Wasser wird Wein – Mystisches Schriftverständnis und die Zukunft des Christentums 3. Teil

Auf der Hochzeit zu Kana prüft der Speisemeister (rechts) die Qualität des neuen Weines, den Jesus auf die Initiative von Maria in den sechs Wasserkrügen der Hochzeitsgesellschaft spendet. Kloster im Westen von Kreta.

 

Das Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana mit der Offenbarung der Herrlichkeit Jesu (Joh 2,11) weist verborgen hin auf die eschatologische Hochzeit, die in der „Erhöhung“ Jesu am Kreuz vorweggenommen wird. Jesus spricht seine Mutter auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2,4) und unter dem Kreuz (Joh 19,25-27) als „Frau“ an: Maria ist die neue Eva, die paradiesische Frau, die Immaculata, die von Anfang an von der Erbsünde bewahrt ist, die Mutter der Kirche und die wahrhaft Glaubende.

 

       Die Hochzeit zu Kana als Vorspiel der eschatologischen Hochzeit

 Marias hochzeitliches Ja-Wort gegenüber dem „Engel des Herrn“ ist unverbrüchlich. Benedikt XVI. erklärte in seiner Predigt am Wallfahrtsort der Schwarzen Madonna von Altötting (11. Sept. 2006) zum Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana: Jesus

 

„wirkt ein Zeichen, mit dem er seine Stunde ankündigt, die Stunde der Hochzeit, die Stunde der Vereinigung zwischen Gott und Mensch. Er ‚macht‘ nicht einfach Wein, sondern er verwandelt die menschliche Hochzeit in ein Bild des göttlichen Hochzeitsfestes, zu dem der Vater durch den Sohn einlädt und in dem er die Fülle des Guten schenkt, die in der Fülle des Weines dargestellt ist. Die Hochzeit wird zum Bild jenes Augenblickes, in dem Jesus die Liebe bis zum Äußersten führt, seinen Leib aufreißen lässt und sich so für immer uns schenkt, Einheit mit uns wird – Hochzeit zwischen Gott und Mensch. Die Stunde des Kreuzes, die Stunde, von der das Sakrament kommt, in dem er wirklich sich uns mit Fleisch und Blut gibt, seinen Leib in unsere Hände und unser Herz legt – das ist die Stunde der Hochzeit. (…) Jesu Stunde ist noch nicht da, aber im Zeichen der Verwandlung von Wasser in Wein, im Zeichen der festlichen Gabe nimmt er seine Stunde jetzt schon vorweg. Seine ‚Stunde‘ ist das Kreuz. Seine endgültige Stunde ist seine Wiederkunft. Immerfort nimmt er gerade auch diese endgültige Stunde vorweg in der heiligen Eucharistie, in der er immer jetzt schon kommt“ („Du bist voll der Gnade“, 2022, 17).

 

Jesus geht fort in den Tod: „Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen…“ (Joh 16,7). In seinem Tod haucht er seinen Geist aus (Joh 19,30), wörtlich: er ‚überliefert‘ ihn (tradidit spiritum). Als Auferstandener haucht er seinen Geist der Sündenvergebung seinen Aposteln wieder ein (Joh 20,22f) wie Gott dem Adam paradisus die Geistseele oder Neschama (Gen 2,7).

 

Erfahrung der Höchsten im Glauben geschehenden Einswerdung

‚Mystisch‘ bedeutet für die Kirchenväter „Erfahrung der Höchsten im Glauben geschehenden Einswerdung“ (Louis Bouyer, „Mystisch“ – Zur Geschichte eines Wortes, in: Josef Sudbrack [Hg.], Das Mysterium und die Mystik, 1974, 57-75, 71), nämlich in der Liebe. Das Wort ‚Liebe‘, ahawah, 1-5-2-5, hat den Zahlenwert 13, ebenso ‚eins/einer‘, echad, 1-8-4. Das Tetragramm JHWH, 10-5-6-5 (= 26), ist auch zu lesen als zweimal 13, zweimal Liebe: Gottesliebe und Nächstenliebe, die beide eins sind (vgl. Mt 22,38-40).

 

Die Liebe ist die Zusammenfassung der Zehn Gebote auf den zwei Tafeln, nach jüdischer Zählung jeweils 5 + 5 (die zweite Tafel beginnt mit dem Tötungsverbot). 10 = 5 + 5 ist auch die Zahlenstruktur von JHWH, denn der Buchstaben Waw bedeutet auch ‚und‘. In der kleinen Gematrie (ohne Nullen) entspricht der 13 die Zahl 130, so in Sinai, 60-10-50-10, in der ‚Leiter‘ zum Himmel aus dem Traum Jakobs, sulam, 60-30-40, und in ‚Auge‘, Ajin, 70-10-50 = 130.

 

Mit dem Essen vom Erkenntnisbaum schließt sich das eine (kontemplativen) ‚dritte Auge‘ zwischen den zwei Augen, es wird ‚krankt‘ und ‚erblindet‘ (vgl. Mt 6,22f). Das Licht, or, 1-6-200, wird zu ‚Haut‘, or, 70-6-200. Durch das Licht des wahren Glaubens wird diese Wandlung wieder umgekehrt und so das Auge geheilt. Es sieht dann im Sichtbaren wieder das Unsichtbare, im Körper den Geist, in den materiellen Zeichen oder in der Vielheit der Welt die Gegenwart des einen Gottes. Nach Hebr 11,1 ist Glaube „die Gewissheit über Dinge, die man nicht sieht.“

 

     Die Thora im geistigen Sinn als Baum des Lebens (= Eins)

 Die jüdische Mystik sieht im „Baum des Lebens“ aus dem Paradies, der wiederum identisch ist mit der Weisheit (vgl. Spr 3,18), die Thora, die Mose auf dem Berg Sinai von Gott empfängt. Diese Thora ist im geistigen oder mystischen Verständnis eine Einheit, die in der Vielheit der Buchstaben den einen Gott und sein ewiges Wort repräsentiert. Mose empfängt auf dem Sinai die Zehn Gebote auf zwei Tafeln verteilt als zweimal fünf Gebote wie die zwei Hände des Menschen mit je fünf Fingern. Es heißt in Ex 32,16: „Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift.“ Zuvor heißt es in Ex 31,18: Der Herr übergab Mose „die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte“.

 

Im Neuen Testament ist der „Finger Gottes“ der Heilige Geist, mit dem Jesus die inneren Teufel austreibt (Lk 11,20). Mit seinem Finger schreibt Jesus nichts in steinerne (unvergängliche) Tafeln; dafür schreibt er zweimal in den vergänglichen Staub der Erde, als es um die Frage geht, ob die auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin zu steinigen ist, wie es das Gesetz des Mose vorschreibt. Die Fangfrage beantwortet Jesus mit der Gegenfrage: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Joh 8,3-8).

 

Nach Recht und Gesetz, das heilig und gerecht ist, hätte die Frau gesteinigt werden müssen. Aber dieses Verständnis des Gesetzes entspricht nicht dem Geist der Liebe, den Gott in sein Gesetz hineingelegt hat. Denn die zweimal fünf Gebote auf den zwei Tafeln gebieten auf der ersten Tafel die Gottesliebe und auf der zweiten Tafel die Nächstenliebe, die eins sind.

 

Die Einheit im körperlichen Leben der materiellen Vielheit

Weinreb schreibt zum Hineinlegen des „Holzes“ oder des Baumes des Lebens in das bittere Wasser von Mara durch Mose (Ex 15,25): „Bringe die Eins in die Zeit hinein, erblicke die Einheit in der Zeit (…) Die Eins im Hebräischen hat stets die Bedeutung Ursprung, alles umfassend. Nicht nur die Phasen von der Geburt bis zum Tod, sondern die Stadien vor der Geburt, vom Ursprung der Welt bis zu ihrem Ende. Der wirkliche Mensch lebt als Einheit. (…) Mit der Eins wird dann aus ‚gal‘ das Wort ‚goel‘ [3-1-30], das Wort für Erlöser. Wenn man dem Erlöser begegnet, so will das auch sagen, dass man in den Dingen dieser Welt, so wie sie uns erscheinen, den göttlichen Ursprung sieht, die Eins“ (Die jüdischen Wurzeln im Matthaus-Evangelium I, 1991, 68).

 

Das Wort gal für ‚Körper‘ oder ‚Form‘ ist in Zahlen 3-30; in der kleinen Gematrie ist es 3-3 wie die zweimal drei Schöpfungstage. Gal steckt im Wort Galiläa, auch in galuth, was ‚Verbannung‘ bedeutet. Der Mensch aus dem Paradies der Einheit mit Gott ‚verbannte‘ Mensch lebt fortan in der körperlich-materiellen ‚Welt‘ als seinem ‚Exil‘. Aber durch den Glauben an den Gekreuzigten ist ihm das Paradies wieder erschlossen und zugänglich (Lk 23,43).

 

Im Paradies baut Gott aus der „Rippe“ Adams die erste Frau und Braut, über die sich der Mann unbändig freut: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,21-23). Unter den Tieren in ihrer Vielheit hatte Adam kein ihm ebenbürtiges Wesen finden können, um mit ihm eins zu sein (V.24). Mit Eva kann er endlich die Hochzeit feiern, zu der ihn Gott geschaffen hat. Weil der Sündenfall das aber verhindert, ergreift Gott die Initiative und kommt selbst in seinem Sohn in die Welt, um die wahre, eschatologische Hochzeit zu feiern.

 

Christus als Sonnen-Bräutigam und die Kirche als Mond-Braut

Augustinus sagt in seinem Kommentar zum Johannesevangelium: „Denn das Wort ist der Bräutigam und die Braut das menschliche Fleisch, und beides der eine Sohn Gottes und zugleich der Sohn des Menschen. Indem er das Haupt der Kirche wurde, war jener Schoß der Jungfrau Maria sein Brautgemach; und dort ging er hervor wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, wie die Schrift vorhergesagt hat: ‚Und gleich einem Bräutigam, der hervorgeht aus seiner Kammer, frohlockt er, zu laufen wie ein Held seinen Weg.‘ Aus dem Brautgemach ging er hervor wie ein Bräutigam und kam eingeladen zur Hochzeit“ (Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes, Bd. 1, 1913, 139).

 

Der aus seiner Kammer hervorgehende ‚Bräutigam‘ ist die junge Frühlingssonne in Psalm 19,6, die christologisch auf Christus hingedeutet wird, so wie Luna, die Möndin, in der alten Kirche für diese selbst steht. Die „Rippe“ Adams ist eigentlich Symbol der Mondsichel; denn die Frau mit ihrem Menstruationszyklus und ihrer Körperlichkeit als ‚Umhüllung‘ hat eine Mondnatur, währen der Mann in seiner logoshaften Geistigkeit (‚Vernunft‘) eine Sonnennatur hat und so ursprünglich eine ‚Lichtgestalt‘ ist (mit dem ‚Lichtkleid‘ der Herrlichkeit Gottes).

 

Der Name Eva, Chawah, 8-6-5, hat die Zahl 19, die ‚Rippe‘, zela, 90-30-70, die Zahl 190; 19 Jahre dauert – wie bereits die alten Babylonier wussten – der Lunisolarzyklus (Metonischer Zyklus): Durch Schaltung eines 13. Mondmonats in sieben Jahren, in zwölf Jahren nicht (7 + 12 = 19), stimmen die Kalender nach dem Sonnen- und Mondjahr in ihrer Länge wieder miteinander und mit dem Naturwert überein; Weinreb schreibt:

 

„Die Differenz zwischen Sonnenjahr und Mondjahr ist … 10 Tage, 21 Stunden, 121 Teile und 48 Teilchen. Man hat dann gefunden, dass in 19 Jahren die Differenz 206 Tage, 17 Teile, 151 Teilchen beträgt, das sind exakt 7 Monate. Das führt zur Möglichkeit, in 19 Jahren 12 Jahre von 12 Monaten und 7 Jahre von 13 Monaten zu halten. (…) Diese 19 Jahre bilden somit ein Ganzes. Man nennt es ein ‚mechasor‘, eine Wiederholung, eine Zurückkehr, und somit auch Kreis oder Zyklus. (…) Die irdische Mondzeitrechnung stimmt nach diesen 19 Jahren exakt mit der astronomischen Situation, der Mond ist mit der Sonne vollkommen in Frieden, in Übereinstimmung. (…) Die Frau, das Erscheinende, der Mond, das Umkreisende, Umhüllende, die Chawa steht im Zeichen dieses Zyklus der 19, ihr Name erzählt auf für uns unerklärliche Art von diesem Stimmen gerade in 19 Jahren. Sonne und Mond – es gibt etwas, das sie auch astronomisch zusammenbringt…“ (Der biblische Kalender. Der Monat Nissan, 1984, 51f).

 

Im christlichen Festkalender kommen Sol und Luna „hochzeitlich“ zusammen am Osterfest, das die Christenheit seit dem 1. Konzil von Nizäa am ersten Sonn-tag nach dem Frühlingsvollmond feiert. Maria als Urbild der Kirche steht in vielen Darstellungen (nach Off 12,1) auf der Mondsichel, von den Strahlen der Sonne bekleidet und von zwölf Sternen umkränzt; denn in ihrer jungfräulichen Geburt des Sohnes Gottes in der Kraft des Geistes Gottes überwindet sie das mit der Sexualität gegebene irdische Prinzip von Geburt und Tod und leitet so die Neuschöpfung von Himmel und Erde ein.

 

      Vier Jünger mit Namen und vier Frauen mit Namen

Fünf Jünger beruft Jesus im ersten Kapitel des Johannesevangeliums, vier davon werden namentlich genannt: Andreas und sein Bruder Simon, der den Namen Kephas (Fels) bzw. Petrus erhält, sowie Philippus und Natanael, der von Philippus gerufen wird mit den Worten: „Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, der Sohn Josefs“ (V.45). Nazareth liegt in Galiläa, im Norden Israels an der Grenze zum Heidentum, der Richtung des Dunklen und des Körperlichen (der lichtvolle Süden steht für den Geist).

 

Noch ein fünfter Jünger wird gleich am Anfang mit Andreas berufen, bleibt aber geheimnisvoll namenlos und im Dunkeln; auch später bekommt er von Jesus keinen Namen. Die christliche Tradition identifiziert ihn dann mit Johannes, der an der Brust des Herrn ruht, aber das Johannesevangelium selbst sagt das gerade nicht. Dieser Lieblingsjünger Jesu steht dann als einziger der Jünger unter dem Kreuz zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, und noch drei weiteren Frauen, nämlich die „Schwester seiner Mutter, (dann) Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala“ (Joh 19,25).

 

So gibt es am Anfang vier namentlich genannte Männer und am Ende vier namentlich genannte Frauen – und immer dabei der eine namenlose Lieblingsjünger gleichsam als ‚Fünfter‘ oder als Quint-essenz. Bevor Jesus diesen Jünger und seine Mutter zusammenführt (Joh 19,26f), ist von den vier Soldaten die Rede, die ihn ans Kreuz geschlagen und seiner Kleider beraubt haben: Die Vier teilen sich die Kleider in „vier Teile“, das eine Untergewand aber lassen sie ganz, teilen es also nicht, denn es war „von oben her durchgewebt und ganz ohne Naht“ (Joh 19,23).

 

Vielmehr losen die Vier um das eine Untergewand, wer es ganz erhalten soll, wodurch sich das Wort aus Psalm 22,19 erfüllt: „Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand“ (Joh 19,24). Der Psalm 22 beginnt mit dem Wort, das Jesus bei Markus und Matthäus am Kreuz vor seinem Hinscheiden in der neunten Stunde, der Stunde seines Todes um 15 Uhr, betet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,56; Mk 15,35).

 

      Das Zahlenverhältnis 1 zu 4 oder von Himmel und Erde

 Das Verhältnis der Zahlen von 1 zu 4 liegt auch auf der Hand mit dem einen Daumen und den vier Fingern. Jesus wird mit seinen zwei Händen und seinen zwei Füßen ans Kreuz mit den vier Enden genagelt, so hat er vier Wundmale, die er nach seiner Auferstehung von dem „ungläubigen“ Thomas berühren lässt. Die fünfte Wunde als Quint-essenz ist die eine in der Mitte oder Seite, die der Speer des Soldaten durchbohrt und so öffnet. In diese Seitenwunde will Thomas seine Hand und seine Finger legen, damit er glauben kann: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meine Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Joh 20,25).

 

Bei der Hand zum Handeln und Greifen muss der eine Daumen den vier Fingern gegenüberstehen und opponierbar sein. Er liegt auf einer anderen Ebene als die vier Finger, und so ist erst das Greifen und damit dann auch das Be-greifen möglich, das heißt ein Verstehen des Vielen der materiellen Erscheinungswelt aus einer umfassenden geistigen Einheit heraus.

 

Der eine namenlose Lieblingsjünger weist eigens und nachdrücklich auf die Öffnung der Seitenwunde Jesu durch den Speer hin, weil dadurch „Blut und Wasser“ aus dem toten Leib Jesu lebendig hervorströmen gleich einem unversieglichen Quell des Lebens: „Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt. Denn das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen. Und ein anderes Schriftwort sagt: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ (Joh 19,34-37).

 

     In Jesu Leben und Leiden erfüllt sich die ganze Heilige Schrift

Auch hier wird wieder die Schrift, das Alte Testament, erfüllt: Das erste Wort bezieht sich auf das jüdische Paschalamm in Ex 12,46; das zweite Wort auf eine Prophezeiung des Sacharja, die sich eigentlich der Not und Errettung Jerusalems gilt. Das Alte Testament ist die Folie, auf der die Evangelien das Leben Jesu als des von Israel erhofften Messias erzählen.

 

Die personale Verbindung zwischen dem Alten Bund und dem Neuen Bund ist neben Maria besonders Johannes der Täufer. Er sagt gleich am Anfang als Zeuge des Lichts (Joh 1,8) und als „Freund des Bräutigams“ (Joh 3,29): „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Dieses Wort greift der Priester bei der Erhebung der konsekrierten Hostie in jeder Eucharistiefeier auf, in der Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu verwandelt werden.

 

In Joh 6,51 sagt Jesus, wieder Bezug nehmend auf die Schrift beziehungsweise die Wüstenwanderung Israels mit dem Manna vom Himmel: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt.“ Jesus gibt der Welt sein ewiges Leben, indem er am Kreuz stirbt und so die Welt von der Sünde befreit, die den Tod bewirkt.

 

     Jesu Gehorsam bis zum Tod befreit von der Sünde, Tod und Teufel

Worin die todbringende Sünde der Welt besteht, sagt Paulus in Röm 5,12: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ Und weiter in Vers 19: „Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht.“

 

Jesu Tod am Kreuz ist ein Akt des höchsten Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes, wie es im Hymnus des Briefes an die Philipper (2,8-11) zur Sprache kommt: „Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr – zur Ehre Gottes des Vaters.“

 

Der Name Jesus bedeutet: JHWH rettet. In Joh 4,34 sagt Jesus: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen.“ Jesus kommt mit der Sendung des Vaters in die Welt der Sünde und des Todes, und diese Sendung erfüllt sich in der „Erhöhung“ am Kreuz. In Joh 12,31f sagt Jesus: „Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“

 

Der „Herrscher dieser Welt“ ist der Teufel (Dia-bolos), der eng verbunden ist mit dem Tod. Nach Hebr 2,14 hat Jesus „Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel…“ Wie Jesus nicht einfach neuen Wein erschafft, sondern das Wasser in Wein verwandelt, so schafft der allmächtige Vater nicht mit einem Machtwort Sünde, Tod und Teufel aus der Welt, sondern er sendet seinen Sohn, um die Welt durch das Mysterium von Kreuz und Auferstehung wieder in das Paradies des Eins-seins der Liebe zu verwandeln. „Das ist der Sinn aller Askese: die paradiesische Ordnung in Christus wieder zu erneuern“ (Friedrich Wulf, Geistliches Leben in der heutigen Welt, 30).

 

     Die Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe

Wenn die zwei Hände, rechte und linke Hand, zum Gebet gefaltet werden, dann wird aus den zwei Fünfen die Einheit der Zehn oder auch der Eins. Das entspricht dem Gottesnamen JHWH, der in Zahlen heißt: 10-5-6-5. Weil der Buchstabe Waw mit dem Zahlenwert 6 zwischen den beiden He mit dem Zahlenwert 5 auch ‚und‘, so wird das Tetragramm in Zahlen übersetzt gelesen als 10 = 5 + 5; das heißt, der heilige Name Gottes ist die Einheit von himmlischer Gottesliebe und irdischer Nächstenliebe.

 

Das sechste Gebot in der jüdischen Zählung als erstes Gebot auf der zweiten Tafel heißt: „Du sollst nicht töten.“ Das Morden widerspricht am meisten der Nächstenliebe. Gott will das Leben des Menschen, nicht seinen Tod. In Weish 2,23f heißt es: „Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“

 

Davor ist von gottlosen „Frevlern“ die Rede, die den Tod herbeirufen und sich nach ihm sehnen „wie nach einem Freund; sie schließen einen Bund mit ihm, weil sie verdienen, ihm zu gehören“ (Weish 1,16). Diese „Frevler“, die nur Irdisches im Sinn haben, sagen: „Durch Zufall sind wir geworden, und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem in unsere Nase ist Rauch, und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche, und der Geist verweht wie dünne Luft“ (V.2f). Sie wollen deshalb ihr kurzes, sterbliches Leben auskosten, „wie es der Jugend zusteht. Erlesener Wein und Salböl sollen uns reichlich fließen, keine Blume des Frühlings darf uns entgehen“ (V. 6f).

 

Mit dem Gerechten aber, der ihrem zügellosen Treiben ein Dorn im Auge ist und der von sich sagt, „Gott sei sein Vater“, wollen sie hart und grausam umgehen: „Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, dann nimmt sich Gott seiner an. Roh und grausam wollen wir mit ihm verfahren, um seine Sanftmut kennenzulernen, seine Geduld zu erproben. Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen, er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt. So denken sie; aber ihre Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts…“ (Weish 2,18-22).

 

     Die Taufe als Wiederherstellung der Welt- oder Tierherrschaft

Diese Aussage in Weish 2,20 bezieht Mt 27,42 auf den ehrlosen Tod Jesu am Kreuz. Tod ist hebr. meth, 40-400, oder maweth, 40-6-400. Im Paradies ist der Mensch noch im Gehorsam hörend auf das Wort Gottes, das ihm eingehaucht wurde, und so gerade nicht sterblich: Er ist zwar „nackt“, aber er trägt – wie die jüdische und christliche Tradition sagen – im gehorsamen Glauben das „Lichtkleid“, das Gewand der Herrlichkeit (doxa) Gottes (s. u.).

 

In der Taufe erhält er das verlorenen weiße Lichtkleid (und damit das Sehen des Unsichtbaren) zurück und wird so befähigt zum eucharistischen Gottesdienst als Einssein mit Gott und untereinander sowie zur Weltherrschaft im Sinn seiner ursprünglichen Bestimmung und Berufung zum Leiten der „Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit“ (Weish 9,3). Der Epheserbrief fordert die Taufbewerber auf: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24).

 

Nach Ps 8,6f ist der Mensch die ‚Krönung der Schöpfung‘; der Hebräerbrief bezieht den Psalm auf Jesus, der bei seiner Menschwerdung bis zum Tod am Kreuz „für kurze Zeit unter die Engel erniedrigt“ wird; dann aber hat Gott ihn „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, alles hast du ihm zu Füßen gelegt“ (Hebr 2,7f). Paulus sagt in 1 Kor 15,25-27 über Jesus: „Denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod. Sonst hätte er ihm nicht alles unter die Füße gelegt.“ An dieser Entmachtung des Todes in der ‚Thronbesteigung‘ Jesu als Messias und ‚König der Wahrheit‘ am Kreuz (Joh 18,37) gewinnen alle Gläubigen in der Taufe auf Jesu Tod und Auferstehung Anteil, denn: „Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht“ (V.22).

 

Dieses Lebendig-machen geschieht durch das erneute Einhauchen des Geistes Gottes (vgl. Joh 20,22f) und dann seine pfingstliche Ausgießung über „alles Fleisch“ (Apg 2,17). In Joh 6,63 sagt Jesus: „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts.“ Dieser lebendig machende Geist ist „der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann“ (Joh 14,17). Denn die Welt steht ohne Glauben unter der Herrschaft des Teufels, des „Vaters der Lüge“ (Joh 8,46). Ohne den Glauben heißt auch: ohne den Bund Gottes.

 

     Der Mensch ist geschaffen und berufen zum Bund mit Gott

Zu diesem Bund ist der Mensch von Anfang an geschaffen und berufen. Die jüdische Mystik liest das erste Wort der Bibel Bereschit (am Anfang) als Berit-esch: Bund des Feuers (der Liebe). Diese Liebe ist eine hochzeitliche Liebe, die Himmel und Erde, Geist und Fleisch, das Männliche und das Weibliche hochzeitlich verbindet.

 

Der Moraltheologe Alfons Auer (1915–2005) schreibt: „Das Prinzip des Hochzeitlichen ist ein Weltprinzip. Es gilt nicht nur im Menschlichen, sondern auch im Kosmischen. Dass die ganze Schöpfung in Ordnung und Harmonie zur Einheit geschaffen ist, schließt die Zweiheit als Baugesetz alles Kreatürlichen nicht aus, sondern ein“ (Weltoffener Christ. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Laienfrömmigkeit, 1960, 256).

 

Die Hochzeit wird nicht nur zwischen Mann und Frau gefeiert, im Judentum sieben Tage lang, sondern damit auch immer schon zwischen dem ‚männlichen‘ und dem ‚weiblichen‘ Prinzip: zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie, auch Sonne und Mond, Ewigkeit und Zeit, Feuer und Wasser. Durch die hochzeitliche Verbindung des Feuergeistes Gottes mit dem irdischen Wasser der Reinigung in den sechs Krügen – nach Augustinus Symbol der sechs Schöpfungstage oder der sechs Weltzeitalter von Adam bis Christus – wird aus der vergänglichen Zeit (Wasser) der Freudenwein der neuen, kommenden Welt des achten Tages.

 

„Wasser“, hebr. majim, ist in Zahlen 40-10-40; der 13. Buchstabe des hebräischen Alphabets mit dem äußeren Zahlenwert 40 ist in den Hieroglyphen der Form nach ursprünglich eine Wasserwelle (ähnlich wie auch unser Buchstabe m). Das fließende Wasser ist ein Bild für die vergängliche Zeit; das Leben in dieser ‚Wasserwelt‘ ist sterblich und deshalb leidvoll, ein Kommen und Gehen. Durch das ‚bittere‘ Leiden Jesu am Kreuz wird das Leben wieder ‚süß‘.

 

     Lebensspendende Eucharistie statt todbringender verbotener Frucht

Mit der Eucharistie setzt Jesus der todbringenden Speise, die vom Baum der Erkenntnis und letztlich von der sprechenden Schlange kommt, die nach Offb 12,9 identisch ist mit dem Teufel, sein ‚Himmels-Brot‘ als lebensspendende ‚Paradies-Speise‘ entgegen: Sie ist die Frucht seines Opfertodes am Kreuz als neuem Baum des Lebens. Jesus sagt in Offb 2,7: „Wer (im Glauben über die Welt) siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.“ In Weish 16,20 heißt es zum Manna: „Dein Volk nährtest du mit der Speise der Engel, und unermüdlich gabst du ihm fertiges Brot vom Himmel.“

 

Nach Gregor von Nyssa (4. Jh.) ist die Eucharistie das Gegengift gegen das Gift der Schlange (der materiellen Welt), die zum Essen vom Erkenntnisbaum verführt: „Im Paradies hat der Mensch eine tödliche Speise genossen. Er muss daher ein Heilmittel in sich aufnehmen, wie derjenige, der Gift genommen hat, ein Gegengift empfangen muss. Dieses Heilmittel unseres Leibes ist kein anderes als der Leib Christi, der den Tod überwunden hat und die Quelle unseres Lebens ist und der durch Mitteilung seiner Unsterblichkeitskräfte den Schaden jenes Giftes wieder aufhebt“ (zit. nach Wulf, Geistliches Leben in der heutigen Welt, 32f).

 

Auch in der koptischen Liturgie wird die Eucharistie verstanden als „Gegengift gegen die Sterblichkeit des Lebens“ (Lothar Heiser, Ägypten sei gesegnet. Koptisches Christentum in Bildern und Gebeten, 2001, 26). Schon der heilige Ignatius von Antiochien (2. Jh.) definiert „das eucharistische Brot zu Recht als ‚Medizin der Unsterblichkeit, Gegengift gegen den Tod‘“ (Johannes Paul II., Ecclesia de Eucharistia, 18). Dieses Gegengift kann die Eucharistie sein, weil sie das Zeichen des neuen und ewigen Bundes mit dem einen Gott und so das Sakrament der Liebe und der Einheit ist. Das Einssein mit Gott in Christus befreit von Sünde, Tod und Teufel und macht die Welt wieder zum ‚Garten Eden‘ in der ‚Süßigkeit‘ des neuen Lebens des Glaubens.

 

In der Feier der Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9) wird die „Hochzeit des Lammes“ (V.7) vorweggenommen. Unter den zwölf einfachen (nicht doppelt ausgesprochenen) Buchstaben des hebräischen Alphabets, die die zwölf Tierkreiszeichen repräsentieren, steht der 5. Buchstaben He für das erste Zeichen Widder oder das männliche Lamm, in dem die junge Frühlingssonne als ‚Bräutigam‘ ihren Jahreslauf durch die zwölf Tierkreiszeichen beginnt (Ps 19,6), und zwar in der Tagundnachtgleiche am ‚25. März‘ (= ganz im ‚Osten‘, an dem auch das Fest Mariä Verkündigung gefeiert wird): „Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam; sie frohlockt wie ein Held und läuft ihre Bahn“ (Ps 19,6).

 

     Die Thronwagen Gottes mit den vier Urwesen in der Ezechiel-Vision

Die zwölf Tierkreiszeichen sind auch analog zu den zwölf Stämmen Israels und den zwölf Aposteln; vier von ihnen bilden die vier mittleren Zeichen der Quadranten, nämlich Stier, Löwe, Skorpion bzw. Adler und Wassermann bzw. Engel/Mensch. Nach Alfons Rosenberg stellen die Vier in ihrer Verbindung ein am Himmel ausgespanntes Kreuz dar: „Der Weg der Sonne im Laufe eines Jahres ereignet sich im riesigen Rund der zwölf Tierkreissternbilder, die zugleich als Sternzeichen die Sonnenstationen der Monate prägen. Von diesen zwölf Tierkreissternbildern aber sind vier besonders prägnant, es sind diejenigen des Frühlingszeichens Stier, des Sommerzeichens Löwe, des Herbstzeichens Skorpion (Adler) und des Winterzeichens Wassermann (Mensch), wobei das letztere durch das Symbol Engel-Mensch seinem Wesen und Wirken nach gekennzeichnet ist. Alle Völker und Kulturen haben jedoch in den Konstellationen des Himmels Manifestationen geistiger Verhältnisse und Kräfte geschaut. Dies gilt auch für die erwähnten vier Sternbilder, die im Tierkreis kreuzförmig miteinander verbunden sind. Dieses astrophysikalische Faktum wird in der Schau des Propheten Ezechiel (Ez 1,4-28) zum Bild der geistigen Strukturen des Universums verklärt, das Verhältnis von Welt und Gottheit zueinander darstellend. Über diesem Tierkreissternenkreuz erhebt sich der Gottesthron strahlend im vollkommenen Lichtglanze als Fundament göttlichen Seins und Wirkens“ (Wandlung des Kreuzes, 1985, 82: Das am Himmel ausgespannte Kreuz).

 

Für die jüdische Mystik ist die Ezechiel-Vision vom kosmischen Thronwagen, merkaba, mit den vier Urwesen beziehungsweise den Cherubim als „Rädern“ und so als „Räderwerk“, galgal (Ez 10,13), grundlegend: „Wir wissen, dass Ezechiels Vision von dem Wagen in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung zur Entstehung ganzer Gemeinschaften führte, Jordei Merchaba (‚Nachkömmlinge des Wagens‘) genannt, die ähnliche Erscheinungen zu erleben suchten“ (Lawrence Kushner, Jüdische Mystik, 2003, 113).

 

Nach Adin Steinsaltz ist der kosmische Thronwagen „der Weg für den Strom der göttlichen Lebensfülle hinab zu den Geschöpfen und Dingen unserer Welt und das Mittel, um mit den vielschichtigen Gefügen aller Welten in Verbindung zu treten. Die Welt der Erschaffung ist also der Punkt, in dem sich alle Wege des Daseins kreuzen.“

 

Die göttliche Gestalt der Herrlichkeit auf Thronwagen und Kreuzesthron

Christlich werden die vier Urwesen zu den vier Symbolen der Evangelisten und der Thronwagen zum Vorausbild des Kreuzesthrons, auf dem der „König der Juden“ und König der Wahrheit ‚erhöht‘ wird (Joh 18,37; 19,19). Ephräm der Syrer betrachtet den Thronwagen „als Gefährt nach den vier Weltrichtungen“ (Photina Rech, Inbild des Kosmos I, 1966, 475-546: Kreuz und Kosmos, 490). Auf Darstellungen der Himmelfahrt Jesu wie dem Rabula-Evangeliar (Ende 6. Jh.) dient der Tetramorph als ‚Gefährt‘ für die Auffahrt zum Himmel (vgl. die Abb. 21 bei Herbert Schade, Lamm Gottes und Zeichen des Widders, 1998).

 

Von der Herrlichkeitsgestalt auf dem kosmischen Thronwagen gehen von dessen Hüften oder Lenden oberhalb ein Feuerkranz aus, unterhalb erscheint ein Feuerglanz, der das Aussehen eines Regenbogens hat: „So etwa sah die Herrlichkeit des Herrn aus“ (Ez 1,26-28). Philo von Alexandrien identifiziert Sol und Luna, Feuer und Wasser, beziehungsweise Adam und Eva mit Geist und Sinnlichkeit (vgl. Schade, Der „Himmlische Mensch“, 1980, 37; 41). Den geordneten Bahnen der Schöpfungsordnung entspricht dabei der geordnete Lauf der Zeugungskraft des Sonnenfeuers; Schade schreibt:

 

„In der Maiestas Domini, das heißt, im Bild des im Himmel thronenden Herrn der Herrlichkeit, beobachten wir oft förmlich die Kreisbahnen des Lichtes. Manchmal erkennen wir sogar zwei Kreise, die aus den Lenden des Herrn hervorgehen und auf uns wie eine Acht (= 8) wirken. Diese Kreise bezeichnen den Lauf der Planeten und grenzen den Himmelsglobus ein, einen Bereich, den wir heute als Biosphäre ansprechen könnten. (…) Das Aufsteigen des Feuers aus den Lenden des Himmlischen Menschen (Ez 1,27) bietet der alten Theologie einen Ansatz, die Geschlechtlichkeit theophorisch zu erklären. So schreibt Origenes: ‚Die Lenden sind das Symbol der Zeugung.‘ Der Bericht des Propheten [Ezechiel] soll zeigen, dass diejenigen, die durch Geburt entstanden sind, das Feuer nötig haben. Ähnlich äußert sich auch Gregor der Große über den Ursprung des Feuers: ‚Was wird mit dem Begriff Lenden ausgedrückt, wenn nicht das Geschlecht.‘ Sehr deutlich formuliert es Hrabanus Maurus: ‚Das, was von den Lenden abwärts geht, wo der Geschlechtsverkehr und die Zeugung stattfindet und sich der Zündstoff für die Laster befindet, bedarf der Feuerflammen, damit, wenn alles gereinigt ist, dieser Bereich dem Regenbogen ähnlich wird, den man gemeinhin Iris nennt, und der in den Wolken an Regentagen erscheint.‘ Damit wird die Maiestas bzw. die Ezechielvision geradezu zum Motiv, die Geschlechtlichkeit als göttlichen Auftrag zur Integration der Sinnlichkeit und ihrer Sublimierung anzusehen“ (19; 30).

 

     Die Rückkehr ins Paradies und ins himmlische Jerusalem zur „Hochzeit“

Die Maiestas oder der ‚Himmlische Menschen‘ als neuer Adam (1 Kor 15,49) hebt damit die Folgen des Sündenfalls auf und lässt den Menschen zurückkehren ins Paradies der Gottesnähe; denn: „Durch seine Abwendung von Gott wird der ursprünglich eine Mensch gespalten. Er wird nicht nur Mann und Frau, sondern auch innerpsychisch in Sinnlichkeit (= ‚sensus‘) und Geist (= ‚mens‘) geteilt, die nach dem Sündenfall nicht mehr integriert sind“ (35).

 

Jesus ist am Kreuz der vollkommen integrale und so der gerechte Mensch, der die Gläubigen in seiner Nachfolge zu Gerechten und Heiligen macht und ihnen damit die verlorene „Herrlichkeit Gottes“ wieder schenkt (Röm 3,22-24; 8,32). In Offb 1,5f heißt es: „Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott seinem Vater.“ Die Zeugen des Glaubens haben „ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht“ (Offb 7,14). „Selig, wer sein Gewand wäscht: Er hat Anteil am Baum des Lebens, und er wird durch die Tore in die Stadt eintreten können“ (Offb 22,14).

 

Die Stadt ist das himmlische Jerusalem als „Braut“ und „Frau des Lammes“ (Offb 21,9); sie hat sich durch die drei vom Geist eingegebenen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe bereit gemacht für „die Hochzeit des Lammes“ (Offb 19,7), die in der Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (V.9) antizipiert wird. Die Taufe schenkt mit dem weißen Taufkleid das verlorene ‚Lichtkleid‘ des Paradieses wieder zurück, das „erste Kleid“ (Lk 15,22) der Herrlichkeit und Gnade, wie es im Gleichnis von der Rückkehr des ‚verlorenen Sohnes‘ heißt.

 

Davor muss in der Taufe das animalische ‚Fell‘, das zur ‚zweiten Natur‘ des gefallenen Menschen geworden ist, ‚ausgezogen‘ und Christus als neuer Mensch ‚angezogen‘ werden (Gal 3,27; Eph 4,24). So gewinnen die Getauften Anteil „an Wesen und Gestalt“ des Sohnes Gottes, „damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei“ (Röm 8,29). Mit ihm, der im Tod in das „Reich des Todes“ oder in die Hölle (‚Vorhölle‘) hinabgefahren ist, werden alle erlösten Gerechten mit in den Himmel genommen, wo sich Jesus nach seiner Himmelfahrt „zur Rechten der Majestät in der Höhe“ gesetzt hat (Hebr 1,2-4; 12,1f) – in jene Höhe, zu der Gott den Menschen bei seiner Erschaffung immer schon ‚erhöht‘ hat: „Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Ps 8,6).

 

Durch Gottes Gnade und Barmherzigkeit wieder „Kind Gottes“

Durch das vollkommene (Selbst-)Opfer Jesu am Kreuz erlangt der Mensch die Gnade und Barmherzigkeit des Vaters zurück: den „Urstand“ des Paradieses in der Höhe und Nähe zu Gott. Dem mitgekreuzigten reumütigen Schächer am Kreuz kann Jesus verheißen: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Die Gläubigen singen im Kirchenlied an Weihnachten: „Heut‘ schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis,/ der Cherub steht nicht mehr dafür,/ Gott sei Lob, Ehr‘ und Preis“ (GL 247,4); ebenso an Ostern: „…der uns erkauft das Paradeis“ (GL 326,4).

 

Das Paradies ist der Ort des hochzeitlichen Eins-seins von Mann und Frau (Gen 2,24) im Bund als Vorausbild und Sakrament des hochzeitlichen Bundes von Gott und Mensch. Dieser vielfach gebrochene Bund wird im eucharistischen Blut des Osterlammes wiederhergestellt, wobei die Eucharistie die lebensspendende Frucht vom Kreuz als neuem Baum des Lebens ist (Offb 2,7). Jede Eucharistiefeier ist ‚Vorgeschmack‘ auf das Paradies und den Himmel und damit auf die ursprüngliche Herrlichkeit und königliche Würde des Menschen.

 

Als Kind Gottes ist der Mensch wieder ‚König der Schöpfung‘, hat er teil am königlichen, priesterlichen und prophetischen Amt Christi, des „Königs der Herrlichkeit“; Paulus sagt mit Blick auf den Gekreuzigten als Offenbarung des „Mysteriums der verborgenen Weisheit Gottes“: „Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie (die Weisheit) erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (1 Kor 2,7f). Im gekreuzigten und auferstandenen Messias-König haben die Gläubigen wieder die paradiesische Herrlichkeit und Weisheit Gottes vor dem Sündenfall.

 

     Die Verwandlung des „bitteren“ Wassers in das „süße“ Wasser

Auch das Wandlungswunder auf der Hochzeit zu Kana ist ein Vorgeschmack auf das Paradies mit dem Baum des Lebens als „Eins“ gegenüber dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse als „Vier“. Im Namen A-dam, 1-4-40, ist der Baum des Lebens im Buchstaben Aleph repräsentiert, der Baum der Erkenntnis in der Silbe dam, 4-40, für (Fleisch und) ‚Blut‘. Paulus sagt in 1 Kor 15,50: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben, das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche.“ Mit dem Baum der Erkenntnis kommt das Vergängliche ins Unvergängliche, mit dem Baum des Lebens das Unvergängliche ins Vergängliche oder die Ewigkeit in die Zeit.

 

Das zeigt auch die Szene mit dem „Holz“ (= Baum), das Mose bei der Wüstenwanderung des Volkes Israel auf Geheiß Gottes in das „bittere“ Wasser wirft und es so „süß“ und damit wohlschmeckend und gut macht (Ex 15,23-25). Rupert von Deutz deutet die Szene nach dem mystischen Sinn: „Durch den Glauben an Christi Leiden und Kreuz verstehen wir jetzt die Geheimnisse des Gesetzes und den verborgenen Sinn der Schriften der Propheten… Und so ist es geschehen, dass wir nunmehr vom Wasser von Mara [Bitterbrunn] trinken können, das, wie wir im Buch Exodus (vgl. Ex 15,23-25) lesen, das Volk nicht trinken konnte, bis auf das laute Rufen des Mose zum Herrn hin der Herr ihm… ein Holz zeigt, das seine Bitterkeit in Süße verwandelte, nachdem er es ins Wasser geworfen hatte. Denn das Wasser von Mara bedeutet zeichenhaft das Gesetz, das nicht wenig an Bitterkeit enthält, da es sagt: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ (Ex 21,24) und Ähnliches. Es wird aber durch das Holz des Kreuzes süß, wofern du dir das Beispiel des leidenden Herrn vor Augen gestellt hast…“ (Liber de divinis officiis [Der Gottesdienst der Kirche] 6,21, in: Fontes Christiani, Bd. 33/3, 1999).

 

Im Kommentar zur Deutung von Rupert heißt es: „Der Glaube an das in der liturgischen Feier enthüllte Kreuz ist für Rupert die aufschließende Kraft zum wahren Verständnis des Alten Testamentes und zur Überwindung der ‚Bitterkeit‘ des Gesetzes durch die Nachfolge des ‚süßen‘ Beispiels, das der am Kreuz leidende Herr den gläubig werdenden Heiden des Neuen Bundes gegeben hat“ (826). Diese Deutung geht bis auf das 2. Jh. zurück; Henri de Lubac sagt: „Dem Fleisch nach verstanden ist es [das Alte Testament] bitter, heute gar von tödlicher Bitterkeit, und die Seele kann daraus ihren Durst nicht stillen; im geistigen Sinn, den ihm das Holz des Kreuzes mitteilt, ist es die Süßigkeit des Evangeliums selbst: ‚die Bitterkeit des Gesetzes werde besiegt von der Bitterkeit des Kreuzes‘ (legis amaritudo vincatur amaritudine crucis [Bruno von Segni]). Seit Tertullian und Origenes wird dieses so einfache und doch so treffende Bild unendlich oft wiederholt“ (Typologie Allegorie Geistiger Sinn, 153).

 

     Der Speisemeister als Bild des schriftkundigen Exegeten

Das Holz des Kreuzes macht das ‚bittere‘ Wasser des Lebens in der vergänglichen Zeit ‚süß‘, es macht auch aus dem ‚geschmacklosen‘ Wasser des Alten Bundes den ‚besseren‘, weil geistlich ‚berauschenden‘ und mit Gott erfüllenden Wein des Neuen Bundes. Der Speisemeister bei der Hochzeit zu Kana verkostet des neuen Wein und sagt dem Bräutigam, er habe den „guten Wein“ bis zum Schluss aufgehoben, während es bei einem Fest doch normalerweise umgekehrt ist (Joh 2,9f).

 

Nach Beda Venerabilis ist der Speisemeister „ein Schriftkundiger jener Zeit, vielleicht Nikodemus oder Gamaliel oder Saulus, dessen damaliger Schüler, der Apostel Paulus, der jetzt ein Lehrmeister der ganzen Kirche ist.“ Herbert Schade folgert daraus: Der Speisemeister ist also der große Vermittler und Interpret, der das zu Wein gewordene Wasser oder den in dem Gesetz und den Propheten verborgenen Wein für die Hochzeitsgesellschaft kostet, abschmeckt und an die Gäste weitergibt. Was Exegese eigentlich bedeuten könnte, wird im Vorgang der Wandlung auf dieser Hochzeit thematisch“ (Zu den frühen Darstellungen der Hochzeit von Kana, in: Helmut Harsch/ Gerhard Voss [Hg.], Versuche mehrdimensionaler Schriftauslegung, 1972, 104-123, 118).

 

Im kabbalistischen Denken wird die ‚Erde‘ dem ‚Riechen‘ und die mondhafte Wasserwelt dem mit der Weisheit (sapientia) verbundenen ‚Schmecken‘, sapere, zugeordnet; Weinreb schreibt: „Das Schmecken ist also das, womit wir alles, was in der Zeit zu uns kommt, beurteilen können. Zeit kann bitter schmecken wie das Wasser von Mara, und wenn der Baum des Lebens in die Zeit gebracht wird, kann sie auch süß schmecken [vgl. Ex 15,24f]. Geschmack, wie wir ihn im Mund kennen, hat also mit diesem Schmecken der Zeit zu tun, ist eine ihrer Ausdrucksweisen. Geschmack, ‚ta-am‘, 9-70-40 [= 119], ist auch das Wort für Ton, Musik. Diese 119 liegt an der Grenze zur 120, was die vollständige Zeiterfahrung [2 x 60] ist. Geschmack gibt, wie der Ton der Musik, gerade nicht das Vollkommene an. Es lässt eine Sehnsucht zurück, eine Leere offen… Der volle Wert von ‚ta-am‘ [Tet, Ajin, Mem] ist 409 + 130 + 80 = 619, daraus ergibt sich, dass der verborgene Wert [= der volle Wert minus äußerer Wert] 500 ist. Im ‚ta-am‘ ist also trotzdem etwas von einer ganz anderen Welt verborgen“ – nämlich der Welt der Auferstehung oder der 500 (Der Weg durch den Tempel, 2000, 271).

 

 

Mit dem Mysterium des Kreuzes als Baum des ewigen Lebens kommt die Einheit des Geistes und die Ewigkeit in das ‚bittere‘ Wasser der Zeit, das so verwandelt wird; mit ihm wird auch der mystische Sinn im Gotteswort der Thora erkannt.

 

 Die Heilige Hochzeit zwischen Christus und der Kirche in der Osternacht

Das geschieht auch direkt sinnbildlich, wenn nämlich in der Osternacht die brennende Osterkerze dreimal in den Taufwasserbrunnen versenkt wird, damit die jungfräuliche Mutter Kirche die Gläubigen in der Taufe zu ‚Kindern des Lichts‘ und ‚Kindern des ewigen Lebens‘ wiedergebären kann.

 

Im Ritus der Taufwasserweihe sieht Stephan Lüttich den Ausdruck einer „kultischen Vermählung“ und „symbolischen Befruchtung des Wassers“ beziehungsweise „religionsgeschichtliche Reflexe eines symbolischen Vollzugs des nächtlichen ‚Hieros Gamos‘ [Heilige Hochzeit] zwischen Gott und Schöpfung…, der in der Osternacht zwischen dem auferstandenen Christus und der Kirche vollzogen wird, um in der nachfolgenden Tauffeier die Geburt neuer Gotteskinder zu ermöglichen. (…) Eine Verbindung von Nacht- und Brautmystik, wie man sie ausdrücklich bei Johannes vom Kreuz und später bei Novalis finden wird, ist dem Christentum also schon in seinen frühen Ausdrucksformen nicht fremd“ (Nacht-Erfahrung. Theologische Dimension einer Metapher, 2004, 30-37: „O vere beata nox“: Die Osternacht, 36).

 

Das Thema der „Hochzeit“ durchzieht die Heilige Schrift vom Paradies bis zur „Hochzeit des Lammes“ (Offb 19,7), das am Kreuz als „unser Paschalamm … geopfert“ wird (1 Kor 5,7). Gisbert Greshake betont mit dem italienischen Theologen Giorgio Mazzanti, dass „das Symbol der Vermählung nicht auf eine Metapher hin reduziert werden“ darf, „auch nicht auf eines der vielen nützlichen Bilder, die das Mysterium zum Ausdruck bringen wollen; es ist auch kein Bild, welches das Mysterium nur begleitet. Das Symbol der Vermählung bietet sich dar als Symbol der Symbole und als Herz des Mysteriums, d. h. als Ausdruck der hochzeitlichen Liebe Gottes zur Menschheit“ (Maria-Ecclesia, 2014, 441f).

 

Schon das Paradies hebt an mit der „hochzeitlichen“ Verbindung von Mann und Frau im Bund der Ehe; so können und sollen sie „ein Fleisch“ sein (Gen 2,24; Mt 19,5f). Aber auch im Menschen als Adam, 1-4-40, verbindet sich die Eins der göttlichen Geistseele (neschama) mit der Vier des Körpers und der Körperseele (nephesch). A-dam ist so der Bund in Person. Die Sünde bedeutet den Bruch dieses Bundes: Statt als „Bild Gottes“ gottähnlich zu sein mit dem einen Gott im Herzen ist der Mensch durch den Sündenfall tierähnlich und sterblich geworden.

 

     Der Bruch des Bundes in der Sünde und seine Wiederherstellung

Verloren wird das Paradies der Gottesnähe, weil Adam und Eva von der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis essen und so den Bund von 1 und 4 brechen. Denn die Zahlenwerte der hebräischen Buchstaben ergeben beim Baum der Erkenntnis von Gut und Böse den Wert 932, beim Baum des Lebens 233, das Verhältnis von 233 zu 932 ist 1 zu 4. Die Zahl Eins steht für das Geistige oder Himmlische, die Zahl Vier für das Materielle oder Irdische.

 

Durch den Sündenfall wird deren Einheit getrennt, der Bund von Geistseele und Körper gebrochen. Damit übernimmt die sichtbare äußere Fleisch-Seite die Vorherrschaft über die unsichtbare innere Geist-Seite, die Blutseele über die Geistseele. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass Kain der Erstgeborene ist und Abel, hawel, was „Windhauch“ bedeutet, erschlägt (Gen 4,7). Ebenso ist Esau der Erstgeborene von Isaak und Rebekka und nicht Jakob; Esau aber „war rötlich, über und über mit Haaren bedeckt“ (Gen 25,25).

 

Esau, der ein Jäger von Tieren ist mit dem Eisen und der „Rote“ (Edom) heißt, wie auch Adam aus der ‚roten‘ Erde (Adama) gebildet ist, trägt das animalische ‚Haarkleid‘ des gefallenen Menschen: „Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit“ (Gen 3,21). Im Garten Eden brauchen Mann und Frau ein solches Haarkleid nicht, sie sind vielmehr „nackt“, aber ohne sich zu schämen (Gen 2,15), denn sie tragen noch das ‚Lichtkleid‘ der Gnade.

 

Im Hebräischen wird ‚Haut‘, or, gleich gesprochen wie ‚Licht‘, or, aber unterschiedlich geschrieben: das Wort für ‚Haut‘ mit Ajin-Waw-Resch, das Wort für ‚Licht‘ mit Aleph-Waw-Resch. An die Stelle des Aleph tritt das Ajin, anstelle der Eins die Siebzig, also die Vielheit. Deshalb wird der Mensch aus dem Ort der Einheit vertrieben, und er kann erst wieder ins Paradies zurückkehren, wenn er (in der Liebe) wieder eins ist mit sich, mit Gott und mit seinem Mitmenschen in der Liebe. Paulus sagt in Gal 3,27f: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus. Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung.“

 

     Die Gottähnlichkeit des Menschen im Einssein in der Liebe

Das Einssein in der Liebe ist das, was der eine Gott vom Menschen will. Denn dann ist er ihm ähnlich und nicht den Tieren, die wesentlich viele sind und nicht eins sein können. Jesus betet im Hohepriesterlichen Gebet zu seinem Vater: „Alle sollen eins: Wie du Vater in mir bist und ich in dir, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind“ (Joh 17,21f). Alle Getauften sind „ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4-6).

 

So kann sich Christus als göttlicher Bräutigam und neuer Adam mit den Getauften in der einen und heiligen Kirche als seiner ‚makellosen‘ Braut und neuen Eva „hochzeitlich“ vermählen und mit ihr „ein Fleisch“ sein wie der erste Adam und die erste Eva im Paradies (Eph 5,31; Gen 2,24). Diese eschatologische Hochzeit wird vorweggefeiert in jeder Eucharistie als „Sakrament der Liebe“ (sacramentum caritatis) und „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9).

 

In der syro-antiochenischen Liturgie sagt der Priester dem Täufling bei der mit der Taufe gespendeten Erstkommunion: „Die Frucht, die Adam niemals im Paradies gekostet hat [vom Baum des Lebens], wird heute mit Freuden in deinen Mund gelegt“ (zit. nach Bertram Schmitz, Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier, 2007, 187, Anm. 9). Für Johannes Paul II. ist die Eucharistie „Vorgeschmack der vollkommenen Freude, die Christus versprochen hat (vgl. Joh 15,11); in gewisser Weise ist sie Vorwegnahme des Paradieses, ‚Unterpfand der künftigen Herrlichkeit‘“ (Ecclesia de Eucharistia, 2003, 18).

 

In der Wiederherstellung des Bundes wird das Paradies und damit die Einheit mit Gott und untereinander wieder gewonnen. Auch wenn ‚Fleisch und Blut‘ „das Reich Gottes nicht erben“ können (1 Kor 15,50), so bleibt doch der Körper wichtig; denn Geist und Fleisch sollen im Menschen harmonisch vereint sein.

 

Fazit: Die heutige Exegese weiß nichts von einer Symbolik des Lichtkleides und des Mondes in der „Rippe“ Adams, nichts von einem Paradies als Sinnbild der Kirche, nichts von der göttlichen Geistseele, nichts mehr vom Sündenfall und nichts von der Rückkehr ins Paradies durch Taufe und Eucharistie als lebensspendender Frucht vom Kreuz als neuem Baum des Lebens und vieles mehr. Sie kennt nicht den mystischen Sinn der Schrift, sondern nur ihren Literalsinn. Der Christ von morgen wird aber ein ‚Mystiker‘ sein müssen; dazu bedarf er der Mystagogie, der Einweihung oder Initiation in das Mysterium der Offenbarung und des Glaubens, das heißt ein tieferes Verständnis der drei Initiations-Sakrament Taufe, Firmung und Eucharistie. In der entsprechenden Mystagogie liegt die Zukunft des Christentums.

Klaus W. Hälbig

 

 

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