,2) aus dem neuen Adam am Kreuz hat Karl Rahner 1936 seine Dissertation verfasst: „E latere Christi. Der Ursprung der Kirche als zweiter Eva aus der Seite Christi des zweiten Adam“ (erstmals gedruckt in: Sämtliche Werke, Bd. 3: Spiritualität und Theologie der Kirchenväter, Freiburg 1999, 1-84). Der spätere Konzilstheologe konnte darin nachweisen, dass diese Auslegungstradition bis ins 2. Jahrhundert (Tertullian) zurückreicht.

 

Die Geburt der Kirche aus der geöffneten Seitenwunde des Erlösers

In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, also noch vor dem Konzil, haben Jesuiten wie die Brüder Karl und Hugo Rahner, Richard Gutzwiller und Josef Stierli in einem Sammelbund zur Herz-Jesu-Verehrung (Cor Salvatoris, 1954) die zentrale Bedeutung des Topos von der Herzensgeburt der Kirche aus ihrem für sie gestorbenen Erlöser und Bräutigam herausgearbeitet, im Vorwort aber geschrieben: „Der Wunsch nach einer umfassenden theologischen Darstellung des Herz-Jesu-Geheimnisses bleibt werden offen.“ Josef Stierli fasste die Sicht der Kirchenväter auf dieses Geheimnis so zusammen:

 

„Mit dem Gedanken von der Geburt der Kirche verbindet sich das Geheimnis ihrer Hochzeit mit dem Blutbräutigam Christus: denn die Stunde der Geburt ist die Stunde der Hochzeit. Rot und weiß ist das Brautkleid, Blut und Wasser aus dem Herzen des Bräutigams. Der Herr gibt der Kirche sein Herz, um von der Kirche das Herz des erlösten Menschen zu empfangen. So ist die Kirche ein Herzensgeheimnis des durchbohrten Christus“ (Dogmatische und religiöse Werte der Herz-Jesu-Verehrung, 258; zum „Blutbräutigam‘ vgl. Ex 4,26; zu ‚rot und weiß‘ Hld 5,10).

 

Benedikt XVI. hat am 15. Mai 2006 in einem Schreiben zum 50. Jahrestag der Enzyklika „Haurietis aquas“ (1956) von Pius XII. zur grundlegenden Bedeutung der Verehrung des heiligsten Herzens Jesu an den damaligen Jesuitengeneral Peter-Hans Kolvenbach der Gesellschaft Jesu die Förderung dieser Verehrung den Jesuiten buchstäblich ans Herz gelegt: „Die durchbohrte Seite des Erlösers ist die Quelle, auf die uns die Enzyklika Haurietis aquas verweist: Aus dieser Quelle müssen wir schöpfen, um zur wahren Kenntnis Christi zu gelangen und seine Liebe in größerer Tiefe zu erfahren.“

 

Die Herz-Jesu-Verehrung: Inhalt jeder echten Spiritualität

Benedikt verweist darin auf seine eigene Enzyklika „Deus caritas est“ (2005), wo er gleich zu Beginn den ersten Johannesbrief zitiert: „Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt“, und zwar „um zu unterstreichen, dass am Anfang des Christeins die Begegnung mit einer Person steht“:

 

„Dieses Geheimnis der Liebe Gottes zu uns ist aber nicht nur Gegenstand der Herz-Jesu-Verehrung: Es ist in gleicher Weise der Inhalt jeder echten Spiritualität und christlichen Frömmigkeit. Daher ist es wichtig zu betonen, dass die Grundlage dieser Verehrung so alt ist wie das Christentum selbst. Christsein ist nämlich nur mit dem Blick auf das Kreuz unseres Erlösers möglich, mit dem Blick auf den, ‚den sie durchbohrt haben‘ (Joh 19,37; vgl. Sach 12,10).“

 

Das ‚Herz‘ Jesus steht für die innerste Mitte seiner Person, das ‚Gehirn‘ Jesu ist kein mögliches Symbol einer Verehrung, weil es gar kein Symbol ist. Wie Pius XII. in seiner Enzyklika mit Paulus (Röm 5,5: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“) besonders auf den Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erfahrung hingewiesen hatte, so betont auch Benedikt XVI.: „Der Glaube, als Frucht der Erfahrung der Liebe Gottes verstanden, ist eine Gnade, eine Gabe Gottes. Aber der Mensch wird den Glauben nur in dem Maße als eine Gnade erfahren können, in dem er ihn in seinem Inneren als ein Geschenk annimmt, aus dem er zu leben sucht. (…) Die Einladung, sich ganz der heilbringenden Liebe Christi hinzugeben und sich ihr zu weihen (vgl. Haurietis aquas, 4), hat daher als erstes Ziel die Beziehung zu Gott. Das ist der Grund, warum diese Verehrung, die ganz der Liebe Gottes gilt, der sich für uns opfert, für unseren Glauben und für unser Leben in der Liebe von so unersetzlicher Bedeutung ist.“

 

Durch die anbetende Betrachtung der durchbohrten Seite Christi werde der Mensch empfänglich für den Heilswillen Gottes und bestärkt „in dem Verlangen, an seinem Heilswerk dadurch teilzunehmen, dass wir zu seinen Werkzeugen werden. Die aus der geöffneten Seite, aus der ‚Blut und Wasser‘ floss (vgl. Joh 19,34), empfangenen Gaben bewirken, dass unser Leben auch für die anderen Menschen zur Quelle wird, von der ‚Ströme lebendigen Wassers‘ (Joh 7,38) kommen (vgl. Deus caritas est 7).“ „Die Anbetung der Liebe Gottes, die im Symbol des ‚durchbohrten Herzens‘ ihren frömmigkeitsgeschichtlichen Ausdruck gefunden hat, bleibt für eine lebendige Gottesbeziehung unverzichtbar (vgl. Haurietis aquas, 62).

 

Mit Hilfe des Jesuiten Claudius de la Colombière (1641–1682) war die von der Salesianerin und Mystikerin Margareta Maria Alacoque (1647–1690) aufgrund von empfangenen ‚Privatoffenbarungen‘ eindringlich geforderte Herz-Jesu-Verehrung von den Päpsten seither besonders gefördert worden (vgl. Josef Stierli, Die Herz-Jesu-Verehrung vom Ausgang der Väterzeit bis zur hl. Margareta M. Alacoque, in: ders., Cor Salvatoris, 73-136, bes. 123-130: Die Gesellschaft Jesu; außerdem ders., Die Entfaltung der kirchlichen Herz-Jesu-Verehrung in der Neuzeit, 137-165, bes. 140-154: Die Sendung der hl. Margareta Maria Alacoque; zu dem Jesuiten de la Colombière vgl. 154-156).

 

Das Kreuz: Ausdruck der Hochzeit Jesu mit der erlösten Menschheit

Dass die von Josef Stierli und seinen Mitbrüdern herausgestellte Hochzeits-Symbolik des Herzens Jesu nichts von ihrer Aktualität verloren hat, bezeugt die Predigt von Benedikt XVI. am Gründonnerstag 2009, der Feier der Einsetzung der Eucharistie: Das Sakrament der Liebe wolle als „leibhaftig gewordene Liebe … der Anfang der Verwandlung der Welt sein. Dass sie Welt der Auferstehung, Welt Gottes werde.“ Der Kelch mit dem „Wein seiner Liebe“ als Blut des ewigen Bundes „bedeutet Hochzeit. Nun ist die Stunde da, auf die die Hochzeit zu Kana geheimnisvoll hingedeutet hatte. Ja, die Eucharistie ist mehr als Mahl, sie ist Hochzeit. Und diese Hochzeit beruht auf der Selbstschenkung Gottes bis in den Tod hinein“ (Zeichen des neuen Lebens. Predigten zu den Sakramenten der Kirche, ausgew. und herausgegeben von Manuel Schlögl, Einsiedeln 2017, 78-80).

 

Schon in dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Sacramentum Caritatis“ aus dem Jahr 2007 zur Eucharistie hat Benedikt XVI. den engen Zusammenhang zwischen dem Wort Gottes und der Eucharistie unterstrichen, zwischen dem Heilswerk Christi und dem Heiligen Geist sowie zwischen dem Kreuzesopfer und der eucharistischen Lebensform der Kirche. Das Kreuzesgeschehen wurde dabei explizit als „Hochzeit“ bezeichnet: „Tatsächlich ist in der paulinischen Theologie die eheliche Liebe ein sakramentales Zeichen der Liebe Christi zu seiner Kirche – einer Liebe, die ihren Höhepunkt im Kreuz erreicht, das der Ausdruck seiner ‚Hochzeit‘ mit der Menschheit und zugleich der Ursprung und das Zentrum der Eucharistie ist“ (27). In der Feier der Eucharistie als „Sakrament des Bräutigams und der Braut“ (27) und „Lebensmitte“ der Kirche (12) wird „ein Vorgeschmack der eschatologischen Erfüllung gewährt …, zu der jeder Mensch und die ganze Schöpfung unterwegs ist“ (30).

 

Einführung in den Geist der Liturgie und den Kult der Kirche

Die Eucharistie beziehungsweise „die Liturgie (ist) der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10). Im Anschluss an Romano Guardinis bahnbrechendes Werk „Vom Geist der Liturgie“ (1918), das der Liturgiereform den Weg bereitete, veröffentlichte Joseph Ratzinger im Jahr 2000 seine nicht minder bahnbrechende Einführung „Der Geist der Liturgie“, in der er den Zusammenhang von Liturgie, Kosmos und Geschichte herausarbeitete, aber auch den Zusammenhang mit dem alttestamentlichen Tempelkult und zugleich dessen Überbietung und Vollendung im Kreuzesopfer Jesu: „Kult als Aufschauen zu dem, was vor allem Sein und über allem Sein ist, ist seinem Wesen nach Erkenntnis und als Erkenntnis Bewegung, Heimkehr, Erlösung“ (26).

 

Dass Jesus als der Erlöser jener Gute Hirte ist, der das Schaf der Menschheit aus dem „Dornengestrüpp“, in dem es sich verfangen hat, befreit und heimführt auf dem Weg zu Gott, haben Ratzinger zufolge die Kirchenväter im Gleichnis vom verirrten Schaf (Mt 18,12-14) ausgedrückt gefunden: „Der Hirt, der es holt und heimträgt, ist für sie der Logos selbst, das ewige Wort, der ewige, im Sohn Gottes wohnende Sinn des Alls, der sich selbst auf den Weg macht zu uns und der nun das Schaf auf die Schultern nimmt, das heißt Menschennatur annimmt und als Gottmensch das Geschöpf Mensch wieder heimträgt. So wird reditus möglich, die Heimkehr schenkt. Damit nimmt nun freilich das Opfer die Form des Kreuzes an, der sich im Tod verschenkenden Liebe, die nichts mit Zerstörung zu tun hat, sondern ein Akt der Neuschöpfung ist, der die Schöpfung wieder zu sich selber bringt. Und aller Kult ist nun Beteiligung an diesem ‚Pascha‘ Christi, an diesem seinem ‚Übergang‘ vom Göttlichen zum Menschlichen, vom Tod zum Leben, zur Einheit von Gott und Mensch. Christlicher Kult ist so konkretes Einlösen und Verwirklichung des Wortes, das Jesus am ersten Tag der großen Woche, am Palmsonntag, im Tempel zu Jerusalem ausgerufen hat: ‚Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, werde ich alles an mich ziehen‘ (Joh 12,32)“ (29).

 

Das kontemplative Schauen auf den Durchbohrten

Am Kreuz ist der Gute Hirte selbst das Schaf und „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Der Vers Joh 19,36 („Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen“) spielt auf das Paschalamm der jüdischen Oster-Liturgie an (vgl. Ex 12,46). Noch ein weiteres Schriftwort wird am Kreuz erfüllt: „Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ (Sach 12,10; Joh 19,37). Im oben genannten Schreiben an den Jesuitengeneral wird als Grund für die Herz-Jesu-Verehrung angeführt: „Christsein ist nämlich nur mit dem Blick auf das Kreuz unseres Erlösers möglich, mit dem Blick auf den, ‚den sie durchbohrt haben‘ (Joh 19,37; vgl. Sach 12,10). (…) Wenn wir das Herz Jesu verehren, anerkennen wir nicht nur voll Dankbarkeit Gottes Liebe, sondern öffnen uns immer mehr dieser Liebe, so dass unser Leben zunehmend von ihr geformt wird.“

 

Unter dem Titel „Schauen auf den Durchbohrten“ hat Joseph Ratzinger 1984 einige Meditationen oder „Versuche zu einer spirituellen Christologie“ (Untertitel) veröffentlicht. Von besonderer Bedeutung ist darin die Betrachtung zur österlichen Symbolik „Das Lamm erlöste die Schafe“ (93-101), wo das Sohnesopfer Abrahams (Gen 22) als Vorausbild des Kreuzesopfers des Sohnes Gottes ausgelegt wird. Auf dem Gipfel des Berges Mori-jah (= JHWH ist mein Lehrer) sieht Abraham dann den Widder im Gestrüpp/Baum (Gen 22,13), das heißt das Paschalamm, das Gott selbst mit den Lammopfern im Tempel vorgesehen und bereitet hat:

 

„Die Väter gehen aber noch einen Schritt weiter: Isaak hat den Widder gesehen, das bedeutet: er hat das Zeichen des Kommenden gesehen, den Kommenden, der Lamm wurde. Er hat, indem er das Lamm sah, den gesehen, der sich im Gestrüpp der Geschichte fangen ließ, der sich für uns binden ließ und unsere Ablösung wurde, die unsere Erlösung ist. Insofern hat Isaak nach den Vätern wirklich den Blick in den Himmel getan. Der Blick auf diesen Widder war der Blick in den geöffneten Himmel. Denn darin sah er den Gott, der vorsorgt und auch an der Schwelle des Todes, gerade dort, steht. (…) Indem Isaak das Lamm sah, sah er, was Kult ist: Gott selbst bereitet sich seinen Kult, durch den er den Menschen ablöst, erlöst und ihm das Lachen der Freude zurückgibt, das zum Lobgesang der Schöpfung wird“ (98).

 

Das Lachen ist Bedeutung des Namens Isaak, den die 89-jährige Sarah nach dem Besuch Gottes bei dem 99-jährigen Abraham empfängt, als „es ihr längst nicht mehr (erging), wie es Frauen zu ergehen pflegt“ (Gen 17,11-15). Isaak ist daher nicht wie der 13 Jahre ältere Sohn „auf natürliche Weise gezeugt“, sondern „kraft des Geistes“ wie die in der Taufe auf Jesu Tod und Auferstehung wiedergeborenen Gläubigen (Gal 4,28f). Der Widder als Ersatz-Opfer ist Hinweis auf das erste Tierkreiszeichen Widder, der den Frühlings- und zugleich den Jahres- und Schöpfungsanfang markiert: „Das Sternbild am Himmel schien im Voraus und für alle Zeiten von dem ‚Lamm Gottes‘ zu sprechen, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29)“ (Der Geist der Liturgie, 87, mit Verweis auf Herbert Schade, Lamm Gottes und Zeichen des Widders, 1998).

 

Den kosmischen Blick in der Liturgie zurückgewinnen

Die kosmische Dimension der Eucharistie war Ratzinger besonders wichtig: „Es scheint mir klar, dass auch wir diesen kosmischen Blick zurückgewinnen müssen, wenn wir das Christentum wieder in seiner ganzen Weite verstehen und leben wollen“ (87). Verwiesen wird dazu auf das schon „vor der Grundlegung der Welt“ bereitgestellte Lamm (1 Petr 1,20; Offb 13,8). Vor der Grundlegung oder ‚im Anfang‘ aber bedeutet: in der Tagundnachtgleiche des Frühlings, der astrologisch durch das erste Zeichen Widder markiert wird, weshalb Israel das Pascha-Fest im ersten Monat Nisan feiern muss (Ex 12,2; vgl. Dtn 16,1). Auch das christliche Osterfest ist am Frühlings-Vollmond ausgerichtet, wird doch Christus am Kreuz parallel zur Schlachtung der Lämmer im Tempel „als unser Paschalamm … geopfert“ (1 Kor 5,7).

 

Der Ingeborg-Psalter (um 1200) stellt das Opfergeschehen auf dem Morijah und dem Golgatha in einem Bild dar: In der oberen Szene trägt Isaak das X-förmige Holz für das Brandopfer den Berg hinauf, in der unteren Szene verfängt sich der Widder im X-förmigen Baum. Am Ende von Platons Naturphilosophie im „Timaios“ (36 b/c) wird die alles zusammenhaltende Weltseele oder Welt-Mitte repräsentiert durch das Chi-Kreuz (= X) als Schnittpunkt von Ekliptik und Himmelsäquator, wobei sich die beiden Weltkreise in den Äquinoktien scheiden:

 

„Was Platon über die Weltseele sagt, erscheint ihm [dem Märtyrer Justin] als Hinweis auf das Kommen des Logos, des Sohnes Gottes. Und so kann er nun sagen, dass die Gestalt des Kreuzes das größte Symbol der Herrschaft des Logos sei, ohne die es keinen Zusammenhang in der ganzen Schöpfung geben könne (1. Apol. 55). Das Kreuz von Golgotha ist vorausgebildet in der Struktur des Kosmos selbst; das Marterwerkzeug, an dem der Herr starb, ist in die Struktur des Alls eingeschrieben. Der Kosmos spricht uns vom Kreuz, und das Kreuz enträtselt uns den Kosmos. Es ist der eigentliche Schlüssel aller Wirklichkeit. Geschichte und Kosmos gehören zusammen. Wenn wir die Augen auftun, lesen wir die Botschaft Christi in der Sprache des Alls, und umgekehrt: Christus schenkt uns, die Botschaft der Schöpfung zu verstehen“ (Der Geist der Liturgie, 152-167: Das Kreuzzeichen, 156).

 

Auch Sonne und Mond sind für das Verständnis der ‚Sprache‘ des Schöpfers unerlässlich: „In der Welt der Religionen erscheint der Mond [Luna] mit seinen wechselnden Phasen häufig als Symbol des Weiblichen, besonders aber als Symbol der Vergänglichkeit“ (88). „Der sterbende und erstehenden Mond wird zum kosmischen Zeichen für Tod und Auferstehung, die Sonne des ersten Tages [= Sonn-tag] zum Boten Christi, der ‚wie ein Bräutigam aus seiner Kammer [am Frühlingsanfang] heraustritt und freudig wie ein Held seine Bahn läuft‘ bis an die äußersten Enden von Raum und Zeit (Ps 18 [19] 6f). Deswegen sind die christlichen Feste nicht zeitlich beliebig zu manipulieren; die ‚Stunde‘ Jesu zeigt sich auch uns immer wieder in der Einheit von kosmischer und geschichtlicher Zeit. Durch das Fest treten wir in den Rhythmus der Schöpfung und in die Ordnung der Geschichte Gottes mit den Menschen ein“ (89f). Das Schema der Sieben-Tage-Woche für die Schöpfung geht auf Luna zurück, denn die Sieben „ist die Zahl einer Mondphase“ (Im Anfang schuf Gott, 1986, 27).

 

Maria als Bundeslade im Tempel und als Brautgemach des Logos

Die christliche Tradition sieht in Vision von der schwangeren Frau auf der Mondsichel, bekleidet vom Licht der Sonne (Off 12,1), Maria als Urbild der Ekklesia. In der Betrachtung „Die Gegenwart Gottes in Maria“ (als Symbol der Kirche) griff Ratzinger, ausgehend von Offb 11,19 („in seinem Tempel wurde die Lade des Bundes sichtbar“), das Bild der Bundeslade wieder auf: „Das Symbol der Gegenwart Gottes unter seinem Volk … hat nunmehr der Wirklichkeit Platz gemacht. So sagt uns das Neue Testament, dass die wahre Lade des Bundes eine lebendige und konkrete Person ist: die Jungfrau Maria. Gott wohnt nicht in einem beweglichen Möbel, Gott wohnt in einer Person, in einem Herzen: in Maria, die den menschgewordenen ewigen Sohn Gottes, Jesus, unseren Herrn und Erlöser, in ihrem Schoß getragen hat. (…) Sie hat denjenigen in sich aufgenommen, der der neue und ewige Bund ist. Dieser Bund hat seinen Höhepunkt gefunden in der Hingabe seines Leibes und seines Blutes, die er von Maria empfangen hat“ (Die Offenbarung des Johannes, o. J., 39f).

 

Im ‚Tabernakel‘ (= Zelt), in dem die konsekrierten Hostien aufbewahrt werden, ist das „ganz verwirklicht, wofür ehedem die Bundeslade stand. Er ist der Ort des ‚Allerheiligsten‘. Er ist das Zelt Gottes, der Thron, da er unter uns ist, seine Gegenwart (Shekhina) nun wirklich unter uns wohnt – in der armseligsten Dorfkirche nicht weniger als im größten Dom. Auch wenn der endgültige Tempel erst sein wird, wenn die Welt Neues Jerusalem geworden ist – das, worauf der Tempel zu Jerusalem verwies, ist hier auf höchste Weise Gegenwart. Das Neue Jerusalem ist antizipiert, in der Demut der Brotsgestalt“ (Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, Ges. Schriften Bd. 11, Freiburg ²2008, 188f).

 

Mit den Kirchenvätern bezog Ratzinger Psalm 19,6 auf Christus und Maria als „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,26) und als Brautgemach: Der ewige Logos ist als „das wahre Licht der Geschichte … in Bethlehem aus dem Brautgemach der jungfräulichen Mutter herausgetreten“ und erleuchtet nun „die ganze Welt“ (Der Geist der Liturgie, 60). Der 25. Dezember ist das Datum der Wintersonnenwende nach dem Julianischen Kalender, der 25. März (Mariä Verkündigung) das Datum der Tagundnachtgleiche im Frühling. Die Bundeslade im Allerheiligsten des Tempels mit den zwei Tafeln der Zehn Gebote als Kern der Thora „war verstanden als leerer Thron, auf dem sich die Schekhina – die Wolke der Gegenwart Gottes – niederlässt. Die Cherube, in denen gleichsam die Weltelemente dargestellt sind, figurieren dort als ‚Thronassistenten‘“ (57).

 

Hildegard von Bingen im Jahr 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben

Wie kaum ein anderer Theologe von Rang hat Hildegard von Bingen (1098–1179) die kosmische Dimension der biblischen Heilsgeschichte stets im Blick behalten. Benedikt XVI. hat sie am 7. Oktober 2012, mehr als 800 Jahre nach ihrem Tod, zur „Kirchenlehrerin der Gesamtkirche“ erhoben und ihr damit als vierter Frau weltweit diesen höchsten Ehrentitel der katholischen Kirche verliehen. In einer Zeit des bedrohlichen Klimawandels und der völligen Entfremdung des Menschen von der Natur ist ihre prophetisch-visionäre Schau der Einheit von Gott, Mensch und Kosmos sowie ihre ganze spirituelle Kosmologie geeignet, den Menschen in seiner Kreatürlichkeit und seinem Eingebundensein in die kosmischen Rhythmen und biologischen Grundgesetze ein tragfähiges ‚Weltgefühl‘ zu vermitteln, das ihn nicht zu einem „Zigeuner am Randes des Universums“ (Jaques Monod) macht.

 

Joseph Ratzinger hat sich schon in den 60er Jahren als Professor in Bonn intensiv mit der heiligen Äbtissin und ihrer Lehre befasst. Im Apostolischen Schreiben zu ihrer Erhebung heißt es: „In ihren zahlreichen Schriften widmete sich Hildegard ausschließlich der Darlegung der göttlichen Offenbarung und der Verkündigung Gottes in der Klarheit seiner Liebe. Hildegards Lehre gilt sowohl wegen der Tiefe und Korrektheit ihrer Auslegungen als auch wegen der Originalität ihrer Sichtweisen als herausragend. Die von ihr verfassten Texte scheinen von einer echten ‚intellektuellen Liebe‘ beseelt zu sein und verdeutlichen die Dichte und Frische in der kontemplativen Betrachtung des Geheimnisses der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, der Menschwerdung, der Kirche, der Menschheit, der Natur, die als Geschöpf Gottes geschätzt und respektiert werden soll. Diese Werke entstehen aus einer tiefen mystischen Erfahrung und bieten eine einprägsame Reflexion über das Geheimnis Gottes. Der Herr hatte sie bereits als Kind an einer Reihe von Visionen teilhaben lassen…“

 

„Der Blick der Mystikerin aus Bingen beschränkt sich nicht darauf, einzelne Fragen anzugehen, sondern sie will eine Synthese des ganzen christlichen Glaubens bieten. In ihren Visionen und in der anschließenden Reflexion fasst sie deshalb die Heilsgeschichte vom Beginn des Universums bis zum Jüngsten Tag zusammen. (…) Unter allen Geschöpfen liebt Gott besonders den Menschen und verleiht ihm eine außerordentliche Würde, indem er ihm jene Glorie schenkt, welche die gefallenen Engel verloren haben. So kann die Menschheit als der zehnte Chor der Engelshierarchie angesehen werden. Der Mensch vermag allerdings, Gott in sich selbst, das heißt sein Wesen als Individuum in der Dreifaltigkeit der göttlichen Personen, zu erkennen.“

 

Im Vorwort zu ihrem Erstlingswerk Wisse die Wege“ (Liber Scivias) schreibt Hildegard, dass sie ihre Einsichten in das Geheimnis der Heiligen Schrift unmittelbar von Gott empfangen hat: „Es geschah... als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war. Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand... Und plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments... Die Gesichte aber, die ich sah, empfing ich nicht im Traum, nicht im Schlaf oder in Geistesverwirrung, nicht durch die leiblichen Augen oder die äußeren menschlichen Ohren, auch nicht an abgelegenen Orten, sondern ich erhielt sie in wachem Zustand, bei klarem Verstand... wie Gott es wollte.“

 

Als Pilger in der Welt auf dem Weg in die ewige Heimat

Benedikt XVI. betonte, dass die Lehre der heiligen Benediktinerin „sich als ein Wegweiser für den homo viator“ darstellt, für den Menschen als Pilger in der Welt auf dem Weg in seine ewige Heimat (Phil 3,20). „Ihre Botschaft erscheint außerordentlich aktuell in der heutigen Welt, die für das Gesamtbild der von ihr vorgeschlagenen und gelebten Werte besonders empfänglich ist.“ Kein halbes Jahr nach diesem „mit der vollen apostolischen Autorität“ des Papstes vollzogenen Akt, am 11. Februar 2013 (in Deutschland ein Rosenmontag), hat Benedikt als erster Papst seit über 700 Jahren (Coelestin V. dankte 1294 ab) im Alter von 85 Jahren sein Amt aufgegeben.

 

Zur Begründung teilte er mit: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“ Als Emeritus zog er sich hinter die Mauern des Vatikans in das ehemalige Kloster Mater Ecclesiae zurück, wo ein Bereich für seinen Wohnsitz umgebaut wurde, um bescheiden und ‚schweigend‘ für die Kirche zu beten;  gleichwohl nahm er gelegentlich am öffentlichen kirchlichen Leben teil und empfing Besucher aus aller Welt, nicht zuletzt aus seiner bayerischen Heimat.

 

In seinem Papstwappen hat Benedikt XVI. als erster Papst auf die päpstliche Tiara als Symbol der Macht verzichtet. An deren Stelle setzte er eine einfache Mitra mit drei goldenen Querstreifen; sie stehen für die drei Gewalten des Papstamtes: Weiheamt, Jurisdiktion und Lehramt. Die gekreuzigten Schlüssel erinnern an den Petrusdienst der Einheit, der dem Papst aufgetragen ist. Das mit drei roten (nicht schwarzen) Kreuzen bestickte ringförmiges Pallium am unteren Ende des Wappens verweist ebenfalls auf den Hirtendienst in der Nachfolge des Petrus als ‚erstem Papst‘. Die Muschel im Wappen spielt auf eine Geschichte in den „Confessiones“ des Augustinus an, den Ratzinger besonders schätzte und über den er seine Dissertation zur Ekklesiologie geschrieben hat, sowie auf das Pilgersymbol der Jakobsmuschel.

 

Im Vorwort seines ersten Bandes zu „Jesus von Nazareth“ hebt Joseph Ratzinger hervor, dass sein Buch „in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ‚nach dem Angesicht des Herrn‘ (vgl. Ps 27,8)“ (22). Zur ewigen Schau dieses unergründlichen Angesichts des Ewigen hat der Gute Hirte den emeritierten Oberhirten der katholischen Kirche am 31. Dezember 2022 heimgeholt, einen Tag vor dem Hochfest der Gottesmutter Maria.

Klaus W. Hälbig

 

Bernward Loheide, Chefredakteur der KNA, hat die wichtigsten Leitlinien des Denkens von Joseph Ratzinger so zusammengefasst:

 

Das Erbe der Kirchenväter und die Scholastik

Ratzinger hielt an dem fest, was er bereits in seinen ersten Büchern herausarbeitete: 1954 in der Doktorarbeit über den Kirchenbegriff des von ihm hochgeschätzten Augustinus (354–430) und 1959 in seiner Habilitationsschrift über die Geschichtstheologie Bonavnturas (1221–1274). Glaube und Offenbarung stehen demnach über der Vernunft. Die Philosophie ist nur eine untergeordnete Hilfswissenschaft – ohne volle Autonomie.

 

Zum theologisch-philosophischen System des Kirchenlehrers Thomas von Aquin, dem Gipfel der mittelalterlichen Scholastik, blieb Ratzinger auf Distanz, weil er es für zu statisch und zu wenig geschichtlich-dynamisch hielt. Als Konzilstheologe trug er mit dazu bei, die katholische Kirche aus dem engen neuscholastischen Verständnis von Offenbarung und Dogma zu lösen. Aber auch die neuzeitliche Wende des Denkens hat er nicht mitvollzogen. In der Aufklärung sah er einen Aufstand gegen die von Gott gesetzte Ordnung, einen Zerfall der von den Kirchenvätern geschmiedeten Einheit von neutestamentlichem Glauben und platonischer Metaphysik.

 

Gehorsam, Naturrecht, kanonische Bibelauslegung

Suspekt blieben ihm Philosophen wie Immanuel Kant, der die Vernunft von den Vorgaben der Offenbarung emanzipierte und auf das Gewissen und die Reflexion des freien Subjekts setzte. In diesem modernen Freiheitsdenken erkennen viele Theologen heute eine Nähe zum christlichen Glauben an den Gott, der Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Ratzinger dagegen warnte vor einem Subjektivismus der Beliebigkeit, der den Wahrheitsanspruch des kirchlichen Glaubens zerstöre und den Menschen an die Stelle Gottes setze.

Auch in seiner Rede im Deutschen Bundestag 2011 blieb er bei einem vormodernen Modell der Rechtsbegründung. Moralische und rechtliche Grundsätze können demnach aus der Natur des Menschen abgeleitet werden, denn der Schöpfergott habe seinen Willen und seine Vernunft als verbindliche Norm in die Natur hineingelegt. Homosexualität und künstliche Empfängnisverhütung widersprechen nach diesem Denken der Schöpfungsordnung.

 

Ratzinger distanzierte sich von der historisch-kritischen Exegese. Diese versucht, mit wissenschaftlichen Methoden historische Fakten (zum Beispiel über Jesus von Nazareth) zu ermitteln und kirchliche Glaubensaussagen (über den Gottessohn Jesus Christus) davon zu trennen. Für Ratzinger gehörte beides zusammen. Eine Schriftauslegung ohne den Kontext der gesamten Bibel und ohne die katholische Lehrtradition lehnte er ab.

 

Kirche, Entweltlichung und Messopfer

Ratzinger hatte einen spirituellen und klerikalen Begriff der (katholischen) Kirche als ‚mystischer Leib Christi‘. Die reformatorischen Kirchen waren für ihn nicht Kirche im eigentlichen Sinn. Forderungen nach einer Demokratisierung der Institution Kirche hielt er für ein bürgerliches und protestantisches Missverständnis. Kritiker bescheinigten Ratzinger ein überhöhtes Bild von der ‚Reinheit der Kirche‘, die geschützt werden müsse. Dies habe mit dazu beigetragen, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen jahrzehntelang vertuscht wurde.

Die Kirche müsse sich entweltlichen, forderte der deutsche Papst 2011 in Freiburg. Kritisch beurteilte er politische Forderungen im Namen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Die Befreiungstheologie (Gustavo Gutierrez), die Theologie der Hoffnung (Jürgen Moltmann) und die Politische Theologie (Johann Baptist Metz) beklagten zum Beispiel die Entrechtung von Landarbeitern in Lateinamerika und eine Mitschuld der Kirche am Holocaust. Ratzinger witterte in solchen Ansätzen eine marxistische "Umwandlung der Eschatologie in politische Utopie".

 

Sein Denken war zutiefst liturgisch. Die gottesdienstliche Feier der Sakramente galt ihm als Zentrum des christlichen Lebens und Glaubens, als ‚Berührungsstelle mit Gott‘. Der Ratzinger-Schüler Hansjürgen Verweyen sieht darin ‚die zentrale Konstante in der Theologie‘ seines Lehrers: In der Eucharistiefeier lässt sich der Gläubige demnach ‚in die Selbsthingabe Jesu Christi hineinnehmen‘ und wird ‚zum eigentlichen >Aufbewahrungsort< des Opfer- und Osterlammes‘. Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat diesen Zusammenhang nach Ansicht Benedikts zum Teil verdunkelt; daher ließ er den alten, lateinischen Messritus wieder zu – eine Entscheidung, die sein Nachfolger Franziskus 2021 wieder rückgängig machte.“

 

 

 

 

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