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„Alles hat Kreuzesgestalt"

 

Zum Bild: Mississippi Indianerkreuz mit Leitern aus der Sammlung von Wolfgang Saul (gest. 2012)

 

Die Universalität des christlichen Heilssymbols

 

Nach dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Verbum Domini ist das Wort Gottes „das Fundament von allem“ oder „die Grundlage der ganzen Wirklichkeit“; und mit Bonaventura wird gesagt, dass „jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt“ (8). Dieses Wort kommt ebenso in Schöpfung (‚Buch der Natur‘) und Heilsgeschichte wie in der Heiligen Schrift zum Ausdruck; ja, es besteht eine „tiefe Einheit zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung und der ganzen Heilsgeschichte in Christus“ (13). Wie ist diese Einheit zu verstehen? Und was folgt daraus für das Verständnis von Kreuzestod und Auferstehung Jesu am dritten Tag „gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3f), das heißt gemäß dem Willen Gottes?

 

Das zweifache Buch: Bibel und Schöpfung

Bonaventura spricht von einem „zweifachen Buch“: das innen beschriebene ist die ewige Weisheit oder der Plan Gottes und das außen geschriebene die sichtbare Welt. Während die Engel das innere und die Tiere nur das äußere Buch ‚lesen‘ können, ist der Mensch „zur Vollendung des Kosmos … mit einem doppelten Wahrnehmungsvermögen ausgestattet … zur Erkenntnis des innen wie außen geschriebenen Buches – das heißt: der göttlichen Weisheit und ihrer Werke. Weil in Christus die ewige Weisheit und ihr Werk in einer Person geeint sind, darum heiß er ‚das innen und außen beschriebene Buch‘ (Offb 5,1; vgl. Ez 2,9) zur Wiederherstellung der Welt“ (Breviloquium II, 10).

 

Franziskus, auf den sich Bonaventura wesentlich bezieht, hat in seiner einfältigen Weise gelernt, sich am göttlichen Maß der Weisheit des fleischgewordenen Wortes zu messen, das ihm im Bild des Gekreuzigten bis in sein Fleisch hinein eingeprägt wurde. Hans Urs von Balthasar erklärt in seiner Darstellung der Theologie des Bonaventura: „Das Kreuz ist das wahre Lehrbuch, das einzige, das Franz immerfort las, und keiner gelangt zum Verständnis der Offenbarung außer durch das Kreuz, das wir ‚als das Buch der Weisheit auf uns nehmen sollen, um es zu betrachten’“ (Herrlichkeit II/1, 281). Auch „der heilige Bruder Konrad von Parzham konnte sagen: Das Kreuz ist mein Buch. Wer aber kann das Kreuz heute noch lesen? Was sagt es eigentlich?“ (zit. nach Hans-Martin Barth, Das Kreuz als Kriterium. Luthers Kreuzestheologie und das Kruzifix-Urteil, in: Material-Dienst 2/1996, 23–28, hier 28).

 

In der Tat ist es heute schwierig geworden, das Kreuz zu lesen, weil es nicht mehr im Horizont von Schöpfung und Heilsplan verstanden wird. Der evangelische Theologe Ulrich Luz gesteht hinsichtlich des Sinns des Kreuzestodes Jesu unumwunden ein: „Hier tappen wir im Dunkeln. Das Dunkel ist darum so groß, weil das frühe Christentum ein außerordentlich großes Interesse hatte, den Tod Jesu kontrafaktisch zu deuten, also nicht als Ende und als Katastrophe, sondern als von Gott gewollt und als Grund von Heil“ (Jesus oder Buddha? Leben und Lehre im Vergleich, München 2002, 126). Nach dem katholischen Neutestamentler Thomas Söding entspricht das Kreuz weder der Heiligen Schrift noch der Natur, weshalb Paulus von der ‚Torheit‘ des Kreuzes spreche: Es sei „widersinnig, weil es der Heiligen Schrift widerspricht. Irrsinnig, weil es im Buch der Natur kein Kapitel über die Auferstehung eines Gekreuzigten gibt“ (Die Weisheit des Kreuzes, in: Christ in der Gegenwart 34/2001).

Liest man Thora und Schöpfung nur auf der Ebene des Literalsinns oder der Bilder, dann kann von einer Auferstehung überhaupt keine Rede sein; denn die Auferstehung kann nur am (ewigen) ‚achten Tag’ geschehen und damit jenseits der Sieben-Tage-Schöpfung, von der die Bilder allein handeln können. Auf dieser Ebene lässt sich aber auch nicht die Aussage nachvollziehen, dass Kreuz und Auferstehung schriftgemäß und damit auch schöpfungsgemäß seien. Doch mit der Auferstehung wird ja gerade eine neue Lesart der Offenbarung geschenkt, die vom Buchstaben zum Geist übergeht.

 

Ein authentischer Prozess der Interpretation, heißt es in Verbum Domini, ist ein Prozess des vom Geist geleiteten Lebens (mit Bezug auf das Leben vieler Heiligen). „Die ganze göttliche Schrift bildet ein einziges Buch, und dieses einzige Buch ist Christus, spricht von Christus und findet in Christus seine Erfüllung“ (Hugo von St. Viktor). Eine ‚wörtliche‘ beziehungsweise eine „fundamentalistische Lesart“ verfehlt hingegen den Sinn des inspirierten Textes (44). Zum Verständnis des Kreuzes ist somit eine geistige Schriftauslegung nötig.

 

Kreuzförmige Schrift – schriftförmiges Kreuz

Geistig verstanden ist bereits der Baum des Lebens im Paradies das Kreuz mit der Eucharistie als seiner lebensspendenden Frucht; zugleich symbolisiert dieser Baum die Weisheit oder die Thora als Offenbarung des ewigen Heilsplans. Nach Bonaventura ist die Thora selbst kreuzförmig nach „Breite, Länge, Höhe und Tiefe“ (vgl. Eph 3,18) gebaut, wie er im Prolog des Breviloquiums zu „Ursprung, Entfaltung und Ziel der Hl. Schrift“ ausführt: „So bildet sie gleichsam ein geistiges Kreuz, auf dem das ganze Gebilde des Universums (tota machina universi) geschrieben steht und mit dem Licht des menschlichen Geistes gewissermaßen geschaut werden kann“ (Prol. § 7).

 

Zu Eph 3,18 (Christen sollen „fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen“) wiederum schreibt Holger Kaffka mit Bezug auf die Kirchenväter: „Ein wichtiges Bild zur Beschreibung der kosmischen Dimension des Kreuzes ist dessen Funktion als Weltenbaum im Mittelpunkt der Erde. In Anlehnung an Epheser 3,18 interpretiert die Theologie der Alten Kirche die vier Enden des Kreuzes als einen Hinweis auf die vier Dimensionen des Universums, die damit umspannt werden. Diese Vorstellung findet sich schon bei Justin und Irenäus. Nach Gregor von Nyssa liegt in dieser kosmisch-soteriologischen Symbolik der tiefere Grund dafür, dass es gerade das Kreuz war, an dem Jesus sterben musste. ‚Das Kreuz zeigt, dass Gott alles regiert und im Sein hält. Denn durch die vier Enden werden alle Bereiche der Schöpfung angedeutet‘“ („Die Schädelstätte wurde zum Paradies“Das Kreuz im orthodoxen Gottesdienst der byzantinischen und slawischen Tradition, Erlangen 1995, 148).

 

Das Kreuz muss also verstanden werden von der Vierzahl her, wie sie der materiellen Schöpfung oder der sichtbaren Welt und auch der Gestalt des Menschen zugrunde liegt (vier Elemente, Jahreszeiten, Himmelsrichtungen, vier Basen des Erbgutes usw.). Das Heilende des Kreuzes besteht aber nicht in den vier Dimensionen des Universums als solchen, sondern in der Versammlung der Vier zur Eins der göttlichen Einheit als der Quint-essenz. Von der bloßen Vierzahl der Kreuzenden her gesehen gleicht das Kreuz dem Todesbaum der Erkenntnis, von der Einzahl der einen Kreuzmitte her aber dem Baum des Lebens. Gérard de Champeaux und Dom Sébastian Sterckx schreiben dazu in ihrer Einführung in die Welt der Symbole (Würzburg 1990, 51):

„Die Zahl des Kreuzes ist die Vier. Mehr noch ist es die Fünf… Dieser gemeinsame Punkt ist der entscheidende Schnittpunkt des Denkens. Hier verändern sich oft die Ebenen, nur hier findet der Übergang von einer Welt in die andere statt. Dieser Punkt ist der Omphalos der Griechen, der Nabel der Welt unserer Vorfahren, die heilige Treppe so vieler Religionen, die Himmelsleiter. Hier gelangt man vom Himmel zur Erde, von der Erde zum Himmel, hier stehen Raum, Zeit und Ewigkeit miteinander in Verbindung. (…) Von allen Symbolen ist das Kreuz das umfassendste, ganzheitlichste. Es steht für Übergang und Vermittlung, für die permanente Vereinigung des Universums.“

 

Der russisch-orthodoxe Theologe Pavel Florenskij versteht das Kreuz als „Prägemal“, mit dem „die gesamte Schöpfung bezeichnet ist“. Johannes Schelhas schreibt: „Die christliche Betrachtung sieht tatsächlich das gesamte weltliche Leben vom Schema des Kreuzes her. Alles ist Kreuz, alles hat Kreuzesgestalt – das Kreuz liegt dem gesamten Sein als die wahre Form zugrunde, nicht nur als eine äußerliche, sondern als eine organisierende Form, ein platonisches Kreuz. Im Stoff verwirklicht ist das verehrungswürdige hohe Kreuz – nicht mehr ein Ding unter anderen Dingen, sondern die Entelechie der Wirklichkeit“ (Schöpfung und Neuschöpfung im theologischen Werk Pavel A. Florenskijs, Münster 2003, 188).

 

Das Kreuz enträtselt den Kosmos

Aber haben der Baum des Lebens, die Himmelsleiter des Jakobstraums oder die Symbolik der Mitte tatsächlich etwas mit dem Kreuz Christi zu tun? Nietzsche hat sich über diese Art der in der Alten Kirche geübten geistigen Schriftauslegung ja schon lustig gemacht und sie als „unerhörtes philologisches Possenspiel um das Alte Testament“ kritisiert: „Wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestierten, überall sollte im Alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Rute, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute dies eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz; selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spieße, an denen das Passahlamm gebraten wird, – alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! Hat dies jemals jemand geglaubt, der es behauptete?“ (Morgenröte I, n. 84).

 

Der Philologe liest die Buchstaben und sieht die Bilder, aber er liest die Bibel nicht als ‚Schöpfung im Wort‘ in Einheit mit der Schöpfung durch das Wort, also der leibhaften Wirklichkeit, wie sie heute begegnet und die ihn innerlich selbst betrifft. Sprechen und Tun, Wort und Wirklichkeit fallen bei ihm auseinander. Das Gelesene wird nicht zum Eigenen, weil der Schlüssel fehlt, um es für heute zu erschließen. Bonaventura zufolge ist aber gerade das Kreuz „schlechterdings der Schlüssel zu allem; omnia in cruce manifestantur: nicht nur die Sünde, nicht nur der Mensch, sondern Gott selber“, genauer: seine „Selbstverdemütigung“. „Diese ‚humilitas Dei‘ ist das Tiefste, was Gott in seiner Menschwerdung und besonders in seinem Kreuz von sich offenbart“ (Herrlichkeit II/1, 353f). Ähnlich sagt Joseph Ratzinger: „Der Kosmos spricht uns vom Kreuz, und das Kreuz enträtselt uns den Kosmos. Es ist der eigentliche Schlüssel aller Wirklichkeit“ (Der Geist der LiturgieEine Einführung, Freiburg 2000, 156).

 

Bundesschluss und ‚Hochzeit‘ am Kreuz

Nach Paulus offenbart das Kreuz die göttliche Weisheit oder den verborgenen Heilsplan (1 Kor 2,7), wie er in der Thora enthalten ist. Das Kreuz als Buch der Weisheit zu lesen heißt aber, es unter der Führung des Geistes als lebendiges Gotteswort zu verstehen, das ‚für mich‘ aufgeschrieben ist. Paulus verweist auf den Felsen (der Schrift), aus dem Mose das Wasser (des Geistes) schlägt, und identifiziert ihn mit Christus: „Das aber geschah an ihnen (den Vätern), damit es uns als Beispiel diene“ (1 Kor 10,4.11). Die entscheidende Kategorie der ganzen Schrift, die Altes und Neues Testament innerlich eint, ist die des Bundes Gottes mit der Menschheit, ja mit der Schöpfung. In Verbum Domini (12) heißt es daher: „In diesem großen Geheimnis (des Kreuzes) offenbart sich Jesus als das Wort des neuen und ewigen Bundes“ (mit Bezug auf die Eucharistie und das ‚vergossene Blut des Bundes‘). Im Kreuz hat sich Jesus „als das wahre Opferlamm erwiesen, in dem sich die endgültige Befreiung aus der Knechtschaft [Ägyptens, der Sünde] vollzieht.“

 

Werden Schrift und Kreuz vom Bund her gelesen, wie er sich im Hohelied der Liebe als „Kern des Kerns“ oder „äußerste Verdichtung“ der ersten Schöpfungserzählung (Friedrich Weinreb, Das Opfer in der Bibel, 183) in Bildern der erotischen Anziehung von Mann und Frau versinnbildet, dann gewinnt der Bundesschluss am Kreuz den Charakter eines ‚hochzeitlichen‘ Mysteriums, wie es auch der Paradies-Erzählung zugrunde liegt (vgl. Eph 5,31f). Mit den Worten Bonaventuras sagt Hans Urs von Balthasar:

„Die Hochzeit zwischen Gott und Geschöpf geschieht am Kreuz. ‚Christus am Kreuz neigt, dich erwartend, das Haupt, um dich zu küssen, streckt die Arme aus, um dich zu umarmen, seine Hände sind offen, um dich zu entlöhnen, der Leib ausgespannt, um sich ganz hinzugeben, die Füße angenagelt, um zu verweilen, die Seite dir entgegen geöffnet, um dich dort einzulassen.‘ Es ist ‚der Tag der Vermählung‘, ‚und er konnte eine unbefleckte Braut nicht eher haben, als er sie aus seiner Seite gebildet hatte,… diese Hochzeit sollte bei seiner Passion gefeiert werden‘. Jeder Christ muss ‚sich danach sehnen, dem Gekreuzigten vollkommen gleich gestaltet zu werden‘… (…) Dieses Zu­einander der Abgründe [von Gott und Mensch im Kreuz] ist sosehr Mitte und Ende aller Weisheit, dass Bonaventura jedes andere Wissen schal dünkt“ (Herrlichkeit II/1, 282f).

 

Fruchtbarkeit der Liebe jenseits des Todes

Im Mysterium des Kreuzes geht es so um die Vollendung der Schöpfung im Einswerden mit dem Schöpfer, um einen Prozess der Umwandlung und Re-integration, der Reinigung des Herzens und der Bildung des Bewusstseins im Geist, der ein Leben lang dauert. Weil so das Kreuz das Zeichen der ewigen Bundesliebe Gottes und des universalen Heils der Schöpfung ist, deshalb segnet die Kirche bei ihren sakramentalen Handlungen zur Heilung des Menschen alles mit dem Zeichen des Kreuzes. Segnen oder gutheißen (bene-dicere) zielt auf die Fruchtbarkeit, aber diese besteht im ‚hochzeitlichen‘ Einswerden und Einssein in der leibhaften Auferstehung als Neuschöpfung am ‚achten Tag’.

 

So will auch der Schöpferauftrag zur Fruchtbarkeit (Gen 1,28) geistig auf die Auferstehung hin gelesen werden: „Seid fruchtbar und mehret euch“, hebr. pru urebu, in Zahlen: 8-200-6 und 6-200-2-6, ist in der Summe 500, was die Zahl jenseits der 400 dieser Weltzeit ist (vgl. 1 Kor 15,6). Die Sieben-Tage-Schöpfung ist immer schon auf den ewigen ‚achten Tag’ hin gebaut, und darin liegt alle Heiligung und alle Heilung begründet. In der 500 vereinen sich die 400 (äußerste Vielheit) der sichtbaren und die 100 (Einheit) der unsichtbaren Welt, werden die Buchstaben der Schrift, die mit dem kreuzförmigen Taw (= Zahlenwert 400) enden, auf den Geist hin überschritten: das Kreuz des Todes wird zum Baum des Lebens im Paradies (Lk 23,43).

 

Friedrich Weinreb erklärt in seinem Grundlagenwerk Schöpfung im WortDie Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung (Zürich ³2012, 881f): „Der achte Tag ist in der Bibel eine ebenso klare Realität wie der sechste oder siebte“, in dem der Tod „der Übergang in den achten Tag (ist). (…) Diese Gewissheit ist es auch, welche die Bibel zum Baum des Lebens macht, dem Baum mit den Maßen der ‚Fünfhundert‘, dem Baum, der ‚Eins‘ gegenüber der Vielheit ist. Wer die Bibel als solch eine Einheit kennt, … kennt den Baum des Lebens.“

 

Wenn heute die Heilsbotschaft vom Kreuz oft auf Unverständnis stößt oder auf unfruchtbaren Boden fällt, dann vor allem deshalb, weil nicht zuvor die der Schöpfung eingeprägte Ursymbolik des Kreuzes, in dessen Urgestalt auch und gerade der Mensch gebaut ist, entfaltet worden ist. Wo dies geschieht, und zwar nicht bloß rational und vom Willen her, sondern auch emotional und ‚kardial‘ (bezogen auf das menschliche Herz), da erscheint das Kreuz in neuem Licht. Manfred Balkenohl schreibt in seinem Beitrag Kreuz und Hoffnung. Anthropologisch und theologisch (in: Willigis Eckermann u. a. [Hg.], Das Kreuz – Stein des Anstoßes, Kevelaer 1996, 121): „Das ‚Mysterium Crucis‘ entspricht im Kontext anderer Glaubenswahrheiten am höchsten und tiefsten dem Heilserwarten, dem Heilsverlangen und dem Heilsvertrauen des Menschen. (…) Keine andere Glaubenswahrheit trifft den Menschen in seiner vom Schöpfer geschenkten Natur so tief. Keine andere Offenbarung lässt die emotional-kardiale Mitte des Menschen so stabil werden. Und keine andere Gewissheit kann mehr Kraft für das Gelingen des Lebens geben.“

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Mehr vgl. mein Buch Die Hochzeit am Kreuz. Eine Hinführung zur Mitte, Don Bosco Verlag München 2007, 816 Seiten.

Das Entfernen der Hülle

Bild: Fünf-Punkte-Kreuz in Irland

Kreuz und Thora nach Friedrich Weinreb

 

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert veröffentlichte der damals 27-jährige Rabbiner Leo Baeck einen Essay und 1905 sein Hauptwerk „Das Wesen des Judentums“ zu Adolf von Harnacks berühmtem Buch „Das Wesen des Christentums“ (1900). Während Harnack das Jüdische an Jesus als überflüssige Hülle des eigentlichen nicht-jüdischen Kerns der Lehren Jesu ansah (und er deshalb Marcion rehabilitieren wollte, für den das Alte Testament nicht zum Kanon gehörte), war für Baeck umgekehrt Jesu Treue zum Judentum der eigentliche Kern und das ‚Wesen des Christlichen’ im Sinn Harnacks bloße Hülle.

 

Nach Paulus liegt „bis heute“ auf den Herzen derer, die die Thora des Mose hören, eine Hülle: „Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt“ (2 Kor 3,16). Gemeint ist damit eine innere Beschneidung des hörenden Herzens, „die man nicht mit Händen vornimmt… Wer sie empfängt, sagt sich los von seinem vergänglichen Körper“ (Kol 2,10f; vgl. Röm 2,29; 7,24f). Entsprechend sagt der Apostel im Galaterbrief: „Alle, die zu Jesus Christus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ (Gal 5,24; vgl. Röm 7,5f; 8,2-14). Das Wegnehmen der Hülle der Thora und das Kreuzigen der Begierden meinen dasselbe, weil die Verhüllung der Thora mit dem Sündenfall kommt, das heißt dem Bekleidetwerden mit jenem „haarigen Tierkleid“ (Gen 3,21) als Bild der Triebnatur, das die ursprüngliche Lichtnatur des Menschen (und von daher auch der Thora) verhüllt und verdunkelt (vgl. Mt 6,22f; Lk 11,34-36).

 

Symbolik des Kleides

Vor der Liturgiereform betete der Priester beim Anlegen der Stola (als pars pro toto für das ganze Priestergewand): „Gibt mir, o Herr, das Gewand der Unsterblichkeit, das ich in der Abwendung der ersten Eltern verlor, und obwohl ich unwürdig zu deinem heiligen Mysterium hinzutrete, möge ich dennoch die ewige Freude erlangen.“ Dieses Gewand der Unsterblichkeit meint jenes ‚Lichtgewand‘ der ‚Herrlichkeit‘ (doxa) Gottes, mit dem der ‚nackte‘ Adam im Paradies bekleidet ist und sich deshalb nicht zu ‚schämen‘ braucht (Gen 2,25).

So versteht Gregor Palamas (1296-1359) die ‚Nacktheit‘ Adams im Paradies als bedeckt vom Lichtkleid der vergöttlichenden Gnade: „Erst durch den Sündenfall wurde er im wahrsten Sinne des Wortes nackt, indem er sich des göttlichen Glanzes entledigte“, also der (in der Liturgie angebotenen) vergöttlichenden Gnade und dadurch sterblich wurde, was in der Verklärung Jesu auf Tabor wieder aufgehoben wird (Michael Kunzler, Porta Orientalis, 1993, S. 59; vgl. ebd. 568-597: Idumentum salutis – das Heilskleid).

 

Ähnlich sagt Friedrich Weinreb von der jüdischen Überlieferung her: „Das Kleid von ‚Licht‘, das der Mensch, bevor er vom Baum der Erkenntnis nahm, besaß, wird [im Sündenfall] sozusagen ausgelöscht. Die leiblichen Augen öffnen sich für ein anderes Licht, für ein in Vielheit gebrochenes Licht. (…) Er bekam nun die Haut, das Fell, die Umhüllung von einem ‚Tier, vor allem an den Stellen, an dem sich der Fall des Menschen am deutlichsten zeigte“ (Schöpfung im Wort, 1994, S. 355).

 

Das Haar ist dabei Zeichen des Zeitlichen und der Vielheit (vgl. Mt 10,30; das Fell eines Bibers hat allein auf der Fläche eines Geldstücks fünf Millionen Haare). Das Tierkleid ist hebr. or, 70-6-200, in der Aussprache wie or, 1-6-200 = Licht. Nur ein Buchstaben ist anders: statt der Eins (Aleph) die Siebzig (Ajin; vgl. die 70 Völker). Aber mit diesem Wandel ändert sich fundamental die Sicht des Lebens und der Welt. Statt des inneren Wesens und der Einheit aller Dinge im Licht der göttlichen Weisheit wird jetzt alles im zeiträumlichen Nach- und Auseinander gesehen. Der wahre Zusammenhang bleibt damit verborgen.

 

In der Kleid-Symbolik wird somit etwas Grundlegendes über die menschliche Natur zum Ausdruck gebracht. Die Bibel unterscheidet zwischen Leib und Leibseele (hebr. nephesch: Begierden, Affekte, Leidenschaften, Triebe) einerseits sowie Geist und Geistseele (hebr. neschamah: kontemplatives Schauen des Ganzen, hebr. schalom) andererseits. Der Mensch ist von seiner eingehauchten Geistseele her Bild Gottes und so von den Tieren unterschieden (vgl. Gen 2,7.19f), während er die Leibseele mit den Tieren gerade gemeinsam hat. Durch sein Wort und seinen Geist hat Gott dem Herzen des Menschen seinen Willen von Anfang an eingeschrieben, so dass jeder Mensch Gott erkennen kann (Röm 1,19f; 2,15; Hebr 8,10). Nur: die ‚gefallenen‘, in ihrem Herzen verhärteten Menschen lieben die Finsternis mehr als das Licht, das jeden Menschen erleuchtet; „denn ihre Taten waren böse“ (Joh 1,9; 3,19f; vgl. Röm 1,18; 2,5).

 

Sündenfall und Weisheit

Diese Bosheit aller Menschen erklärt die alte Theologie eben vom ‚Sündenfall‘ des Ersten Menschen her, womit der Mensch den Zugang zum Baum des ewigen Lebens verliert (Gen 3,22f), das heißt zur Thora in ihrem geistigen, unverhüllten Sinn (s.u.). Der Fall geschieht durch das ‚Essen‘ vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in der ‚Mitte‘ des Gartens. Die Zweiheit der Bäume hat ihren Grund darin, dass im Endlichen notwendig alles in Gegensätzen erscheint und eine Doppelgestalt hat, denn harmonischer Ein-klang und Einheit wäre Unendlichkeit (deshalb sind es auch zwei Schöpfungserzählungen).

 

Das Erste steht dabei dem Einen und Ersten näher als das Zweite, das zu diesem erst ‚näher gebracht‘ oder ‚heraufgebracht‘ werden muss, was durch das Näherbringen im korban, dem Opfer (griech. ana-phora = hochbringen) geschieht. Im Paradies ist der Mensch noch Gott ganz nahe und bringt dort deshalb keine Opfer. Aber sobald das Paradies verloren ist, beginnen die Opfer, die aber nur dann zum Ziel führen, wenn der Mensch ‚umsonst‘ gibt: sich selbst ganz hingibt in der reinen Gesinnung des Herzens. Zu dieser Reinheit ist der gefallene, ‚irdisch‘, ‚äußerlich‘ oder ‚tierisch‘ gewordene Mensch jedoch nicht mehr fähig (vgl. Kain analog zum ‚rötlich-haarigen‘ Esau: Gen 25,25), sondern nur der innere Mensch des Geistes (wie Abel oder Jakob).

 

Die Zweiheit aller Offenbarung in Thora und Schöpfung durch Wort und Geist Gottes, das heißt der Zweiheit von Himmel und Erde als Geist- und Materie-Prinzip, zeigt sich also auch in der Zweiheit der beiden Bäume: der Baum des Lebens entspricht dem himmlischen Geist-Prinzip, der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse entspricht dem irdischen Materie-Prinzip. Bei den beiden Bäumen kann wieder eine Zweiheit unterschieden werden: Blätter und Frucht (vgl. Ps 1,3). Die Blätter drücken die Vielheit aus (eine Eiche hat etwa eine Million Blätter), in der Frucht zeigt sich die Einheit. Beim Erkenntnisbaum handelt es sich nach jüdischer Überlieferung freilich um einen Feigenbaum (vgl. die Feigenblätter: Gen 2,7), dessen Früchte viele kleine Kerne haben, aber keinen eigentlichen Kern. Die Feige wird als vierte Frucht gezählt (vgl. Dtn 8,8), der Feigenbaum verkörpert also das Prinzip der irdischen Vier, das heißt der Vielheit im Gegenüber zur göttlichen Eins oder Einheit des Lebensbaumes.

 

Das Schlüsselprinzip 1-4

Dieses Verhältnis 1:4 findet sich in der zweiten Erzählung vielfach. So ist das erste, was kommt, die Feuchtigkeit oder der Wasserdampf, hebr. e-d, in Zahlen 1-4 (Gen 2,6); Adam ist hebr. a-d-m, 1-4-40. Dem einen Hauptstrom entspringen vier Flüsse (Gen 2,10); und auch die beiden Bäume, der Lebens- und der Erkenntnisbaum, haben das Verhältnis 1-4: Addiert man die Zahlenwerte von ez hachajim (70 + 90 + 5 + 8 + 10 + 10 + 40 = 233) und  ez hadaäth tob wara (70 + 90 + 5 + 4 + 70 + 400 + 9 + 6 + 2 + 6 + 200 + 70 = 932), so ergibt sich genau 1-4 (233: 932). Das könnte ein Zufall sein. Aber wenn das Alles-Ordnen der Schöpfung „nach Maß, Zahl und Gewicht“ (Weish 11,20) auch für die ‚Schöpfung im Wort‘ gilt, dann wird man solche Ordnung der göttlichen Weisheit geradezu erwarten dürfen.

 

Freilich liegt sie nicht einfach auf der Hand, oder doch vielleicht nur so, dass man darauf durch die Überlieferung (hebr. Kabbala) aufmerksam gemacht werden muss. Auch die Hand selbst mit dem einen Daumen und den vier Fingern hat ja diese 1-4-Struktur und gilt deshalb als Wunderwerk der Evolution, weil erst der eine opponierbare Daumen das Greifen (und dann auch das Be-greifen einer Sache im Zusammenhang) ermöglicht. Dasselbe gilt von der menschlichen Gestalt (ein Kopf und vier Gliedmaßen) sowie vom Atem: ein Teil Sauerstoff und vier Teile Stickstoff, von der Eins lebt der Mensch, die Vier atmet er aus. (Beim ‚Urknall‘ entstehen als die ersten und über viele Jahrmillionen einzigen Elemente Wasserstoff und Helium mit dem Atomgewicht 1 und 4).

 

Diese Beispiele in Bibel und Schöpfung ließen sich beliebig vermehren, was zeigt, dass es sich wirklich um eine Grund- oder Schlüsselstruktur handelt. Dabei weist auch und gerade das Kreuz diese 1-4-Struktur auf, wie der christlichen Überlieferung noch durchaus bewusst war: „Ein wichtiges Bild zur Beschreibung der kosmischen Dimension des Kreuzes ist dessen Funktion als Weltenbaum im Mittelpunkt der Erde. In Anlehnung an Epheser 3,18 [Christen sollen „fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen“] interpretiert die Theologie der Alten Kirche die vier Enden des Kreuzes als einen Hinweis auf die vier Dimensionen des Universums, die damit umspannt werden. Diese Vorstellung findet sich schon bei Justin und Irenäus. Nach Gregor von Nyssa liegt in dieser kosmisch-soteriologischen Symbolik der tiefere Grund dafür, dass es gerade das Kreuz war, an dem Jesus sterben musste. ‚Das Kreuz zeigt, dass Gott alles regiert und im Sein hält. Denn durch die vier Enden werden alle Bereiche der Schöpfung angedeutet‘“ (Holger Kaffka, „Die Schädelstätte wurde zum Paradies“. Das Kreuz im orthodoxen Gottesdienst, S. 148; vgl. auch die vier Frauen und der eine Lieblingsjünger unter dem Kreuz sowie die Teilung des Obergewandes Jesu in vier Teile, während das Untergewand „von oben“ in einem Stück genäht ganz bleibt: Joh 19,23-27).

 

Die Einheit der Offenbarung im Licht der Mystik

In den mittelalterlichen Darstellungen des Kreuzes entspringen zu seinen Füßen die vier Paradiesflüsse, die den Gnadenstrom in den vier Evangelien symbolisieren. Oder die vier Flüsse bilden selbst ein Kreuz mit dem Lamm im Zentrum und den vier Evangelistensymbolen in den vier Rechteckfeldern (vgl. Klaus W. Hälbig, Der Schlüssel zum Paradies, 1996, S. 105-110). Bonaventura betrachtet das Kreuz als den Baum des Lebens und zugleich als Quell des Lebens, womit er letztlich das unverhüllte Wort Gottes meint, das im Licht des Mysteriums von Kreuz und Auferstehung enthüllt wird, wie die Geschichte von der Emmaus-Jüngern verdeutlicht: „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift (der Thora!) erschloss“ (Lk 24,32).

 

Im Feuer des Geistes wird das Herz gereinigt und die Hülle entfernt. Es wird zum ‚sanftmütigen und demütigen‘ Herzen wie das Herz Jesu, der in die Kreuzesnachfolge als Tragen seines „leichten Joches“ ruft (Mt 11,28-30). Gemeint ist damit das göttliche ‚Joch der Thora‘, das es auf sich zu nehmen gilt im Befolgen des Gesetzes, worin für das Judentum der Weg der Erlösung besteht. Aber diese Thora ist durch das Kreuz eben in ihrem eigentlichen geistigen Sinn als Weg der ‚hochzeitlichen‘ Einswerdung der beiden gegensätzlichen Seiten oder der Zweiheit der Schöpfung erschlossen, der in der Hingabe der Liebe besteht.

In der Eucharistie als Sakrament der Liebe oder „Sakrament des Bräutigams und der Braut“ (Benedikt XVI.) geht es darum, dass die (potentiell) eine und ganze Menschheit eins wird. Und im Reinigungsbad der Taufe (dem Anziehen des weißen Taufkleides als Lichtgewand oder Erleuchtung) geht es darum, dass die Menschheit wieder rein und makellos wird durch das höhere Prinzip des Geistes als Er-innerung des Ursprungs und so als Abstammung von dem einen Vater im Himmel (vgl. Eph 4,3-6; 5,14.25-27), welches das Prinzip einer ‚horizontalen‘ (irdischen) Fruchtbarkeit überformt.

 

Der jüdische Religionsphilosoph und Mystiker Abraham J. Heschel zitiert einen „Rabbi aus alter Zeit“ mit den Worten: „Die Tora, wie Mose sie empfing, ist nur eine unreife Frucht am himmlischen Baum der Weisheit. Am Ende der Tage wird vieles offenbar werden, was jetzt verborgen ist“ (Keine Religion ist ein Eiland, in: F. A. Rothschild [Hg.], Christentum aus jüdischer Sicht, ²2000, S. 336; zu Baeck und Harnack vgl. ebd. 36-58). Aber nicht die Thora selbst ist ‚eine unreife Frucht‘, sondern unser Verständnis von ihr, das nicht bis zum verborgenen Kern vordringt. In seinem Aufsatz „Der einzelne Jude und seine Pflichten“ klagt Heschel selbst: „Alle wissen, dass Judentum eine ‚Last‘ ist. Wer aber weiß noch, dass es auch ‚Freude im Geist und das Paradies der Seele‘ ist, dass ‚der Sabbat ein Vorgeschmack der kommenden Welt‘ ist? (…) Wir haben versagt, weil es uns nicht gelungen ist, das Unwägbare zu vermitteln, die Augen des Herzens zu öffnen, das Licht der Tora aus seiner Umhüllung zu befreien. Wir haben das Auge nicht gepflegt… Wir, die Lehrenden, haben wenig Glauben. Wir umgehen die Probleme, wir dringen nicht ins Zentrum“ (Die ungesicherte Freiheit, 1985, S. 158).

 

Demgegenüber führt das Mysterium von Kreuz und Auferstehung Jesu genau ins Zentrum der Thora. Denn es heilt die ‚kranken‘ (blinden) Augen des verhärteten Herzens, entfernt die Hülle in der inneren Beschneidung durch den Geist (vgl. Ez 36,26-29) und schenkt in der Eucharistie die wahre Frucht jenseits der vielen Blätter. Die Eucharistie ist die wahre ‚vollreife‘ Lesart der Thora in der Wort-Gottes-Feier als erstem Teil der Eucharistiefeier im Heiligen Geist. Im Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ heißt es, dass schon das Manna in der Wüste „in Wirklichkeit die Torah ist, das lebensspendende Wort Gottes (vgl. Ps 119; Spr 9,5)“. So sind auch Thora und Eucharistie eins, wie auch Thora und Kreuz im Geist eins sind. Sollten dann nicht auch Juden und Christen sich als innerlich eins erkennen, wenn sie ihre gemeinsame Offenbarung im Licht ihrer jeweiligen Mystik ‚unverhüllt‘ lesen?

 

Der Epheserbrief sagt, Christus ist unser (Paradies-)Friede, weil er in seinem Kreuz das (verhüllte) Gesetz aufhob, um Juden und Nicht-Juden „in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen“ – in dem einen Leib der Auferstehung (Eph 2,14-16). In dieser Einheit und nur so haben „beide in dem einen Geist Zugang zum Vater“ (V. 18).

Klaus W. Hälbig

 

Mehr vgl. mein Buch Der Baum des Lebens. Kreuz und Thora in mystischer Deutung, Echter Verlag Würzburg 2011, 368 Seiten

Der Gerechte als Baum des Lebens

Bild: Kreuz und Thora in der Pfarrkirche Affalterbach

Die Bibel in der Deutung von Friedrich Weinreb

 

Vom „Baum des (ewigen) Lebens“ spricht die Bibel gleich auf ihren ersten Seiten in der Erzählung vom Paradiesgarten und seinem Verlust. Gleichzeitig mit diesem Lebensbaum steht ein anderer, zweiter Baum in der Mitte des Gartens: der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (Gen 2,9). Was diese beiden Bäume bedeuten, vermag die heutige historisch-kritische Exegese nicht zu sagen.

 

Der Schweizer Alttestamentler Andreas Schüle erklärt in seinem Genesis-Kommentar, die Interpretation der beiden Bäume im Paradies sei „ein letztlich nicht lösbares Rätsel“ (Die Urgeschichte, Zürich 2009, 62). Ganz anders Friedrich Weinreb: Er erschließt von den alten Quellen des Judentums her die Erzählung von den beiden Bäumen als Schlüsselerzählung für das Verständnis der Bibel überhaupt (Schöpfung im Wort, Zürich ³2012, 331-401: Die Erzählung von den zwei Bäumen). Die beiden Bäume stehen nämlich für die Prinzipien Einheit und Zweiheit, Geist und Materie (Fleisch), Leben und Tod, Himmel und Erde, auch das ‚Männliche’ und das ‚Weibliche’ in den Symbolen von Sonne (Tag) und Mond (Nacht) oder den Symbolzahlen 1 (Einheit, Gott) und 4 (Vielheit, Welt). Nicht zufällig besteht auch die Thora aus fünf Büchern im Verhältnis 1 (= Genesis) zu 4 (Exodus bis Deuteronomium).

 

Die Liebe zum (Tod-)Feind

„Der Gerechte muss viel leiden, doch allem wird der Herr ihn entreißen“ (Ps 34,20). Die zentrale Frage der Bibel ist die nach der Gerechtigkeit, der rechten Heilsordnung, dem Heil- und Heiligsein vor Gott: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlische Vater ist“, der über Gerechte und Ungerechte regnen und aufgehen lässt seine Sonne der Liebe (Mt 5,45-48; vgl. V.20). Worin besteht der Gegensatz zwischen gerecht und ungerecht, heilig und sündig? Jesu Antwort zielt auf die Feindesliebe, die nicht auf die Wechselseitigkeit der Liebe aus ist: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44; vgl. 5,10).

 

Die zu lieben, von denen man selbst geliebt wird, ist hingegen nichts besonderes (VV. 46f); den Feind und Verfolger zu lieben aber, erscheint dagegen als übermenschlich. Die Ur-Feindschaft setzt Gott selbst zwischen der verführenden Schlange (Triebnatur) und der ‚Frau‘ als der Leibseite des Menschen (Gen 2,15) oder zwischen Tod und Leben. Diesen größtmöglichen Gegensatz in der Gegensatz-Einheit zu übersteigen, ist kaum möglich. Kardinal Nikolaus von Kues spricht von der „Mauer des Paradieses“, die diese irdische Welt der antagonistischen Zweiheit von der göttlichen Welt der unendlichen Einheit oder des Himmels trennt. Und doch geht es darum, Kinder des einen himmlischen Vaters aller Menschen zu sein (Mt 5,45; 6,9).

 

In der irdisch-körperlichen, biologischen Welt des Endlichen herrscht notwendig das Gesetz der Verdrängung, des Kampfes, des Fressens und Gefressen-werdens. Wäre diese sichtbare Welt die einzige oder die allein wirkliche, so wäre das Gebot zur Feindesliebe widersinnig und abwegig. Aber der geistleibliche Mensch ist Bürger zweier Welten, der himmlische und der irdischen, und deshalb fähig, im Feind auch den Bruder zu sehen oder statt des Splitters im Auge des anderen den Balken im eigenen Auge (Mt 7,1-5). Denn bevor der Mensch urteilt und andere richtet, muss er bedenken, dass sein „Auge krank ist“, das heißt nicht die Einheit beider Welten sieht, und folglich auch sein ganzer Körper (Mt 6,22f), dass es also an der am rechten Bewusstsein, am Licht des Glaubens, an der göttlichen Erleuchtung fehlt.

 

Augustinus kann von daher im Hinblick auf die Heilung von zwei Blinden (Mt 20,30-34) unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem und der Tempelreinigung in einer Predigt sagen: „Die ganze Arbeit in diesem Leben von uns, Brüder, besteht also darin, das Auge des Herzens zu heilen, damit es Gott sieht [vgl. Mt 5,8]. Dazu werden die hochheiligen Geheimnisse zelebriert, dazu wird das Wort Gottes gepredigt; deshalb werden die sittlichen Ermahnungen der Kirche gegeben (…). Gott hat dich, Mensch, nach seinem Bild gemacht. Sollte er dir nicht etwas gegeben haben, damit du die Sonne siehst, die er gemacht hat? Und sollte er dir nicht etwas geschenkt haben, damit du den siehst, der dich nach seinem Bild geschaffen hat? Er gab dir auch dieses. (…) Nachdem er [Adam] gesündigt hatte, war sein Auge verletzt, und er begann, das göttliche Licht zu fürchten … Er floh die Wahrheit und suchte die Schatten.“

 

Bevor der eine Hohepriester am großen Versöhnungstag (Jom Kippur) das Allerheiligste oder Innerste des Tempel-Heiligtums als Gott entsprechender ‚Adam‘ betrat, um an diesem idealen Ort der Einheit (analog zum Paradies) in der heiligen Opfergesinnung seines Herzens unter Anrufung des allerheiligsten Gottesnamens die Bundeslade mit dem Opferblut von Stieren zu besprengen, wobei er aufgrund der Lebensgefahr, in die er sich damit freiwillig begab, selbst sein Leben für das Volk und für alle Menschen einsetzte, musste er zur Vorbereitung auf diesen gefährlichen Opfergang das Buch Hiob lesen. Der Name Hiob (hebr. ijow) wird im Hebräischen mit denselben Buchstaben geschrieben wie das Wort für Feind (ojew). Friedrich Weinreb sagt dazu in seinem Buch Die Freuden des Hiob (2006, 53): „Immer, heißt es, hat der Mensch den Feind bei sich, den Feind in jeder Hinsicht. Wie der Tod sein Feind ist und auch sein Kamerad auf dem Weg, denn er begleitet ihn doch sein Leben lang.“

 

Nach Ludger Schwienhorst-Schönberger klingt beim Hebräischen ojebi (mein Feind) das Wort ‚Ijob‘ an; und: „Gott führt Ijob in eine Art Todesmeditation hinein“ (Ein Weg durch das LeidDas Buch Ijob, Freiburg u. a. 2007, 256; 153). Wenn Hiob am Ende seines Wegs durch das Leid die erlösende Gottesschau zuteil wird, so entspricht das dem, „was Jesus denen verheißen hat, die ‚reinen Herzens sind‘ (Mt 5,8)“: Hiob „ist den Weg des Glaubens zu Ende gegangen und ein Schauender geworden“ (ebd. 9; 265). Diese Heilung der Augen des Herzens ist das eigentliche Thema des Hiob-Buches, das den Weg von der äußeren Gesetzes-Gerechtigkeit zur inneren Seins-Gerechtigkeit beschreibt. Hiob, der äußerlich gesehen überaus fruchtbar und produktiv ist, muss doch erst noch innerlich fruchtbar werden, und zwar durch die innere Beschneidung des Herzens.

 

Verwurzelt im Willen des Vaters

Hiobs Haut, der Ort seines Erscheinens in der Welt, ist übersät „mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel“ (Ijob 2,7); sie „schrumpft und eitert“ (7,5), ist „zerfetzt“ und „schwarz“ (19,26; 30,30). Satan verlangt von Gott, Hiob durch und durch zu prüfen: „Haut um Haut!“ (Ijob 2,4), was sich auch lesen lässt als ‚Haut bis auf den Grund der Haut‘. In diesem Zu-Grunde-gehen erfährt Hiob, was es heißt, als unbeschnittener Nicht-Jude im Lande Utz (Ijob 1,1) zu wohnen (wie Ez = ‚Baum‘ mit Waw = ‚Haken‘ in der Mitte) und so der ‚Mensch im Baum‘ zu sein, das heißt der Gerechte, der wie ein Baum ist und zu jeder Zeit gute Frucht trägt (Ps 1,3) im Sinn des Geistes (vgl. Gal 5,22f). Diese Fruchtbarkeit folgt aus der beständigen Meditation der Thora  (V.2), die selbst im geistigen Verständnis der wahre Baum des Lebens ist (Spr 3,18) und so die Einheit des Lebens jenseits der Zweiheit und Spaltung im Essen vom Erkenntnisbaum von Gut und Böse.

 

Hildegard von Bingen bezieht den Lebensbaum im Paradieses mit Bezug auf Psalm 1,3 auf Jesus, den wahrhaft Gerechten: „Der Sohn Gottes, der in allem den Willen Seines Vaters gefolgt ist, war der Baum des Heiles gewesen, empfangen vom Heiligen Geist. Aus Ihm strömen lebendige Wasser und schenken die Frucht der Heiligkeit in Fülle… Wie der Saft des Wassers in der grünenden Lebensfrische des Baumes lebt, so west Gottes Sohn immerdar im Vater bis zur festgesetzten Zeit Seiner Menschwerdung, da Er für alle geistlichen Menschen zur Speise des Lebens wurde“ (Welt und Mensch. Das Buch ‚De operatione Dei‘, 207).

 

Der Gerechte ist demnach nicht nur für sich selbst gerecht, sondern er macht all jene gerecht und heilig, die mit ihm substantiell in Berührung kommen. Denn seine „Speise“ ist es, in allem den Willen des Vaters zu suchen und zu tun (Joh 4,34) und so selbst Lebensbrot für andere zu sein. Das setzt voraus, dass der Mensch durch die ‚Beschneidung‘ seines Herzens den Egoismus aus der Angst vor dem Tod überwunden hat. So kann Jesus in der Hingabe seines Lebens und der eucharistischen Gabe des ‚Brotes vom Himmel’ als Frucht des Kreuzes als ‚Baum des Lebens’ die „befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebr. 2,15).

 

Hiob lernt in seiner Todes-Meditation in Auseinandersetzung mit seinen vier ‚Freunden‘, sich ganz im heiligen Willen Gottes zu verwurzeln und so gleichsam selbst ein ‚immergrüner Baum‘ des Lebens zu werden, dessen innere oder geistige Fruchtbarkeit sich am Ende in der Verdoppelung aller Güter erweist: „Der Herr wendete das Geschick Ijobs, als er für seinen Nächsten Fürbitte einlegte“ (Ijob 42,10.12), das heißt im Einswerden der beiden Seiten von Erde und Himmel, Leib und Geist.

 

Mehr noch als Hiob ist aber der Gekreuzigte der ‚Mensch im Baum‘, führt er im Kreuz als geistige „Beschneidung des Menschheitsbaumes“ (Annick de Souzenelle) wahrhaft zur „Fülle aller Fruchtbarkeit“ des Geistes (Hildegard von Bingen). Was das bedeutet, sagt Papst Benedikt XVI. mit Bezug auf das apokryphe Jesus-Wort: „Wer aus meinem Mund [das Wort Gottes] trinkt, der wird werden wie ich“: „Der Gläubige wird eins mit Christus und nimmt an seiner Fruchtbarkeit teil. Der glaubende und mit Christus mitliebende Mensch wird zu einem Brunnen, der Leben schenkt. Auch das kann man in der Geschichte wunderbar sehen: wie die Heiligen Oasen sind, um die herum Leben sprosst, um die herum ein wenig vom verlorenen Paradies wiederkehrt“ (Jesus von Nazareth, Bd. I, Freiburg 2007, 291).

 

Die Heiligen, die eins sind mit Christus, erscheinen so mit Ihm als Mittler des Stroms der heiligmachenden Gnade, der beständig aus dem Herzen des Erlösers am Kreuzbaum des Lebens strömt, das in liebendem Erbarmen für alle durchbohrt und geöffnet ist (Joh 19,34; 7,37f). Hat sich doch der Sohn Gottes für alle in den Tod gegeben und alle mit Gott versöhnt, „als wir noch (Gottes) Feinde waren“ (Röm 5,10). Gerade in seiner Hingabe in den Kreuzestod ist Jesus der vollkommene Gerechte und Heilige, der nur so „reiche Frucht“ der Liebe bringt, die bleibt (vgl. 15,1-17). „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24; vgl. Ijob 1,21). Dabei gehören Auferstehung, Opfer, Bund und Beschneidung zusammen.

 

Der Bund der Beschneidung

Der Bund, den Gott mit seiner Schöpfung ‚im Anfang‘ (hebr. bereschith) schließt, besteht in der (Herzens-)Beschneidung des Menschen. Friedrich Weinreb erklärt in seinem Buch Das Opfer in der Bibel. Näherkommen zu Gott (Zürich 2010, 615). Die Beschneidung ist das Wegnehmen der Umhüllung, „damit der Kern sichtbar wird; sie [die Umhüllung] wird aber nicht vernichtet, sondern nur zurückgeschoben. Das ist also die ‚brith‘, die Brücke, der Bund.“ Durch die Beschneidung „wird der Körper zur Demut geführt und einer Ordnung unterworfen, die aus einer anderen Welt hervorgeht als jene, die den Körper regiert. (…) Der Körper kehrt erst durch die ‚mila‘ [Beschneidung] zurück. Und darum ist das ‚korban‘ [Opfer] im Grunde nichts anderes als die ‚mila‘. Es besteht darin, dass der Körper zu Gott gebracht wird, wodurch er zum Bund wird, zur Verbindung, zur Brücke zwischen dieser und der anderen Welt. Durch das ‚korban‘ kommt der Mensch zu Gott“ (ebd. 727). 

 

Das Wort bereschith lässt sich durch Buchstabenumstellung, die im Hebräischen möglich ist, auch lesen als brith-esch: Bund des Feuers. Das Bundeszeichen der Taufe mit dem Wasser geschieht zugleich mit dem Heiligen Geist als Feuer (Mt 3,11). ‚Be-resch-ith‘ hat auch zu tun mit der Verbindung von Haupt (rosch) und Haus (beth) bzw. Körper. „Der Begriff ‚rosch‘ will also in erster Linie an die Verbindung zur anderen Welt erinnern“ (ebd. 554; vgl. 370).

 

Im Neuen Bund ist das Gesetz dem Menschen nicht mehr äußerlich, sondern zutiefst in sein Herz innerlich eingeschrieben auf die ‚Tafeln aus Fleisch‘ (2 Kor 3,3.6; Hebr 10,16; Jer 31,33). So aber wird der Mensch des Neuen Bundes selbst zur Thora. Der jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel sagt im Hinblick auf die messianische Zeit: „Für das biblische Denken war nichts auf der Welt so heilig wie die Tafeln des Gesetzes. Aber es werden Tage kommen, wo Menschen die Gesetzestafeln sein werden, wo der Mensch Tora wird“ (in: F. A. Rothschild [Hg.], Christentum aus jüdischer Sicht, Berlin 1998, 320).

 

Dieses Thora-werden zeigt sich in der Frucht der Einswerdung der Zweiheit von Abraham und Sarah in Jizchak (Isaak), der das vollkommene Jod (= 10) am Anfang seines Namens hat und daher als erster am 8. Tag beschnitten wird (Gen 21,4). Wie diese Beschneidung die erste Form des Opfers ist, so das Opfer auf dem Tempelberg Morijah (= JHWH ist mein Lehrer) die zehnte und letzte ‚Gehorsams-Prüfung‘ Abrahams. Dieser ist der Zwanzigste nach Adam und deshalb durch die 10 + 10 (= 20) oder 10 x 10 (= 100) bestimmt (Abraham ist bei Isaaks Geburt „100 Jahre“ alt: Gen 21,5), das heißt durch eine Zweiheit, die noch zur Einheit gelangen muss, wie sie dann in Jizchak erreicht wird.

 

Die Eltern Isaaks, Abram und Saraj, erhalten ja durch den Beschneidungsbund jeweils ein He ((= 5. Buchstabe mit dem Wert 5) in ihre Namen eingefügt und werden so erst zu Abraham und Sarah (Gen 17,5.15). So verkörpern sie das obere ‚männliche‘ und das untere ‚weibliche‘ He oder die beiden Seiten der Schöpfung: Himmel und Erde, Geist und Fleisch, die im Menschen ‚hochzeitlich‘ eins (= 10 = 5 + 5) werden sollen –  in Entsprechung zum heiligen Gottesnamen J-H-W-H, in Zahlen: 10-5-6-5, zu lesen als 10 = 5 ‚und‘ 5. Beide Tafeln des Gesetzes mit den Zehn Geboten (5 + 5) aber stehen für die zwei Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe, die im Menschen eins sein sollen (Mt 22,37-40; Röm 13,9f).

 

Das Opfer Abrahams: Durchbruch zur Einheit

Isaak ist der ‚geliebte Sohn‘ (Gen 22,2) oder die dem ‚Weg‘ (im Urzeichen 7) entwachsene Frucht des Geistes. Friedrich Weinreb bemerkt in Wunder der Zeichen – Wunder der SpracheVom Sinn und Geheimnis der Buchstaben (Bern 1999, 50f): Als Sohn ist Isaak wesenhaft „der Zweite“ nach dem Vater: „Sohn ist ‚ben‘, 2-50. Der Sohn (ben) hat zum Ausgangspunkt das Beth“, genauer: das Beth des Vaters. „In ihm ist der Weg durch diese Welt angelegt. Er führt durch die Welt des Siebten Tages [= Sieben-Tage-Schöpfung]. Der Sohn ist es, der den Weg zu Ende geht. Der Weg durch die Welt ist das Dritte, das Gimel“ (= 3. Buchstabe in der Bedeutung ‚Kamel’). Während Abraham der „Vater der Vielheit“ ist, bricht in Isaak die Gnade der Einheit durch: „Jizchak ist nicht mehr Wiederholung, sondern Ruhe und Rückkehr. Der Sinn der Schöpfung nimmt Gestalt an. Der Jüngste ist dem Uranfang gleich; auch Gott sagt von Sich: Ich bin der Erste und der Letzte.“

 

Im Opfer Isaaks als Annäherung an den Ursprung kommt der 8. Tag der Auferstehung in den Blick (vgl. Hebr 11,17-19). Abraham erblickt „von weitem“ den ‚Ort‘ des Opfers „am dritten Tag“ (Gen 22,4). Der Sohn ist der Weg als das Dritte, aber: „Der Weg öffnet sich erst, wenn man aus der Gefangenschaft in der Zwei befreit ist“, was durch eigene Leistung „niemals möglich ist. Es braucht den Gast von außerhalb – die Gegebenheit aus einer anderen Realität – als Voraussetzung für den Auszug aus Ägypten. Mit dieser Einsicht beginnt der Weg“ (ebd. 51).

 

Der „Gast von außerhalb“ ist in der Abrahamgeschichte Gott selbst in Gestalt der ‚drei‘ Engel, die die unerwartete Geburt des Isaak ankündigen und in der christlichen Tradition zum Bild des drei-einen Gottes werden (vgl. Gen 18,1-33). Dort verhandelt Abraham mit Gott, um das drohende Strafgericht über ‚Sodom und Gomorra‘ (über den 6. Tag) noch abzuwenden. „50 Gerechte in der Stadt“ würden dafür reichen, ja selbst „zehn“ (Gen 18,23-32). Die Zahlen verweisen auf das Jenseits des Weges in dieser Welt, den notwendigen Überstieg über den 6. Tag über den 7. Tag zum 8. Tag der Auferstehung oder vom determinierenden Naturgesetz über das moralische Gesetz der Freiheit zum Gesetz der Gnade der Gotteskindschaft und Liebe.

 

„Der Sohn führt den Weg durch die 7 x 7 dieser Wirklichkeit, in der man erschöpfend die Zweiheit erfährt. Er geleitet aber auch darüber hinaus. Er hat die 50 in seinem Namen [ben = 2-50], er bricht durch in die Welt des Achten Tages. Die Bestimmung des Sohnes ist, die Gegensätze zu vereinen: Diesseits und Jenseits. Das Fünfzigste – nach der 7 x 7 – ist die Ruhe des Anfangs, die Welt, aus der man kam, als der Weg begann. Der Weg drückt sich aus in den Begriffen 7 und 40, das Land ist 8 und 50. Auf dem Weg gibt es das Manna (‚man‘, 40-50). (…) Erst im Land ist das Ziel erreicht. Dort ist der Gan [= Garten] Eden. (…) Im wiedergewonnenen Paradies baut der Sohn Davids [= Salomo], des Geliebten, das Haus für den Vater“, das heißt den Tempel (ebd. 52f).

 

Wie die Auferstehung Jesu am ‚achten Tag’ (nach dem Sabbat/Samstag als 7. Tag) geschieht, so die Sendung der Geistfülle am ‚50, Tag’ (= Pfingsten, griech. pentecoste) nach Ostern. Nur der Sohn, der vom Geist her wirklich Ein-sicht (hebr. binah) in den vorherbestimmten Sinn und die Wahrheit des Weges der ‚Verlobung‘ und Einswerdung der Schöpfung mit ihrem Schöpfer hat, führt – wie Weinreb hervorhebt – „uns den ganzen Weg von der 2 bis zur 50 treu“; dann ist der Sohn „selber der Weg und das Leben“ (ebd. 53; vgl. Joh 14,6).

 

Kreuz und Thora

Zu dieser Fülle des Lebens ist der Mensch, der sich von Gott führen lässt, zeitlebens unterwegs. Das Zeichen, das ihm dabei unfehlbar Geleit gibt, ist das Kreuz als End-Zeichen Taw (= 400), das im 1. Jahrhundert noch kreuzförmig geschrieben wurde (+ oder x). Mit ihm wird der Täufling deshalb auf der Stirn versiegelt und so mit dem Geist Gottes verbunden (vgl. 2 Kor 1,22; Ez 9,4.6; vgl. das Auflegen des Aschenkreuzes auf der Stirn). „Es ist jenes Zeichen, das beide Seiten hat: Einerseits ist es das Ende der Entwicklung, andererseits ist es der Übergang zur Einheit. Der Weg der Einswerdung ist mit dem Erreichen der 400 vollendet. (…) Die Eins, die als Frucht aus der Begegnung der Gegensätze kommt, hat nicht eine Beschaffenheit, die vom Weg aus erklärt werden kann. Die 22 Zeichen können von ihr nicht erzählen“ (ebd. 18).

 

Das Zeichen, das Ursprung und Vollendung zugleich auszudrücken vermag, ist die Zahl 500 (400 + 100), die als Buchstabe des Alphabets mit den 22 Konsonanten nicht mehr existiert. Es ist die Zahl der Auferstehung zur Einheit nach dem Durchgang durch das Kreuz (400). „Diese 500 ist die Freiheit des Glaubens, des Umsonst-Tuns. Zur 500 gelangt man nur durch alle 22 Zeichen bis und mit dem Taw. Der Baum des Lebens hat als Umfang die 500“ (ebd. 145f). Von daher spricht Paulus von den „500 Brüdern“ als Zeugen der Auferstehung Jesu (1 Kor 15,6).

 

Im hellenistischen Judentum der Zeitenwende war die Gestalt Hiobs wegen des darin zum Ausdruck kommenden Universal-Menschlichen stark präsent, so im griechisch verfassten „Testament Hiobs“, das in Form einer Ich-Erzählung für die Lehre von der ‚Auferstehung der Toten‘ eintritt. Das rabbinische Judentum hingegen kritisierte Hiob als unfrommen und ‚frechen Gotteslästerer‘ und marginalisierte ihn im Lauf der Geschichte zunehmend, auch im Gegenüber zur ‚Lichtgestalt Abraham‘ (so die Schweizer Judaistin Gabrielle Oberhänsli-Widmer). Erst nach der Schoa wird Hiob auch Deutegestalt des Schicksals des jüdischen Volkes.

 

In der aus dem Judentum stammenden, zum katholischen Glauben konvertierten, in Auschwitz hingerichteten Märtyrerin Edith Stein vereinen sich in einer künstlerischen Darstellung auf dem Petersplatz in Rom die beiden zentralen Symbole von Judentum und Christentum, Thora und Kreuz, die sie in ihren Händen trägt. Das wurde von jüdischer Seite als eine „unerträgliche Vermischung“ der Symbolik kritisiert, wodurch die Gestalt der Heiligen zur „Figur christlicher Vereinnahmung des Judentums“ wird, so der Rabbiner Walter Homolka: „Wie soll die Heilige ‚für Beides’ stehen, wie der Künstler ausdrücklich betont: für Judentum und Christentum, in Torarolle und Kreuz symbolisiert, wo sie sich durch ihre Konversion zum Christentum doch bewusst vom jüdischen Glauben abgewandt hat!“ (vgl. Heinz-Günther Schöttler, Jüdische und christliche Symbolik unglücklich vermischt. Die neue Edith-Stein-Statue am Petersdom, in: Freiburger Rundbrief 2/ 2007, 154-156, hier 155).

 

Bei Friedrich Weinreb lässt sich lernen, dass Thora und Kreuz jeweils zu recht als „Baum des Lebens“ verstanden werden, dass zwischen dem Alten und dem Neuen Testament eine wirkliche innere Einheit besteht und dass folglich auch der Gegensatz zwischen Judentum und Christentum nicht für immer bleiben muss, wird die Bibel nur recht verstanden.

Klaus W. Hälbig

Sakramente: Medikamente gegen Sünde und Tod

Bild: Am Kreuz erhöhte Kupferschlange als Bild des Gekreuzigten (Joh 3,14; Num 21,8) – Ravenna, Sant’ Apollinare in Classe.

 

In Deutschland werden jährlich Unsummen für Produkte der Pharmaindustrie ausgegeben. Die medizinische Forschung ist seit langem dabei, die Ursachen für das Altern zu ergründen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu entwickeln: „Anti-Aging“ ist auf allen Ebenen angesagt. Und natürlich darf es auch keine durch Erbkrankheiten verursachte Behinderung von Kindern mehr geben, sie ist durch vorgeburtliche Selektion (PID) auszuschließen. Die ‚Erbkrankheit‘ des Todes vermag die moderne Medizin aber nicht zu heilen. 

 

Dagegen wird in der christlichen Frühzeit der heilende, gekreuzigte Jesus – „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5; 1 Petr 2,24) – als „Christus Medicus“ (vgl. Ex 15,26; Mk 2,17) gerade auf Grabstätten dargestellt, weil er Macht insbesondere auch über den Tod hat. Auch von Asklepios, dem griechischen Gott der Heilkunst (seit dem 6. Jh. vor Chr.), wurden zahlreiche Heilungswunder erzählt, doch vor dem Tod musste auch er kapitulieren. An die Stelle der Asklepius- und Äskulap-Heiligtümer traten im 2. und 3. Jahrhundert christliche Kirchen, oft benachbart zu Krankenhäusern (Hospitälern). Die Kirche konnte sich noch als „Medizinhütte“ verstehen (s. u.).

 

Die Eucharistie als Pharmakon

Wenn gegen Dummheit schon kein „Kraut“ gewachsen ist, gibt es dann eins gegen den Tod? Gregor von Nyssa sagt: „Im Paradies hat der Mensch eine tödliche Speise genossen. Er muss daher ein Heilmittel in sich aufnehmen, wie derjenige, der Gift genommen hat, ein Gegengift empfangen muss. Dieses Heilmittel unseres Leibes ist kein anderes als der Leib Christi, der den Tod überwunden hat und die Quelle unseres Lebens ist und der durch Mitteilung seiner Unsterblichkeitskräfte den Schaden jenes Giftes wieder aufhebt.“ Der (erhöhte) Gekreuzigte ist danach nicht nur der Heiland, sondern auch selbst das Heilmittel gegen die tödliche Krankheit. 

 

Dieser Zusammenhang zwischen Religion und Heilkunst verliert sich im Lauf der Theologiegeschichte. Martin Luther kann die Eucharistie noch als „Arznei für Leib und Seele“ bezeichnen. Und für seinen etwas jüngeren Zeitgenossen Paracelsus (eigentlich Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim) fußt die Medizin noch auf der Natur- und Gotteserkenntnis, weil der Mensch als Mikrokosmos Himmel und Erde zusammenfasst und die Natur vollenden muss, wobei Paracelsus klar zwischen dem Wort Gottes und dem „Kraut“ (Medizin) unterscheidet. 

 

Biblisch sind das Wort Gottes und das ‚Kraut‘ gegen den Tod mit dem Kreuz als „Baum des ewigen Lebens“ beziehungsweise der Eucharistie identisch. Nach Bonaventura sind die Sakramente, die dem Mysterium von Inkarnation und Kreuz entspringen, „heiligmachende Heilmittel“ (medicamenta sactificantia), die Gott nach der Ursünde beziehungsweise dem Sündenfall schon immer gegen die ‚Tod-Krankheit‘ des Menschengeschlechts eingesetzt hat, um den ursprünglichen Heils(zu)stand wieder herzustellen. 

 

Heil und Heilung im Zeichen des Kreuzes

Die ‚Erbsünde‘ (allgemeine Erlösungsbedürftigkeit) als die ‚Erbkrankheit‘ des Todes wirkt sich dem seraphischen Lehrer zufolge für den leib-seelischen Menschen doppelt aus: für den Geist als ‚Unwissenheit‘ und für den Leib als ‚Begierde‘. Die sinnenfälligen Heilszeichen oder Sakramente heiligen, vermitteln die Gnade der Heilung, „die vom höchsten Arzt Christus stammt“; aber sie belehren auch, machen demütig und spornen zum Eifer an. Und sie müssen passend für die jeweilige Krankheit sein, weil „ein Heilmittel für den Fuß nicht auch das Auge heilt“ (Hieronymus). Bonaventura erklärt im „Beviloquium“ (VI, 3): „Gegen die Erbsünde (hilft) die Taufe, gegen die Todsünde die Buße, gegen die lässliche Sünde die Letzte Salbung [Krankensalbung], gegen die Unwissenheit das Weihesakrament, gegen den bösen Willen die Eucharistie, gegen die Schwachheit die Firmung, gegen die Begierde die Ehe, welche sie mildert und entschuldigt.“ 

 

Diesen sieben Sakramenten entsprechen zugleich die sieben Tugenden, die drei theologischen Geist-Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe für das Erringen des himmlischen Lebens und die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Maß für das Gelingen des Lebens in der Welt: „Die Taufe disponiert zum Glauben, die Firmung zur Hoffnung, die Eucharistie zur Liebe, die Buße zur Gerechtigkeit, die Letzte Salbung zur Standhaftigkeit, welche der Gipfel und die Vollendung der Tapferkeit ist, die Weihe zur Klugheit, die Ehe zur Bewahrung des Maßes…“ (ebd.). 

 

Das wird nach allen Richtungen weiter ausdifferenziert. Bedeutsam aus heutiger Sicht ist, dass die Heilmittel schon immer gegeben sind, wenn auch unterschieden nach drei Stadien: des Naturgesetzes (Schöpfung), des geschriebenen (Mosaischen) Gesetzes (Heilsgeschichte) und des Neuen Gesetzes der Gnadenzeit (Vollendung), was ein weniger beziehungsweise mehr an Wirksamkeit und Würde bedeutet analog des biblischen Dreischritts vom „Schatten“ über das „Bild“ zur Wirklichkeit und Wahrheit („Leib“).

 

So gehen der Taufe im Alten Bund die Beschneidung und die Opfergaben voraus (auch das „Lichtgewand“ im „Paradies“), dem Bußsakrament die Reue des Herzens, der Eucharistie das Opfer des Paschalamms und das himmlische Manna (sowie die Frucht vom paradiesischen Lebensbaum); die Ehe liegt als „Ur-Sakrament der Schöpfung“ (Johannes Paul II.) ohnehin allem zugrunde. Das heißt, alles in der Schöpfung und in der Religionsgeschichte (Heilsgeschichte) ist schon prinzipiell als praeparatio evangelica, als Hinführung zum Evangelium Jesu Christi zu lesen, weil Christus als Gottes Schöpferwort und Heilsmittler zwischen Himmel und Erde mit dem Heiligen Geist schon immer am Werk ist. 

 

Das Ur-Heilszeichen schlechthin ist dabei das Kreuz, das die Vertikale und die Horizontale als Zeichen für Himmel und Erde oder für Geist und Leib ‚hochzeitlich‘ verbindet und vereint, und zwar im Punkt der Kreuzung der beiden Linien als Quint-essenz. Dieser Punkt ist jene „heilige Mitte“, wo die Gegensätze des Endlichen im heilsamen Gleichgewicht sind und zugleich auf die Einheit des Unendlichen und Fülle des Seins überstiegen werden.

 

Medizin führt zu Mitte und Maß

Im alten China ist die Grundlage aller Heilkunst (mit der Mischung von Kräutern als Arznei) das dynamische Zusammenspiel der beiden antagonistischen Urprinzipien Yin (Erde, Nacht, Mond, Wasser, das Weibliche) und Yang (Himmel, Tag, Sonne, Feuer, das Männliche). Die Ernährung selbst galt dann als Medizin, wenn sie ausgewogen zur Mitte hinführt. Der Mitte zu folgen galt als ständige Richtschnur. 

 

Der Mensch als Verbindung von Himmel und Erde war im chinesischen Kaiser als „Sohn des Himmels“ repräsentiert, der seinerseits den „kosmischen Pfeiler“ oder den „großen Balken“ (t‘ai chi) aufrichtete, der von der Erde und Unterwelt bis zum Himmel reicht: „Dem Herrscher wird der Rat gegeben, nur das aufzustellen, ‚was Mitte hat‘; so wird er sein Volk in der Mitte und damit in Glück und Harmonie bewahren. Ja, er selbst, der Herrscher, der Kaiser, ist für das Reich der leibhafte Repräsentant von Mitte und Höhe zugleich. ‚Vereinigt euch um den, der den Firstbalken hat!‘, hieß im alten China die Lebensnorm der Untertanen. Wie man den zum Führer wählte, der als erster die Spitze des Pfostens in der Mitte der Ming t‘ang erklettert hatte, so war noch später der Ausdruck für die Thronbesteigung – teng chi – gleichbedeutend mit ‚den Firstbalken besteigen‘“ (Photina Rech, Inbild des Kosmos, Bd. I, Salzburg 1966, 499; 522). 

 

Von daher besteht zwischen der Thronbesteigung des Kaisers als Himmelssohn und der Kreuzigung Jesu als ‚Erhöhung‘ (Joh 12,32) oder ‚Thronbesteigung‘ dessen, der vom Himmel her als königlicher Sohn Gottes ausgewiesen ist, eine so klare Analogie, dass die Benediktinerin Photina Rech in ihrem Werk zur „Symbolik der Schöpfung“ zu der Formulierung findet: „Schon ein kurzer Einblick in die Fülle bedeutsamer Zusammenhänge kann ein Christenherz erregen, ja erschüttern. Von überallher blickt ihm aus dem Antlitz der Welt und aus der Ahnung der Völker das Kreuz entgegen. Es offenbart sich überwältigend als Ursymbol und universales Gemeingut der Menschheit. Wenn von irgendeinem Symbol, so darf man vom Kreuze sagen, dass es zu den ‚Archetypen menschlichen Gottsuchens‘ gehörte, bis sich der ewige Sinn dieses Urzeichens im Kreuze des Welterlösers erschloss“ (ebd., 487). 

 

Im Alten Ägypten wird das kosmische Gleichgewicht von Tag und Nacht in der Tagundnachtgleiche am Frühlingspunkt durch die Waage der Maat, der Göttin der gerechten Weltordnung, versinnbildet. Beim Totengericht wird das Herz des Menschen auf dieser Waage als ‚Inbegriff der Gerechtigkeit‘ und des Gerichts gewogen mit dem Gegengewicht der leichten Feder der Maat: Nur wenn das Herz leicht und unbeschwert ist ohne schwere Schuld, kann der Mensch in das Totenreich eingehen, ist es hingegen zu schwer, wird es zur Beute der schon bereit stehenden dämonischen Totenfresserin Ammut, eine hybride Gestalt aus Krokodil, Löwe und Nilpferd.

 

Biblisch wird die Waage durch den letzten hebräischen Buchstaben T oder Taw symbolisiert. Mit diesem End-Zeichen werden die Erlösten auf der Stirn versiegelt (Ez 9,4.6; Offb 7,2f). Das ursprünglich kreuzförmige Zeichen Taw hat wiederum mit dem Thronwagen der Berufungsvision des Ezechiel (Ez 1) zu tun, der das kosmische „Räderwerk“ (hebr. galgal: Ez 10,13) darstellt, das nach dem Jahreslauf im Frühling zum Ausgangspunkt oder Ursprung zurückläuft: „Diese Linie, die sich im Verlauf des Jahres immer wieder herstellt, die Tagundnachtgleiche, ist gleichsam das einzig Feste, das ‚Firmament‘ oder der ‚Damm‘ in der gesamten Bewegung der Gestirne im Weltall“, so der Jesuit Herbert Schade in seinem postum erschienenen Werk „Lamm Gottes und Zeichen des Widders. Zur kosmologisch-psychologischen Hermeneutik des ‚Lammes Gottes’“ (Freiburg 1998, 54). 

 

Die auf- und absteigende Schlange 

Wie das Sittengesetz (Thora) erscheit so das T als Zeichen für das tragende Gerüst des Weltbauwerks oder für das Weltbaugesetz. Das Schlangen-Zeichen am T-Kreuz, das Mose den bei der Wüstenwanderung ‚murrenden‘ Israeliten als Zeichen der Rettung aus dem Tod vor Augen stellt (Num 21,8f) und das nach Joh 3,14 Typos des Erlöserkreuzes ist, offenbart also zeichenhaft die ursprüngliche, maßvolle Schöpfungsordnung und darin die Gerechtigkeit und Weisheit des Schöpfers. 

 

Näherhin wird die sich über und unter der Horizontlinie bewegende Sonnenbahn als Schlange um den T-Stab als Weltachse symbolisiert (ebd. 39). Auf der aztekischen Sonnen-Pyramide von Chichén Itzá auf der Halbinsel Yucatán (Mexiko) lassen die Sonnenstrahlen den Lichtschatten der Großen Schlange auf der Pyramidentreppe (Himmelsleiter) zur Sonnenwende im Frühling und im Herbst hoch- und niedersteigen.

 

Anthropologisch symbolisiert die Schlange die Triebkräfte (Libido), die beim ‚irdisch gesinnten‘ Menschen fallen, beim ‚himmlisch gesinnten‘ hingegen aufsteigen. Der frühere Benediktiner und Zen-Lehrer Detlef Witt schreibt in seinem Buch „Die Evolution der menschlichen Gottesbeziehung“ (Eintürnen 1999, 112): „Wenn der Meditierende eins mit der Weltachse, ganz im Lot mit leicht geöffneten Augen dasitzt und sich vom Himmelslicht überfluten lässt, dann werden die aufwallenden Triebkräfte sich umkehren (metanoia) und an der Wirbelsäule aufsteigen in die offene Weite des Himmels. Der Mensch wird ganz Atem, ganz Leib, ganz Licht. Das ist mikrokosmisch die aufgerichtete Schlange in Ägypten (Djet-Pfeiler), die ‚rückläufige Methode‘ oder der Drache im Taoismus, der Kundalini-Yoga in Indien und geschichtlich die am Stab erhöhte eherne Schlange des Moses, der Äskulapstab der Griechen, der Caduceus der Alchemisten …“ 

 

Und weiter: „Uto, die vertikale Schlange [im Alten Ägypten], und Apophis, die horizontale Schlange, symbolisieren also beide dieselben libidinösen Antriebskräfte im Menschen. Nur vertikal gebraucht, ist die Schlangenkraft heilsam, – wogegen horizontal an das Irdische, Vergängliche verschwendet und darum missbraucht, wirkt sie zerstörerisch. Es geht also um das Kultivieren ein- und derselben Funktion. Deshalb gab es bei den Griechen auch nur einen Namen für das vielschichtige Schlangensymbol: ‚Pharmakon‘, welches je nach Brauch oder Missbrauch ‚Heilmittel‘ oder ‚Gift‘ bedeutete“ (55). „Es ist – wie uns auch die syrischen Christen sagen (…) – ein Hochzeitsmysterium zwischen Himmel und Erde, Feuer und Wasser, Gott und Mensch, oben und unten, das zur Geburt des Neuen Menschen, zur Erleuchtung (Photismos) führt“ (304). 

 

Kirche als „Medizinhütte“

Pharmakon als Heilmittel hat hier wie in den alten Kulturen eine umfassende kosmische Bedeutung. In diesem Sinn haben auch die nordamerikanischen Indianer ihre Medizin verstanden, weshalb sie in den von den Weißen gebauten Kirchen „Medizinhütten“ sahen. „In ihrer Vorstellung war das Heilige auch das Heilende, und es gab Orte oder man errichtete Hütten, wo sie dieser heiligen und heilenden Kraft begegneten“, so der Kappuziner Guido Kreppold („Jesus, Heiland oder Medizinmann“, Vortrag unter www.akademie-rs.de Downloads). 

 

Der indianischen Heilkunst gehe es nicht um Eingriff in die physiologischen Abläufe, sondern um „die Beseitigung der Ursache, die sie in der gestörten Weltharmonie sieht. Der Kranke – der einzelne oder auch der ganze Stamm – ist aus dieser Harmonie von Mensch, Kosmos und Schöpfung heraus gefallen und er muss wieder zurück gebracht werden. Anders ausgedrückt: Die indianischen Heiler verfügen über die Kraft, in die Schichten des Unbewussten einzugreifen, wo Körperliches, Psychisches und Spirituelles einander berühren. Von dorther, vom Seelengrund, geschieht denn auch eine Wandlung des ganzen Menschen.“

 

Zur Erfahrung dieses Wandlungsmysteriums übten die Indianer das Sitzen im meist aus Steinen gebauten „Wandlungskreis“ (Medizinrad) der vier Himmelsrichtungen und Jahreszeiten. Im Durchwandern des Kreises (analog zu den vier Lebensaltern) und im heilbringenden Sitzen im „Zentrum des Universums“ kam der Mensch ins rechte Lot. 

 

Bei den Azteken, die sich Mexica nannten und als „Kinder der fünften Sonne“ verstanden, war die Inselhauptstadt Tenochtitlán in vier große Stadtbezirke unterteilt. Sakrales Zentrum bildete der Tempelbezirk als ‚Mittelpunkt des Kosmos‘, als ‚Weltachse‘ und als ‚Himmelsleiter‘: „Auf- wie absteigende Kräfte gingen gleichermaßen durch diesen Mittelpunkt hindurch, von hier nahmen die vier Richtungen des Universums ihren Anfang, und hier kamen die Kräfte von allen vieren zusammen“ (E. Matos Moctezuma, „Templo Mayor, der große Tempel der Azteken“, in: „Azteken“. Ausstellungskatalog, Köln 2003, 55). Auch hier war für das Heilwerden entscheidend, zur Mitte des Kosmos zu kommen, wo die zwei beziehungsweise vier Kräfte in einem dynamischen Gleichgewicht sind und die Verbindung nach oben ermöglichen. 

 

Heilen in der Kraft der Liebeshingabe am Kreuz

Häuptling Schwarzer Hirsch vom Stamm der Ogalalla-Sioux (Schwarzer Hirsch, „Ich rufe mein Volk“, Bornheim 1982) erfuhr mit neun Jahren in einer Vision, bei der er zwölf Tage lang „wie tot“ daniederlag, seine Berufung zum Medizinmann oder Heiler. Es wurde ihm heilendes Kraut gezeigt, das er dann auch an einer abgelegenen Stelle eines Flusses fand: „Im Gesicht hast du (Gott) mich zur Mitte der Welt geführt, und dort hast du mir die Kraft der Hingabe gezeigt. Du gabst mir das Wasser in der Schale; durch seine Kraft wird der Sterbende wieder leben. Das Kraut, das du mir gezeigt hast – durch seine Kraft wird der Schwache aufrecht gehen“ (50f). Der Weltenbaum in der lebendigen Weltmitte wird dabei genährt vom Kreis der vier Weltteile: „Die vier Viertel und die zwei Wege, die sich kreuzen, hast du (Gott) gemacht“ (189).

 

Obwohl Schwarzer Hirsch zahlreiche Männer, Frauen und Kinder seines Volkes zu heilen vermochte, so war es ihm doch nicht vergönnt – wie rückblickend sein bitteres Fazit lautet –, gegen die übermächtigen Weißen seinem Volk als ganzem zu helfen. Am Ende seines Lebens muss er enttäuscht bekennen, „dass der Baum nie geblüht hat, sondern verdorrt ist“. Mit seinem letzter Appell ruft er gleichwohl sein Volk dazu auf, auch in der Niederlage die Hoffnung wachzuhalten, dass eine „neue Welt“ einst kommen wird (ebd. 194; 234). 

 

Diese neue Welt ist gekommen im Gekreuzigten, dem wahren Heiland und Arzt der Menschheit. In seiner Kraft der Liebeshingabe am Kreuz erblüht dieser Todesbaum in der Mitte der Welt zum fruchtbaren Baum des ewigen Lebens. In seiner Kraft und Nachfolge überwinden alle Christus-Gläubigen (in Taufe und Eucharistie) auch die ‚Erbkrankheit‘ des Todes. 

Klaus W. Hälbig